Staatliche Handreichungen und Beratungsangebote für radikalisierte Personen

Staatliche Handreichungen und Beratungsangebote für radikalisierte Personen. In den letzten Monaten sind zwei Handreichungen zum Umgang mit radikalisierten Muslimen und Musliminnen und deren Angehörigen erschienen. Im Folgenden werden sie miteinander verglichen und in den Horizont weltanschaulicher Beratungsarbeit gestellt.

Seit 2012 unterhält das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Informationsangebot für das soziale Umfeld (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen und koordiniert dazu ein bundesweites Beratungsnetzwerk. Wie in der klassischen „Sekten“-Beratung wenden sich die Angebote nicht primär an die angeworbenen Überzeugten selbst, sondern an die Angehörigen und Freunde als sekundär Betroffene. Eine eigens dafür geschaffene Beratungsstelle „Radikalisierung“ des BAMF nimmt Anfragen über eine Telefonhotline entgegen und vermittelt sie nach dem Erstberatungsgespräch an eine zuständige Beratungsstelle weiter. Zu dem BAMF-Netzwerk zählen mittlerweile 14 lokale Beratungsstellen in fast allen Bundesländern. Im Jahr 2018 wurde eine erste Handreichung mit Beratungsstandards für die damit verbundenen komplexen Fragen veröffentlicht, die in den letzten beiden Jahren mit den Beteiligten der multiprofessionellen Teams diskutiert und weiterentwickelt wurde. Nun liegt eine zweite, erweiterte Fassung vor, die auf der BAMF-Internetseite verfügbar ist.

Nach der Beschreibung allgemeiner Standards der Beratungspraxis mit ihren Werthaltungen und Arbeitspraktiken wird in der 2. Auflage auf die Qualifikationen der multiprofessionellen Teams eingegangen (16). Dort werden explizit auch die Religionswissenschaft und die Theologie bzw. die Seelsorge als akademische Disziplinen genannt, die in den Teams des Netzwerks vertreten sind. Der Abschnitt „Methoden der Beratung“ wurde in der 2. Auflage um Einträge zu „religionssensibler Beratung“ und „theologischer und religionspädagogischer Beratung“ erweitert (30). Während bei einem religionssensiblen Vorgehen existenzielle Fragen aufmerksam, aber wertneutral bearbeitet werden, ermöglicht eine bekenntnisorientierte Beratung die persönliche geistliche Begleitung. Sie arbeitet „mit gemeinsamen Gebeten, tröstet und muntert mit Worten aus Koran oder Bibel auf, bietet soziale Unterstützung und kann Distanzierungsprozesse auslösen“ (ebd.).

Überarbeitet wurde ebenfalls der Abschnitt der Fallbeispiele. Sie wurden auf zwei reduziert, dafür viel systematischer aufbereitet und übersichtlich in einzelne Phasen gegliedert, wodurch der Beratungsverlaufsprozess anschaulich nachvollziehbar wird. Nach einer Übersicht über die lokalen Beratungsstellen des BAMF-Netzwerks inklusive Kontaktdaten ist die 2. Auflage der Handreichung um den Anhang „Praxiseinblicke in die verwandten Phänomenbereiche des Rechtextremismus und der sog. Sekten“ ergänzt worden. Dazu sind Erfahrungen der Ausstiegsarbeit einer Beratungsstelle in Mecklenburg-Vorpommern sowie der Beratungs- und Informationsstelle „Sekten-Info Nordrhein-Westfalen“ zusammengefasst worden. Im ersten Praxiseinblick geht es um Wechselwirkungen zwischen Autoritarismus und Erziehung, im zweiten um die Gratwanderung zwischen Glaubensfreiheit und Kindeswohl. Die überarbeitete Auflage der Handreichung hat von der intensiven multiprofessionellen Diskussion profitiert und religiöse und theologische Perspektiven, die in den Beratungen offensichtlich eine Rolle spielen, nun stärker einbezogen.

Eine zweite neue Publikation wurde auf Grundlage eines Forschungsprojekts zum Thema „Radikalisierung“ von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / -psychotherapie der Universitätsklinik Ulm veröffentlicht. Für die Erarbeitung einer Handlungsempfehlung für Ärzte und Psychotherapeuten wurde die Forschungsliteratur gesichtet, und es wurden Interviews mit 17 Expertinnen und Experten geführt und ausgewertet. Die Erarbeitung der Empfehlung wurde durch das BAMF gefördert und ist über die Universität Ulm zugänglich. Anders als in der 2. Auflage der BAMF-Handreichung fehlt in dieser Handlungsempfehlung die religionswissenschaftliche und theologische Perspektive gänzlich. Sie beschränkt sich auf allgemeine Grundlagen der Einflussfaktoren von Radikalisierungsprozessen. Obwohl sie mit 145 Seiten weitaus umfangreicher ist als die BAMF-Handreichung, gehen die Anregungen zur Früherkennung von Radikalisierungsprozessen nicht in die Tiefe. Was im Abschnitt über gruppendynamische Aspekte ausgeführt wird, entspricht dem Grundlagenwissen über geschlossene religiöse Gemeinschaften. Wenn Bezüge zu den langjährigen Erfahrungen der weltanschaulichen Beratungsarbeit hergestellt worden wären, wie sie etwa in der Broschüre „Ausstieg aus destruktiven Gruppen“ vorliegen (https://destruktive-gruppen.de), hätte der Text knapper und griffiger formuliert werden können. Breiten Raum nehmen in der Ulmer Handlungsempfehlung die Grundlagen forensischer Risikobewertung ein, außerdem die rechtlichen Grundlagen (Schweigepflicht brechen, Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung), wenn etwa eine Klientin an einem Selbstmordattentat beteiligt ist. Dieser Handlungsempfehlung ist ebenfalls eine Überarbeitung zu wünschen, in der Erkenntnisse religionssensibler Psychotherapie sowie Erfahrungen aus Seelsorge und weltanschaulicher Beratung eingearbeitet werden. Denn wie Religion häufig eine Schlüsselrolle in Radikalisierungsprozessen spielt, so kann sie umgekehrt auch eine produktive Ressource in der Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit sein.

Michael Utsch, 10.09.2021

 

BAMF-Handreichung „Standards in der Beratung“: www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/deradikalisierung-standardhandreichung-2020.html?nn=282388

Handlungsempfehlung zum Umgang mit Radikalisierungsprozessen aus dem Universitätsklinikum Ulm: www.uniklinik-ulm.de/fileadmin/default/Kliniken/Kinder-Jugendpsychiatrie/Dokumente/Handlungsempfehlung_Radikalisierungsprozesse.pdf

(Abruf beider Internetseiten: 10.7.2021)