Michael Utsch

Staatlich geförderte Modellprojekte zum Ausstieg aus extremistischen Gruppen

Von außen betrachtet ist es schwer nachvollziehbar, warum sich Hunderte in Westeuropa aufgewachsene Jugendliche von den kämpferischen Versprechen salafistischer Prediger locken lassen und sich den identitätsverändernden Prozessen der Radikalisierung überlassen. Soziologische und psychologische Erklärungsversuche der zugrundliegenden Ursachen und Motive weisen auf vielfältige Gründe und komplexe Einflussfaktoren hin.

Den traurigen Rekord an selbsternannten Gotteskriegern in Europa hält Frankreich, wo derzeit schon über tausend fanatische Islamisten gezählt werden. Aus Deutschland sind etwa 740 Personen bekannt, die in Trainingscamps in Syrien und im Irak radikalisiert wurden.

Die französische Anthropologin Dounia Bouzar hat in Paris ein Zentrum zur Prävention der islamischen Radikalisierung gegründet (Centre de prévention contre les dérives sectaires liées à l’Islam) – wörtlich übersetzt ein „Zentrum zur Vorbeugung gegen die Versektung des Islam“. Auf der Grundlage von Einzel- und Gruppengesprächen mit etwa 500 Familien unterscheidet sie vier Etappen der Rekrutierung. Es ist erstaunlich, wie dieses Modell Indoktrinationstechniken beschreibt, die aus der Sektenberatung seit Langem bekannt sind. In der ersten Phase werde das Individuum vom sozialen Umfeld abgespalten. Die Anwerbung verlaufe zumeist über das Internet und suggeriere den jungen Menschen, dass sie in einer Welt lebten, in der sie von den Erwachsenen und der Gesellschaft belogen würden. Die Ausführungen über Medikamente, Impfungen, Ernährung und Politik werden öfter mit Verschwörungstheorien begründet. Die zweite Phase im Prozess der Rekrutierung beginne damit, dass der angesprochene Jugendliche die Überzeugung gewinnt, sich von der pervertierten Welt trennen zu sollen. Nur der wahre Islam sei in der Lage, die Erneuerung und Rettung der Welt zu leisten. Der Jugendliche schließt sich der Gruppenvorstellung an und ersetzt seine brüchige Identität durch gemeinschaftlich verfolgte „heilige Werte“, die im Wesentlichen aus Slogans bestehen, die aus dem Kontext gerissene Worte des Propheten enthalten. In der dritten Phase teilt das neue Mitglied die Glaubenssätze der radikalen Ideologie. Als Auserwählter ist er oder sie nun Teil der Gemeinschaft, die man im Besitz der Wahrheit wähnt. Jeglicher Kontakt zu Menschen, die nicht wie die Gruppe denken, wird abgelehnt. In der Gruppe erhofft man sich die Erfüllung der persönlichen Sehnsüchte. Die letzte Phase der Rekrutierung nennt Bouzar „Entmenschlichung“. Hier würden sogar Menschenopfer für die von der Gruppe geprägten „heiligen Werte“ gerechtfertigt.

Häufig ist professionelle psychologische Unterstützung nötig, um betroffene Angehörige zu beraten und Aussteiger zu begleiten. Dazu wurde im letzten Jahr das vom Bundesfamilienministerium geförderte Modellprojekt „Diagnostisch-therapeutisches Netzwerk Extremismus“ (DNE) ins Leben gerufen. Das DNE reagiert auf den Bedarf an psychologischer Intervention, der aufgrund der Verstrickung von Individuen, Familien oder Gruppen in Radikalisierungsprozesse entsteht. Von den Radikalisierungsprozessen sind ja nicht nur die angeworbenen Jugendlichen betroffen, sondern ebenso ihr familiäres und weiteres soziales Umfeld. Hauptziel des Netzwerks ist es, durch die Einbeziehung diagnostisch-therapeutischer und beratend-begleitender Hilfsmittel einen Beitrag zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Ansätzen der Deradikalisierung zu leisten.

In der Fachdebatte um die Ursachen der Radikalisierung und Unterstützungsmöglichkeiten für die Deradikalisierung zeigt sich bisher, dass Ausstiegsentscheidungen meistens mit der Auseinandersetzung mit existenziellen Themen einhergehen und mit kritischen Lebensereignissen zusammentreffen, woraus in der Regel psychische Konflikte entstehen. Für die Deradikalisierung spielt die Familie eine affektiv bedeutsame Rolle, fasst die Mitarbeiterin des DNE Kerstin Sischka eine wichtige Erkenntnis zusammen. Für die kognitive und emotionale „Öffnung“ einer potenziell ausstiegswilligen Person sei eine tragfähige Beziehung die Voraussetzung, um dann behutsam Schritte einer „ideologischen Deradikalisierung“ zu gehen. In der Ausstiegsberatung der Angehörigen wird versucht, einen Kommunikationsabbruch zwischen Angehörigen und radikalisierten Personen zu verhindern, weil die Familienangehörigen als ein wirksamer Ansatzpunkt für Distanzierungsimpulse angesehen werden.

Für den schwierigen Prozess der Deradikalisierung von islamistischen Jugendlichen können Modellprojekte die Erfahrungen aus der Sektenberatung nutzen, die hier wertvolle Vorarbeiten geleistet haben.