Horst Dreier

Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne

Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, C. H. Beck Verlag, München 2018, 256 Seiten, 26,95 Euro.

Der Titel des Buches klingt etwas provozierend, könnte man doch meinen, Gott würde geleugnet. Gott oder Religion in Staat und Gesellschaft hat „Konjunktur“, die Debatte um das Zitat von Christian Wulff „Der Islam gehört zu Deutschland“ ist noch nicht verstummt. Das vorliegende Buch wurde prominent in der „Zeit“ (19.4.2018) und in der FAZ (27.4.2018) besprochen – ungewöhnlich für ein juristisches Fachbuch. Horst Dreier ist Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg.

Es geht in dem Buch um die „Religion in der säkularen Moderne“, insbesondere um Religionsfreiheit und die damit korrespondierende religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Die Religionsfreiheit ist in Artikel 4 GG geregelt. Eine positiv rechtliche Regelung der Neutralität gibt es nicht. Es ist im Grundsatz problematisch, wenn bestimmte Prinzipien aus der Verfassung durch Auslegung entwickelt werden, läuft man doch Gefahr, in bestimmte Normen etwas hineinzuinterpretieren, um es dann bei Gelegenheit wieder herauszuholen. Da liegt der Vergleich mit der Weihnachtsgans nahe: Vor Weihnachten wird etwas hineingestopft, um es dann am Festtag wieder herauszuholen. Es spricht also vieles dafür, sich in der Jurisprudenz am Wortlaut zu orientieren. Warum das bei der Neutralität des Staates anders ist, führt Dreier aus.

Er klärt im Hinblick auf den Untertitel „säkulare Moderne“ zunächst die Begriffsvielfalt von „Säkularisierung“, indem er die begrifflichen Ursprünge beschreibt, die Säkularisation insbesondere durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 nach dem Frieden von Luneville (1801, nicht 1807), die Säkularisierung als geistesgeschichtliche Interpretationskategorie und die Säkularisierung sozialwissenschaftlich als faktischen Bedeutungsverlust von Religion. Säkularisierung im verfassungsrechtlichen Sinn bedeutet, dass der Religionsfreiheit die weltanschaulich-religiöse Neutralität korrespondiert. Dabei enthält sich der Staat jeder Wertung von Religion, er bewertet sie nicht positiv, aber auch nicht negativ in dem Sinne, die Religion aus der Öffentlichkeit zu verdrängen.

Ausgehend von der Religionsfreiheit heute widmet sich der Autor dann einer kurzen Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland: Von der Konfessionalität nach der Reformation (Reformationsfolgenrecht ab 1555), der innerchristlichen Pluralisierung, der Gleichstellung der drei christlichen Konfessionen, dem Durchbruch durch die Paulskirchenverfassung (1848/1849) kommt er zur Weimarer Reichsverfassung 1919 und zum Grundgesetz. Ein Schwerpunkt ist die Darstellung der weltanschaulich-religiösen Neutralität im dritten Kapitel.

„Neutralität“ findet sich nicht als Wort im Verfassungstext. Die Neutralität des Staates wird aus der Zusammenschau mehrerer Verfassungsnormen (Art. 4 Abs.1, Art 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 und Art. 140 GG i. V. m. Art .136 Abs. 1, Art. 137 Abs. 1 WRV) abgeleitet und gilt als verfassungsrechtliches Prinzip. Es beinhaltet als Kerngehalt ein Identifikations- und Privilegierungsverbot. Damit sind staatskirchliche Rechtsformen untersagt und auch die Bevorzugung bestimmter Bekenntnisse. Der Staat hat insofern den Gleichheitssatz bei der Behandlung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu beachten. Der Grundsatz weltanschaulicher und religiöser Neutralität ist aber nicht als striktes Trennungsgebot zu verstehen, wie es für den Laizismus kennzeichnend ist. Der Staat selbst hat keine Weltanschauung oder Religion. Er ignoriert als freiheitlicher Staat aber nicht die Weltanschauung oder Religion seiner Bürgerinnen und Bürger, denn dann wäre er intolerant. Der neutrale und tolerante Staat nimmt sich dieser Bedürfnisse an. Er erkennt Weltanschauung und Religion als gesellschaftlich und öffentlich wirkmächtige Faktoren an. Dies ergibt sich auch aus dem Grundgesetz: Es gibt legitimes verfassungsrechtliches Sonderrecht wie den Sonntagsschutz (Art. 140 i. V. m. Art. 139 WRV), den Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 3 GG) oder den Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV. Insofern leistet sich das Grundgesetz „Neutralitätsverstöße“, weil es keinen der Verfassung vorgelagerten Neutralitätsbegriff gibt. In diesem Rahmen gilt aber z. B. beim Religionsunterricht, dass der Staat sich nicht mit bestimmten Religionen identifizieren darf und beim Körperschaftsstatus alle Religionen und Weltanschauungen gleich behandeln muss (Parität).

Der Autor setzt sich kritisch mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auseinander, insbesondere mit den Entscheidungen zum Kopftuch einer Lehrerin aus den Jahren 2003 und 2015. Das Gericht hatte den Schwerpunkt auf das Verhältnis von positiver und negativer Religionsfreiheit gelegt. Dreier betont, dass die Entscheidungen knapp ausfielen und die Sondervoten gerade dem Neutralitätsgebot zentrale Bedeutung beigemessen haben. Er stellt heraus, dass Amtsträger zur Neutralität verpflichtet seien. Durch das objektiv-rechtliche Neutralitätsgebot käme es zu einer Entsubjektivierung der Bewertung der einschlägigen Konfliktlagen. Dann stünde nicht so sehr der einzelne Grundrechtsträger mit seinem Recht auf Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als Subjekt im Vordergrund: Das sei schon deswegen wünschenswert, „weil Abwägungen zwischen Rechtsgütern und Gewichtungen von Belastungen immer sehr stark von gewissen Vorverständnissen, persönlichen Einschätzungen und eigenen Wertungen der entscheidenden Richterinnen und Richter geprägt sind“ (137). Dreier rückt die Einhaltung von objektiven Rechtspflichten in den Vordergrund anstelle einzelner, subjektiver Rechtskonflikte.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Dreier gegen eine sakrale Aura des Staates; der säkulare Staat der Moderne bedürfe keines Mythos. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Mit der Mehrheit in der Literatur wird in dieser nominatio Dei eine Demutsformel gesehen. Es geht nicht um die transzendente Überhöhung der Verfassung, sondern „um die Betonung ihrer Endlichkeit und Relativität, weil sie von Menschen gemacht ist“ (183). Sie ist ein Hinweis auf die Begrenzung staatlicher Gewalt.

Im letzten Kapitel behandelt Dreier das sog. Böckenförde-Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Der Autor arbeitet zwei Rezeptionswellen heraus und fragt am Ende, was nach den Diskussionen über das Böckenförde-Zitat bleibt. Die Erkenntnis daraus ist für Dreier eine Frage: Was hält einen Staat zusammen, der freiheitlich und plural ist sowie Bürger mit unterschiedlichen Überzeugungen, Lebensformen und Lebensstilen hat? Wenn komplexe Gesellschaften und politische Gemeinwesen auf Dauer bestehen sollen, müssen sie nach Dreier eigentlich „auf mehr bauen können als auf das reibungslose Funktionieren ihrer administrativen Organisationsstrukturen und die liberalen Freiheitsgarantien für ihre Bürger“ (213). Eine Antwort findet auch der Autor nicht. Es bleibt für ihn allein die Hoffnung auf ein geregeltes Verfahren auf einem klar gesteckten Turnierfeld – in einem säkularen Staat.


Arno Schilberg, Detmold