Helmut Obst

Stammapostolische Theokratie in der Neuapostolischen Kirche

Johann Gottfried Bischoff (1871-1960) - Retter und Garant

Am 6. November 2007 erschien eine 55 Seiten umfassende Studie „Die Neuapostolische Kirche von 1938 bis 1955. Entwicklungen und Probleme“. Verfasst wurde sie von dem 1999 gegründeten Arbeitskreis „Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ unter der Leitung von Apostel Walter Drave, herausgegeben von der Neuapostolischen Kirche International.

Es verwundert und ist methodisch kaum zu vertreten, dass nicht zuerst die allgemeine Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) in der Zeit des Nationalsozialismus, die maßgeblich von Bischoff mitgestaltet wurde, Aufarbeitung fand. Sie bildet ja in vielen Punkten die Grundlage der Entwicklungen und Probleme nach 1945 und wird nochmals ein eigenes Licht auf die Persönlichkeit und das Wirken Johann Gottfried Bischoffs werfen. Die nun vorliegende Studie über die NAK in der Zeit von 1938 bis 1955 hat innerhalb und außerhalb der NAK zum Teil heftige Reaktionen ausgelöst – und das mit Recht, stellt sie doch im Kern eine nachdrückliche Rechtfertigung des umstrittensten Stammapostels Johann Gottfried Bischoff und seiner Botschaft vom Wiederkommen Jesu Christi noch zu seinen Lebzeiten dar. In der Amtszeit Bischoffs (1930-1960) kam es zu den größten Abspaltungen von der NAK in Mitteleuropa.

Zunächst sei betont, dass die Studie aus der Sicht der Forschung durchaus Interessantes bringt. Es kann hier nicht erschöpfend auf diese Arbeit eingegangen werden. Wir müssen uns auf einige grundlegende Aspekte beschränken. Vom Ansatz und vom Quellenmaterial her bricht sie mit dem lange Zeit für neuapostolische Kirchengeschichtsschreibung geltenden Prinzip, eine ideale Reich-Gottes-Geschichte im Stil von Heiligenlegenden zu schreiben. Der Leser kann einen Blick hinter die bisher nach außen fast makellos erscheinende Fassade der NAK in der Ära Bischoff werfen.

Stammapostolische Machtkämpfe

In der Studie heißt es, dass am 4. April 1938 auf einer Apostelversammlung der Beschluss gefasst wurde, „die Dienstaltersgrenze für sämtliche Amtsträger auf 65 Jahre“ festzusetzen.1 Das hätte den Amtsverlust auch für Stammapostel Bischoff bedeutet, der zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt war. Den Aposteln musste wohl bewusst sein, dass dieser einstimmig gefasste Beschluss – er war bis zum 31.12.1939 durchzusetzen – die Amtsenthebung Bischoffs einbezog. Trotzdem stimmte auch Bischoff ihm zu, indem er das Protokoll genehmigte. Das ist bemerkenswert! Doch sei ihm, so die nicht sehr überzeugende Vermutung der Studie, „das Ausmaß dieses Beschlusses“, der offensichtlich eine „Kritik an seiner Person und seinem Amt“ war, erst einige Tage später „so richtig bewusst geworden“.2

Bischoff war nicht gewillt, sich dem einhelligen Beschluss der Apostel zu beugen, die nach neuapostolischer Lehre vom Geist Gottes geleitet werden. Mit administrativen und juristischen Mitteln konnte er den Beschluss nicht rückgängig machen. So griff er, wie schon im Fall seiner Berufung zum Nachfolger des Stammapostels Niehaus, zu theologischen Behauptungen. In einem Brief an alle Apostel vom 30. April 1938 betonte er seine Berufung durch Jesus. Dieser habe zwar auch seine Apostel persönlich berufen, aber Petrus zu ihrem Haupt eingesetzt. Wie selbstverständlich wird die römisch-katholische Papsttheologie als Grundlage einer neuapostolischen Stammaposteltheologie herangezogen. Noch aktueller und unmittelbarer sind jedoch „Zeugnisse“ übernatürlicher Art und der Hinweis auf seine sichtbaren Erfolge – es ist die Zeit des Nationalsozialismus –, die Bischoff zur Begründung seiner einzigartigen, keiner menschlichen Dienstaltersfestsetzung unterworfenen Stellung geltend macht. Von dieser Position aus, die nur durch theologische Argumente angreifbar ist, geht er zum Gegenangriff über und verlangt für seine Person eine Ausnahme von der Dienstaltersregelung und ein Amt auf Lebenszeit. (Inzwischen machen Stammapostel, wie das Beispiel von Stammapostel Fehr zeigt, längst von Dienstaltersregelungen Gebrauch.)

Es gelingt Bischoff offenbar, wenn auch nicht durch förmlichen Beschluss der Apostelversammlung vom 7. Mai 1938, diese seine Position durchzusetzen. „Und so wie Petrus bis zu seinem Tod im Werke Gottes gearbeitet habe, so solle auch ihm diese Möglichkeit bis zu seinem Lebensende erhalten bleiben.“3 Mit diesem durch und durch papalistischen Argument bietet Bischoff den Aposteln keine „Brücke an, über die sie eine Rückzugsmöglichkeit von ihren Positionen erhalten“, wie die Studie behauptet4, sondern erschlägt sie mit der geistlichen Keule der Autorität und des Willens Gottes. So bleibt Bischoff Sieger über das Apostelkollegium, bleibt Stammapostel und setzt sich durch.

Das gleiche Prinzip wandte er vordergründig sehr erfolgreich Jahre später erneut bei der Regelung bzw. Nichtregelung seiner Nachfolge an. Dieser Problematik wird in der vorliegenden Untersuchung breiter Raum gewidmet, und auch dabei tritt teilweise neues, interessantes Quellenmaterial zutage. 1942 legten die Apostel dem Stammapostel nahe, einen Nachfolger zu bestimmen. Er forderte sie auf, Namen zu nennen. Naturgemäß wurden mehrere Namen genannt, insgesamt drei. Das deutete Bischoff dahingehend, dass das ganze Vorhaben nicht im Sinne Gottes sei, „sonst wären wir alle eines Sinnes gewesen“5. Stattdessen, so Bischoff, werde ihm, dem Stammapostel, Gott „zur rechten Zeit den Mann zeigen, der als mein Nachfolger in Frage kommt“6. Trotz vorgerückten Alters und gesundheitlicher Probleme schien Bischoff dafür die Zeit aber offenbar noch nicht gekommen.

Das blieb auch nach 1945 so. Jetzt nahmen die Spannungen zwischen dem Stammapostel und der Mehrheit des Apostelkollegiums erneut zu. Ein Kreis von Aposteln beriet hinter dem Rücken des Stammapostels über die Nachfolgefrage. Ihr Favorit war der Düsseldorfer Bezirksapostel Peter Kuhlen (1899-1986). „Am 21. Mai 1948 wurde Kuhlen während einer Apostelversammlung also gegen den Wunsch des Stammapostels von den Aposteln zum Stammapostelnachfolger und -helfer gewählt.“7 Bischoff stellte dazu fest: „Die Wahl des Apostels Kuhlen zum Helfer geschah ohne Gottes Willen. Dafür gibt es kein Gegenstück im Werke Gottes. Ich mußte vorübergehend stille sein. Alle Apostel in Europa waren gegen mich ... Das Recht, einen Stammapostelhelfer zu bestimmen, stand mir alleine zu.“8 Das würde mit anderen Worten heißen, dass das gesamte Apostelkollegium von einem ungöttlichen Geist durchdrungen war, obwohl die Apostel nach neuapostolischem Verständnis alleinige Kanäle des göttlichen Heiles im umfassenden Sinn sind. Noch wesentlich ungeheuerlicher ist jedoch die Tatsache, dass Stammapostel Bischoff seinen „Helfer“ Peter Kuhlen feierlich in sein Amt einsetzte. Damit handelte er bewusst gegen den Willen Gottes, seines „Senders“, und gegen sein Gewissen! Pharisäisch mutet es an, wenn sich Bischoff damit beruhigte, er habe die Amtseinsetzung nicht im Namen Gottes, sondern im Auftrag der Apostel vorgenommen. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29) – dieser Grundsatz des Apostels Petrus und der biblischen Apostel Christi gilt wohl in erster Linie auch für den, der sich als oberster Diener Christi auf Erden und als sein irdischer Stellvertreter in der Gegenwart ansah.

Der Niederlage Bischoffs im Fall Kuhlen folgte bald eine zweite, noch wesentlich gravierendere. Dadurch schien der Machtkampf in der NAK, die Auseinandersetzung zwischen papalistischen (Stammapostolat) und konziliaren (Apostelversammlung) Prinzipien endgültig zugunsten der Apostel ausgegangen zu sein. Man konnte meinen, das alte katholisch-apostolische Leitungsprinzip habe sich wieder durchgesetzt. Am 1. Januar 1950 traten neue „Statuten des Apostelkollegiums der Neuapostolischen Kirche“ in Kraft. In der Studie ist zu lesen: „Diese Statuten bringen im Kern – zum ersten Mal in der Geschichte der Neuapostolischen Kirche seit Bestehen des Stammapostelamtes – ein neues Modell von Kirchenleitung zum Ausdruck. Während es bisher das Stammapostelamt war, das die Kirche leitete, sollte nun nach dem Kollegialitätsprinzip die Summe aller Apostel in den Apostelversammlungen die Geschicke der Kirche leiten. Zwar wurde der Stammapostel ‚als Haupt der Kirche’ noch immer als ‚Hauptleiter’ bezeichnet (§ 3), doch lassen wesentliche Änderungen und Ergänzungen der neuen Statuten ein neues Bild von Kirchenleitung erkennen:

• Der Stammapostel wird nicht mehr auf Lebenszeit sein Amt ausführen und ist wie jedes Mitglied abrufbar (§ 4).

• Das Vorschlagsrecht für Apostelberufungen steht nun jedem Mitglied des Apostelkollegiums zu (§ 3).“9

Weitere Festlegungen wurden getroffen, u. a. dass der Stammapostel nicht mehr von seinem Vorgänger bestimmt, sondern von den Aposteln gewählt wird. Und wieder ereignete sich Unglaubliches und unmöglich Erscheinendes: Stammapostel Bischoff unterschrieb diese Statuten, durch die, wie er später betonte, „die Grundsätze der Theokratie (Gottesherrschaft) verlassen“ wurden und „die kirchliche Führung nach demokratischen Grundsätzen“ auszuüben war.10 Man fragt sich: Was wäre aus der Reformation geworden, wenn Luther in Grundsatzfragen nur einmal so gehandelt hätte?

Die umstrittene „Botschaft“

Auf Dauer hingenommen hat Bischoff seine Niederlage freilich auch diesmal nicht. Administrativ reagierte er u. a. durch neue Apostelberufungen darauf, wie es Päpste gelegentlich auch tun, um neue Mehrheiten im Kardinalskollegium herbeizuführen. Denn – so wird in der Untersuchung hervorgehoben – die neu berufenen Apostel „verstanden sich als treue Nachfolger des Stammapostels“11. Im Apostelkollegium entstand ein verändertes Kräfteverhältnis. Hinzu kam, dass sich Peter Kuhlen – das erscheint durchaus glaubhaft – durch die Art seiner Amtsführung einigen ihn zunächst unterstützenden Aposteln entfremdete. Noch wichtiger für diese Entwicklung wurde aber eine theologische Strategie des Stammapostels. Er führte schwerwiegende geistliche Argumente ins Feld. Die von ihm seit längerem verstärkt betonte Wiederkunftserwartung erhielt ein neues Gewicht und wurde mit seiner Person verbunden.

Zunächst geschah dies im Kreise einiger Amtsträger. Als in der zweiten Novemberhälfte 1950 der Kalender „Unsere Familie“ für 1951 ausgeliefert wurde, fanden dort die Amtsträger und Gemeindeglieder den Artikel des Schriftleiters „An Christi Statt“, in dem zu lesen war: „Er [der Stammapostel] ist der festen Überzeugung, daß der Herr die Seinen noch zu seinen Lebzeiten heimholen wird ins Vaterhaus, zumal ihm der Herr – nach seinen eigenen Worten – noch keinen gezeigt hat, der das Gotteswerk auf Erden nach ihm weiterführen solle.“ Die letzte Bemerkung musste in besonderer Weise den Apostel Kuhlen treffen. Am 25. November 1950 trat er vom Amt des Stammapostelhelfers zurück. Mehrere Gründe mögen dafür ausschlaggebend gewesen sein, an erster Stelle aber das Verhältnis zum Stammapostel.

Nun war die Zeit gekommen, die Statuten von 1950 im Sinne Bischoffs zu verändern. Nachdem er am 5. August 1951 acht ihm treu ergebene Amtsträger zu Aposteln ordiniert hatte, traten am 6. August neue Statuten in Kraft. „Zwei Themen rücken bei den neuen Apostelstatuten von 1951 in den Mittelpunkt:

• ein exklusives Kirchenverständnis und

• ein exklusives Amtsverständnis vom Stammapostelamt als dem allein kirchenleitenden Amt.“12

Bischoff und seine „Theologie“ hatten sich durchgesetzt. Nicht alle ihm und seinem Amts- und Kirchenverständnis kritisch gegenüberstehenden Apostel waren aber damit ausgeschaltet. Kuhlen blieb weiter Bezirksapostel des mitgliederstärksten Apostelbezirkes, unterstützt von Apostel Siegfried Dehmel. Die Auseinandersetzungen mit den Schweizer Aposteln Ernst und Otto Güttinger, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, setzten sich fort. Ähnliches gilt für den holländischen Apostel Kamphuis.

Aber Johann Gottfried Bischoff hatte nun eine „Botschaft“, die er von Jesus Christus persönlich empfangen haben wollte und mit der er allen Widerspruch gegen sein Amts- und Kirchenverständnis ausschalten und die Nachfolgefrage vollkommen gegenstandslos machen konnte: die Wiederkunft Jesu Christi zu seinen Lebzeiten.

Im Weihnachtsgottesdienst 1951 in Gießen verkündigte der 80-jährige Stammapostel: „Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr. So steht es im Ratschluß unseres Gottes, so ist es festgelegt, und so wird es der Herr bestätigen. Und zum Zeichen sollt ihr das haben, daß der Herr in meiner Zeit kommt, um die Seinen zu sich zu nehmen.“13 Bischoff sagte von sich und seiner Botschaft: „Abraham war der erste, dem Gott Offenbarungen gab. Er war das erste Tor, durch das der Herr den Segen gab. Ich stehe als Tor der Mitternacht, und wir erwarten den neuen Tag, wie ich vorlaufend sagte, der durch keine Nacht mehr abgelöst wird. Ob das jemand glaubt oder nicht, ändert an der Tatsache absolut nichts.“14

Am 15. Juli 1954 wurde der Schweizer Apostel Otto Güttinger seines Amtes enthoben und aus der NAK ausgeschlossen. Dass dafür, wie in der Studie hervorgehoben wird, mehrere Gründe ausschlaggebend waren, erscheint zutreffend. Ein wichtiger war jedoch die schließliche Ablehnung der Botschaft des Stammapostels. Auf der Apostelversammlung vom 12. September 1954 in Stuttgart teilte Bischoff mit, „dass er künftig nur noch solche Männer in das Apostel- und Bischofsamt setzen würde, die an seine Botschaft glaubten ...“15 Das Gleiche erwartete er von allen Aposteln bei Amtseinsetzungen. Auch sollte niemand versiegelt, also in die NAK aufgenommen werden, der nicht an diese Botschaft glaubte.

Der Ausschluss Peter Kuhlens

Peter Kuhlen widersprach als einziger dem Stammapostel. Damit war klar, was in absehbarer Zeit geschehen würde. Er unterwarf sich nicht einer Lehre, einer Botschaft, die er als falsch und nicht göttlich erkannt hatte und handelte damit anders als es Bischoff im Fall der Amtszeitbegrenzung (1938) und der Satzung (1950) getan hatte. So wie Kuhlen dachten und handelten viele Amtsträger in seinem Apostelbezirk sowie eine große Anzahl Gemeindemitglieder.

Am 6. Januar 1955 richteten sie einen umfangreichen, höchst bemerkenswerten Brief an den „herzlich geliebten Stammapostel“. Der Brief wurde auch an die Gemeindeglieder im Apostelbezirk Düsseldorf verschickt. Darin bestritten sie die Möglichkeit der Wiederkunft Jesu zu Lebzeiten von Bischoff nicht, lehnten aber die Dogmatisierung dieser Lehre und ihre inzwischen die gottesdienstliche Verkündigung beherrschende Stellung ab. Es wurde auf frühere falsche Erwartungen der Wiederkunft in der apostolischen Bewegung verwiesen: auf die Meinung, Jesus werde noch zu Lebzeiten der englischen Apostel wiederkommen, auf die Verheißung an den 1895 gestorbenen Apostel Friedrich Wilhelm Schwarz, Jesus werde wiederkommen, bevor er stirbt, usw. Auch frühere Äußerungen Bischoffs, niemand wisse Zeit und Stunde der Wiederkunft Christi, wurden erwähnt. Es hieß: „Wir bekennen offen, weil wir vor Ihnen und vor unserm Gott ehrlich bleiben wollen, daß wir gemäß der in der Heiligen Schrift niedergelegten Tatsache, daß es uns nicht gebührt, Zeit und Stunde des Kommens Jesu zu wissen, sondern daß dies der Vater seiner Macht vorbehalten hat, den Hauptwert auf die stete Bereitschaft, den Herrn bei seinem Erscheinen würdig zu empfangen, legen und es für nebensächlich halten, ob Jesu Kommen zur Lebzeit eines bestimmten Gottesknechtes oder Gotteskindes stattfindet. Und nach den innerhalb und außerhalb der Apostolischen Kirche auf dem Gebiete der Zeitfestsetzung für die Wiederkunft Christi vorgekommenen Irrtümern halten wir es immerhin für nicht ausgeschlossen, daß solch menschlicher Irrtum auch gegenwärtig vorkommen kann.“

Der Brief schließt: „Wir haben nur die Herzensbitte an Sie, daß zukünftig in dem erwähnten Punkte Toleranz und Duldsamkeit walten möge im Werke des Herrn und nicht entsetzlicher Zwist zwischen Bruder und Bruder, Schwester und Schwester mehr sei, denn schließlich wollen wir alle zum Tag des Herrn bewahrt bleiben und sind alle nur deswegen apostolisch geworden, um als aus Gnaden Erwählte das so hehre, herrliche Ziel der Vereinigung mit unserem Seelenbräutigam als Krönung unseres Glaubens zu erleben. Mit der Versicherung inniger Liebe und Ergebenheit ...“16

Am 21. Januar 1955 wurden anlässlich einer Apostelversammlung in Frankfurt a. M. Peter Kuhlen und die auf seiner Seite stehenden Apostel und Amtsträger aus der NAK ausgeschlossen. In der Folgezeit entstand die Apostolische Gemeinschaft mit damals ca. 25 000 Mitgliedern. Zum zweiten Mal nach dem Ausschluss eines designierten Nachfolgers, des Apostels Carl August Brückner (durch Stammapostel Hermann Niehaus 1921), hatte ein Stammapostel seinen bereits feierlich ins Amt eingeführten Nachfolger aus der NAK ausgeschlossen – in diesem Fall zusammen mit so vielen Gemeindegliedern wie nie zuvor. Die Studie gibt Kuhlen dafür allein die Schuld: „Kuhlen hätte den ihm Anvertrauten alles Leid und Elend ersparen können, wenn er zurückgetreten wäre. Da er jedoch eine andere Lösung präferierte, muss er sich gefallen lassen, als Verführer gekennzeichnet zu werden.“17

Eine solche Urteilsbildung kann sprachlos machen! Hat Kuhlen nicht in Verantwortung gegenüber den ihm anvertrauten Gemeindegliedern gehandelt, wenn er einer Lehre, die sich wenige Jahre später als falsch erwies, nicht mit zustimmte? Ein Rücktritt wider besseres Wissen und das eigene Gewissen ohne Rücksicht auf die ihm Anvertrauten wäre unverantwortlich gewissenlos. Der theologische und ethische Aspekt für das Verhalten Kuhlens stellt sich den Verfassern der Studie offensichtlich nicht. Ihre Argumentation geht nicht von der Wahrheitsfrage, der Verantwortung vor Gott aus, sondern vom Prinzip der stammapostolischen Theokratie. „Da er nicht bereit war, dem Stammapostel zu folgen, trägt er auch die Verantwortung für seine Amtsenthebung und den Ausschluss aus der Neuapostolischen Kirche.“18 Formaljuristisch – es wird auf ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf verwiesen – mag das sogar richtig sein, theologisch ist es aber höchst bedenklich.

Nach dem Tod Bischoffs

Am 6. Juli 1960 starb Johann Gottfried Bischoff. Noch auf dem Totenbett hielt er an seiner „Botschaft“ vom Wiederkommen Jesu zu seinen Lebzeiten fest. Objektiv hatte sich nun seine „Botschaft“ als menschliche Täuschung und geistliche Anmaßung erwiesen. Die Apostel mussten jetzt das tun, was ihnen vorher der Stammapostel verboten hatte, nämlich einen neuen Stammapostel (Walter Schmidt, 1891-1981) wählen und diese Wahl als gottgewollt ausgeben. Kuhlen und seine Anhänger hatten mit dem, was sie in ihrem Brief vom 6. Januar 1955 über die „Botschaft“ Bischoffs geschrieben hatten, Recht behalten. Dennoch blieb und bleibt Kuhlen offenbar aus neuapostolischer Sicht auch heute noch ein Verführer. Es stellt sich die Frage: Wer wollte wen verführen?

Auch aus der Sicht des neuen Stammapostels Schmidt war die Antwort eindeutig. In einem Rundschreiben mit dem bezeichnenden Titel „Das ist die Wahrheit“ urteilt er: Es war „unbefriedigter Ehrgeiz, Ärger, Überheblichkeit, Besserwissen und egoistisches Machtstreben“, was Kuhlen charakterisiert.19 Das habe ihn, so die Studie, „zu der Trennung bewogen“20. Es ist von außen gesehen unverständlich, von der stammapostolisch-theokratischen Innenseite aus aber nachvollziehbar, wenn behauptet wird, Kuhlen habe sich auf dem Hintergrund dieser Eigenschaften von der NAK getrennt, obwohl die Trennung eindeutig von der NAK ausging. Diese wollte keine Amtsträger, die die „Botschaft“ nicht kompromisslos vertraten, in ihren Reihen dulden. Es stellt die Dinge auf den Kopf, bei der Versicherung zu bleiben: „Kuhlen ist nicht ‚hinausgeworfen’ worden, sondern er ist von sich aus gegangen und hat damit den Ausschluss selbst verursacht. Er vollzog die äußere Trennung, nachdem die innere bereits stattgefunden hatte.“21

Ziel der Studie ist es zu zeigen und durch ausgewählte Quellen zu belegen, dass die „Kombination von strukturellen Problemen und persönlichem Fehlverhalten“ einiger Apostel zu Spannungen und Abspaltungen in der Amtszeit Bischoffs führte.22 Die „mangelnde Einsicht in den Offenbarungscharakter der Botschaft des Stammapostels und die damit verbundene Missachtung der Amtsautorität des Stammapostels“ sei nur ein Grund unter anderen gewesen.23 Aber genau hier liegt der Kern des Problems, der in der Studie verkannt wird. Der Sache nach wird er allerdings dort auch überdeutlich. Letzter Dreh- und Angelpunkt ist das betont exklusive Selbst- und Kirchenverständnis des Stammapostels. Der abschließenden Feststellung der Studie kann man zustimmen: „Die fehlende Ausrichtung einiger Apostel am Stammapostel ist deshalb als eine der tieferen Ursachen der Konflikte zu betrachten.“24

Von der Ausrichtung auf Jesus Christus ist hier nicht die Rede. Zweimal wird – um die absolute Notwendigkeit der Ausrichtung auf den Stammapostel zu unterstreichen – aus Briefen des Stammapostels Bischoff (an den Bezirksevangelisten Ernst Zimmermann vom 23. Juni 1951) zitiert: „Lassen Sie sich durch keine Redereien in Ihrem Glauben, Hoffen und Lieben beirren. Wenn Sie mit mir Verbindung halten und ihr Leben nach meinen Worten einstellen, dann erreichen Sie das Ziel.“25 In einem zweiten Schreiben (an den Bezirksältesten Keller vom 3. März 1951) werden die Folgen eines gegenteiligen Verhaltens deutlich gemacht: „Die Verwerfung des Stammapostels und die persönliche Gleichstellung mit demselben hat für alle [der früher ausgeschlossenen Apostel wie z. B. Brückner] zum Tode geführt, und mit ihnen sind die Tausende ins Verderben gerissen worden.“26

„Einheit mit ihm [dem Stammapostel] und seinem Amt“ – daran lässt die Studie auch fast 60 Jahre nach diesen Vorgängen und angesichts des Scheiterns der „Botschaft“ keinen Zweifel – „verbürgte die Sicherheit, das Glaubensziel zu erreichen“.27 Demgegenüber führt die Missachtung des Stammapostelamtes zu existenziellen Bedrohungen. Das Heil hängt letztlich vom Verhältnis zum Stammapostel ab. Um die stammapostolische Autorität nicht zu gefährden, muss die „Botschaft“ Bischoffs wahr gewesen sein, kein menschlicher Irrtum, wie er in der Geschichte der Christenheit mehrfach vorkam, sondern sie muss göttlich gewesen sein. Nicht der Mensch Johann Gottfried Bischoff hat sich geirrt, Gott hat seinen Willen geändert! Das ist offenbar bis heute die Erklärung für die nicht stattgefundene Wiederkunft Christi zu Bischoffs Lebzeiten. Die stammapostolische Theokratie ist so auf Kosten Gottes gerettet.

Auch das ganz persönliche Bild, das von Bischoff in der Studie gezeichnet wird, ist sehr positiv. Das „Zerrbild“ von einem „autokratischen Herrscher“ mit einem „autoritären Führungsstil“, der „mit Oppositionellen ‚kurzen Prozess’“ machte, müsse korrigiert werden. „Stattdessen zeigt sich uns Stammapostel Bischoff nicht nur im Konfliktfall Saarland [auf den hier nicht eingegangen wurde] als äußerst duldsamer, auf Ausgleich, Einsicht und Versöhnung bauender Seelsorger, der seinen Führungsauftrag primär geistlich verstand und von der ihm gegebenen Amtsmacht nur verhalten Gebrauch machte.“28 Ihn, der den Rat gab, das Leben nach seinen Worten einzurichten, um das Ziel zu erreichen, habe ein „auf Christus bezogenes Amtsverständnis“ ausgezeichnet.29

Sicherlich bedarf das Persönlichkeitsbild Bischoffs, das in der Literatur durch die teilweise sehr persönliche Polemik seiner Gegner mitgeprägt wurde, durchaus einer Differenzierung. Einige der in der Studie zitierten Quellen können dazu beitragen. Dass er mit seinen Gegnern „kurzen Prozess“ gemacht habe, würde ich z. B. so nicht mehr behaupten.30 Vielmehr hat er taktisch außerordentlich geschickt unter Einsatz geistlicher Autorität bis hin zum Mittel der direkten Offenbarung durch Jesus Christus einen langen, aber umso wirkungsvolleren Prozess mit ihnen gemacht. Schlussendlich besiegt und vor aller Welt bloßgestellt hat ihn nur der Tod.

Die Studie als Stein des Anstoßes

In den letzten Jahrzehnten gab es in Lehre und Leben der NAK erstaunliche Bewegungen und Veränderungen. Modernisierungen, erste öffnende Akzente hin zur Ökumene, etwa in der Tauffrage, erweckten innerhalb und außerhalb neuapostolischer Gemeinden, in den Kirchen und bei nicht wenigen Christen, die im persönlichen Kontakt mit neuapostolischen Gemeindegliedern stehen und sie schätzen, Hoffnungen und Erwartungen. Jesus Christus, nicht mehr der Stammapostel, gilt als das Haupt der Kirche. Offizielle Gespräche mit den Gruppen, deren Wurzeln bei den Ausschlüssen in der Amtszeit Bischoffs liegen, wurden geführt. Man fragt sich deshalb: Warum jetzt diese Studie mit dieser Rechtfertigung des umstrittensten neuapostolischen Stammapostels und seiner stammapostolischen Theokratie? Wird mit dieser historischen Studie ein aktueller innerneuapostolischer Kampf um die Zukunft der NAK geführt? Diese Frage drängt sich auf!

Objektiv steht fest, dass die Studie des „Arbeitskreises Geschichte der Neuapostolischen Kirche“ vom November 2007 ein Stein des Anstoßes ist auf dem Weg zur Annäherung von NAK und den anderen christlichen Kirchen, ein Ärgernis für eine innerapostolische Ökumene, sofern man überhaupt davon sprechen kann. Die Zeitschrift der Neuapostolischen Kirche „Unsere Familie“ veröffentlichte in ihrer Januarausgabe 2008 Auszüge aus einem Vortrag von Apostel Walter Drave zum Thema der Studie. Dieser Vortrag ist, ohne von der Grundlinie der Studie abzuweichen, nüchterner und lässt noch stärker die Tendenz erkennen, die Bedeutung der „Botschaft“ Bischoffs für die Abspaltungen und Ausschlüsse in den letzten Jahren seiner Amtszeit zu minimieren.

Auffällig und vielsagend ist, dass an keiner Stelle mitgeteilt wird, was denn die „Botschaft“ beinhaltete. Der Leser, der mit der Geschichte der NAK nicht vertraut ist, muss sich fragen: Was war denn das für eine Botschaft? Das Verschweigen des Inhalts der „Botschaft“ an dieser sehr publikumswirksamen Stelle zeigt das ganze Dilemma der heutigen Neuapostolischen Kirche im Umgang mit der „Botschaft“ Johann Gottfried Bischoffs vom Dezember 1951 über das Wiederkommen Jesu Christi zu seinen Lebzeiten und den damit verbundenen Beginn der Endereignisse.

Stammapostel Wilhelm Leber kündigte in einem Interview am 4.12.2007 an, die Arbeitsgruppe werde „das Thema ‚Botschaft’ separat aufarbeiten und ihre Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt präsentieren“. Gleichzeitig wies er darauf hin, die „Botschaft“ sei „das Schwierigste“. „Deshalb soll dieser Komplex gründlich aufgearbeitet werden.“31 Das lässt hoffen! Man kann nur wünschen, dass sich die Arbeitsgruppe dabei tatsächlich von den Prinzipien leiten lässt, die ihr der Stammapostel mit auf den Weg gab: „Was ist da wirklich geschehen? Wie ist die Wahrheit? Wie es wirklich war, will man wissen.“32

Die jetzt vorliegende Studie wird diesem Anspruch, zumindest in ihren Schlussfolgerungen, nicht gerecht. Sie zwingt auch den wohlwollenden Betrachter der NAK und ihrer Geschichte zu kritischen Reaktionen. Es muss wirklich und umfassend um die Frage gehen: „Wie ist die Wahrheit?“ Und Jesus Christus verheißt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32).


Helmut Obst, Halle/Saale


Anmerkungen

1 Studie „Die Neuapostolische Kirche von 1938 bis 1955. Entwicklungen und Probleme“, 7.

2 Ebd., 7f.

3 Ebd., 8.

4 Ebd.

5 Ebd., 13.

6 Ebd., 14.

7 Ebd., 22.

8 Ebd.

9 Ebd., 24.

10 Ebd., 25.

11 Ebd., 27.

12 Ebd., 31.

13 MD 3/1956, 32f.

14 Ebd., 32.

15 Studie, 37.

16 Brief der Apostel, Bischöfe und Bezirksältesten des Apostelbezirks Düsseldorf an den Stammapostel J. G. Bischoff vom 6.1.1955, in: Ereignisse in der Neuapostolischen Kirche, die zur Gründung der Apostolischen Gemeinde geführt haben, o. O., o. J., 1-6.

17 Studie, 38.

18 Ebd.

19 Ebd., 39f.

20 Ebd., 39.

21 Ebd., 40.

22 Ebd., 53.

23 Ebd.

24 Ebd., 55.

25 Ebd., 50.

26 Ebd., 51.

27 Ebd.

28 Ebd., 54f.

29 Vortrag von Apostel Walter Drave, in: Unsere Familie, 68. Jg., Nr. 1, 5.1.2008, 34.

30 Vgl. Studie, 54.

31 Interview, in: Unsere Familie, 68. Jg., Nr. 1, 5.1.2008, 31.

32 Ebd.