Michael Utsch

Spuren Gottes im Unbewussten?

Tiefenpsychologie und Religion bei Carl Gustav Jung

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Der vor 50 Jahren verstorbene Schweizer Pfarrerssohn Carl Gustav Jung (1875-1961) zählt zu den Pionieren der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse. Neben Sigmund Freud und Alfred Adler hat er maßgebliche Impulse zur psychologischen Erforschung des Unbewussten gegeben. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Freud und seinem Kollegen Adler maß er aber der menschlichen Religiosität eine zentrale Bedeutung bei. Im Weltbild Jungs nahm Gott den Platz einer übermächtigen Größe ein. Als Grabinschrift wählte er ein Motto, das er auch über den Eingang seines Hauses in Küsnacht hatte meißeln lassen: „Gerufen und ungerufen – Gott wird da sein.“ Im Rückblick auf seine langjährigen eigenen Beobachtungen, Überlegungen und seine psychotherapeutische Praxis betonte er in seinen Erinnerungen, dass Gott „eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen“ darstelle.2 Besonders in den Grenzerfahrungen des Lebens wie Geburt und Sterben werde die menschliche Bezogenheit zum Absoluten unmissverständlich deutlich. Jeder Mensch habe ein Bedürfnis nach Sinndeutung und Religion, das sich gerade in existenziellen Krisen zu Wort melde. Die inneren seelischen Bilder und Symbole verweisen nach Jung auf eine geheimnisvolle größere Wirklichkeit und können mit dem richtigen Verständnis als Spuren Gottes im Unbewussten entschlüsselt werden.

Auch bei den schwierigen Entscheidungen um die richtige Lebensführung und bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte spielen für den Schweizer Psychiater religiöse Erfahrungen eine wichtige Rolle. Nach 30 Jahren psychotherapeutischer Praxis zog er sogar das Fazit, dass es unter seinen Patienten im Alter von über 35 Jahren keinen gegeben habe, „dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre“.3

Um zu verstehen, was Jung mit religiöser Erfahrung und „der religiösen Funktion der Seele“ meinte, ist ein Blick in seine Konzeption der Persönlichkeitsentwicklung nötig. Wenn man darüber hinaus mit jungianischen Psychotherapeuten annimmt, dass letztlich alle Lebensprobleme auf ungelösten religiösen Fragen beruhen: Was lässt sich von der Religionspsychologie Jungs für die Seelsorge lernen?

Ein Schüler Sigmund Freuds emanzipiert sich

Jung hat Wesentliches zur Weiterentwicklung der Psychotherapie beigetragen. Sein Menschenbild war viel positiver und optimistischer als das seines ehemaligen Mentors Freud. Insbesondere die pessimistische und deterministische Sicht auf den Menschen, mit der Freud die konflikthaften sexuellen und aggressiven Triebe im Unbewussten analysierte, führte zu Jungs Bruch mit seinem Lehrer. Jung war zunächst von Freuds epochalem Werk „Die Traumdeutung“ angetan, und er bewunderte den um 19 Jahre Älteren.4 Freud wiederum hoffte, in dem eifrigen und vielseitig gebildeten Schweizer Psychiater einen Verbündeten gefunden zu haben, der sein geistiges Erbe antreten und seinen Ideen zum Durchbruch verhelfen könnte.

Obwohl Jung ebenso wie Freud eine sexuelle Missbrauchserfahrung als Jugendlicher zu verarbeiten hatte, irritierte ihn von Anfang an, dass Freud alles auf das Sexuelle reduzierte und seine Sexualtheorie wie besessen zu belegen suchte. Ein großer Unterschied zwischen Jung und seinem Lehrer bestand auch beim Umgang mit Patienten. Jung war ein ganz anderer Beziehungstyp als Freud. Während Freuds Analysand sich auf eine orientalische Couch zu legen hatte, an deren Kopfende Freud saß und sich schweigend Notizen machte – die Möglichkeit eines Blickkontaktes war ausgeschlossen –, spazierte Jung mit manchen seiner Patienten im Garten seiner Küsnachter Villa umher, andere ließ er auf dem Fußboden Platz nehmen. Von psychoanalytischer Abstinenz war bei Jung wenig zu spüren, mit seiner ganzen Person ließ er sich auf die therapeutische Beziehung ein.

Die Unstimmigkeiten zwischen Jung und Freud verstärkten sich in dem Maße, in dem der Jüngere eigene Vorstellungen vom Unbewussten entwickelte. Zunächst hat Jung sich von Freuds Deutung der Träume und seiner Betonung des nachhaltigen Einflusses der frühen Kindheit inspirieren lassen. Jedoch konnte Jung die Verabsolutierung von Freuds Libido-Theorie nicht mitvollziehen. Nach Jung speist sich der seelische Energiehaushalt bei Weitem nicht nur aus sexueller Motivation. Es entstehe ein verzerrtes Bild vom Menschen, konnte er später feststellen, wenn man die seelische Dynamik hauptsächlich als ein Kräftespiel zwischen Normen und Trieben versteht. Im Gegensatz zu Freud, der das Unbewusste im Wesentlichen mit dem Verdrängten gleichsetzte, weitet Jung diesen Bereich auf viele andere seelische Inhalte und Funktionen aus.

Ausgangspunkt und einziges Erkenntnismittel im Hinblick auf die Erforschung der psychischen Realität ist für Jung die innere Erfahrung, die er als das Bewusstwerden seelischer Inhalte versteht. Zeit seines Lebens wehrte er sich gegen eine mechanistische Weltdeutung und gegen den technischen Fortschrittsoptimismus seiner Zeit, von dem sein Lehrer Freud geprägt war. Jung betonte unablässig, dass wir im Allgemeinen zu sehr auf das Physische der Realität fixiert seien5, nur das physisch Nachweisbare und Fassbare als „wirklich“ bezeichnen würden. Er hingegen machte sich für die Realität des seelischen Erlebens, die Wirklichkeit der Seele stark. In diesem Sinne sah er sich als Empiriker, als jemand, der die Wirkmächtigkeit des inneren Erlebens uneingeschränkt ernst nahm. Psychotherapie verstand er als einen Weg zur Bewusstwerdung seelischer Inhalte. Diese sind nach Jung meistens symbolisch verschlüsselte Bilder. Wenn die Bedeutung der Bilder verstanden wird, kommt man dem Geheimnis der Seele und ihrer Beweggründe auf die Spur.6

Die Wurzeln der Erkenntnisse Jungs liegen – außer in seinen persönlichen Erfahrungen – in den Studien anderer Kulturen. Er unternahm mehrere ethnologische Expeditionen und wandte sich der religiösen Symbolik des Ostens zu. Dabei arbeitete er auch mit dem Sinologen Richard Wilhelm, dem Indologen Heinrich Zimmer und dem Mythenforscher Karl Kerényi zusammen.

Aufgrund seiner Forschungen unterscheidet Jung, anders als Freud, im Bereich des Unbewussten einen persönlichen und einen kollektiven Teil. Im „kollektiven Unbewussten“ siedelt er einen reichen Schatz von Bildern und Symbolen an, durch die das Individuum mit der Gesamtmenschheit verbunden sei.7 In Träumen und Mitteilungen gesunder und kranker Menschen hat Jung archaische Symbole vielfältig beobachten können. In seinen kulturvergleichenden Forschungen hat er Urmuster menschlicher Verhaltensweisen entdeckt, die er „Archetypen“ nennt. Darunter versteht er ein angeborenes Potenzial an Vorstellungs-, Denk- und Verhaltensmustern, das bei allen Menschen vorhanden sei.

Zu einem der wichtigsten Archetypen zählt Jung den „Schatten“. Damit bezeichnet er die ungeliebten Anteile einer Persönlichkeit, die in der Regel abgelehnt werden. Manche versuchen sie auch zu ignorieren, obwohl sie dadurch eine unheilvolle Eigendynamik entwickeln. Jungs Psychotherapie zielt darauf ab, den eigenen Schatten zu bejahen und ihn in die bewusste Persönlichkeit zu integrieren. Erst dadurch könne die seelische Entwicklung zur Selbst-Werdung voranschreiten, die Jung als „Individuation“ bezeichnet.

Selbstbild und Gottesbild

Jung hat also die lebensbedeutsamen Funktionen der seelischen Bilder herausgearbeitet. Die Umwelterfahrungen rufen seelische Bilder hervor, die in jeder Nacht in Träumen verarbeitet werden. Deshalb ist die Seele nach Jung mit psychischen Bildern angefüllt, die verstanden und entschlüsselt werden wollen. Nach Jungs Erkenntnis bringt die Seele auch spontan Bilder mit religiösen Inhalten hervor.8 Jung weist darauf hin, dass das Gottesbild nach seiner tiefenpsychologischen Deutung eine Spiegelung des Selbst ist, das wiederum auf die Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott verweise. Der wichtigste Archetypus ist der des Selbst, wobei „Selbst“ ein weltanschaulich neutraler psychologischer Ausdruck für das ist, was der Mensch jeweils als höchste Wirklichkeit in sich empfindet. Das Selbst gilt für Jung als umfassendes Zentrum von Bewusstsein sowie persönlichem und kollektivem Unbewussten. Das Selbst stellt sich in Ganzheitssymbolen wie Kreis, Quadrat, Kreuz oder Mandala dar. Diese Symbole sind bei Jung von Gottesbildern nicht zu unterscheiden.

Weil Jung das Religiöse als ein fundamentales menschliches Streben beschrieb und ein Gottesbild entwarf, das dem der Theologie widersprach, wurde er heftig kritisiert. Für Jung war das Gottesbild eine „Projektion der inneren Erfahrung eines mächtigen Gegenübers“9. Mithilfe der von Jung entwickelten Analytischen Psychologie kann nun die archetypische Struktur der inneren Bilder entschlüsselt und besser verstanden werden. Insofern hilft ein solcher psychologischer Zugang, religiöse Erfahrungen im Gesamtzusammenhang einer Person besser einzuordnen.

Auch wenn Jung der Vorwurf der anmaßenden Vereinnahmung der Religion durch die Psychologie gemacht wurde, hat sein psychotherapeutischer Schwerpunkt der inneren Seelenbilder wichtige Anregungen für die Religionspsychologie, für Beratung und Seelsorge geliefert.10

Bindungserfahrungen und ­Gottesbeziehung

Geprägt von eigenen aufwühlenden inneren Bildern hat Carl Gustav Jung die Seele in ihrer religiösen Funktion untersucht. Kein Wunder, dass er zu gänzlich anderen Ergebnissen als sein Mentor Sigmund Freud kam, was die Trennung zwischen beiden forcierte.

Bemerkenswert ist jedoch, dass heute die Religiosität in der Tradition der Freud’schen Psychoanalyse völlig anders eingeschätzt wird als früher. Besonders durch die Objektbeziehungstheorien konnten die Zusammenhänge zwischen frühkindlichen Bindungserfahrungen und Gottesbild bzw. Gottesbeziehung neu verstanden werden.11

Psychoanalytisch orientierte Religionspsychologen haben in den letzten Jahren Fragebögen konzipiert, um die spirituelle Entwicklung einer Person zu erfassen. Als Grundlage der Fragebögen dient ein Modell, das die Beziehungen zu Gott oder einer höheren Wirklichkeit auf den unterschiedlichen Stufen der Persönlichkeitsentwicklung beschreiben kann. In diesem Ansatz einer „relationalen Spiritualität“ werden Elemente der Bindungstheorie mit der psychoanalytischen Auffassung der Gottesrepräsentation kreativ verbunden. Dabei zeigte sich, dass insbesondere die Erfassung des subjektiven Gottesbildes ein guter Indikator der spirituellen Entwicklung ist.

Gottesbilder können heilsam oder krankmachend sein, und sie stehen in Wechselwirkung mit den Selbstbildern eines Menschen. „Gott“ ist jedoch aufgrund des begrenzten menschlichen Wahrnehmungsvermögens nur als Begriff oder Bild denk- und beschreibbar. Dieses Gottesbild entspricht nach Jung jeweils einer Projektion des Selbst. Da die Selbstwahrnehmung aber aufgrund neurotischer Verzerrungen gespalten ist, trifft dies auch auf das Gottesbild zu. Für den Psychoanalytiker Dieter Funke ist daher das Gottesbild mit denselben Einseitigkeiten behaftet wie das Selbst des betreffenden Menschen.12

Selbst freudianische Psychoanalytiker, früher in der Regel Verfechter radikaler Religionskritik, gehen heute unbefangener und konstruktiver mit den religiösen Glaubensüberzeugungen ihrer Klienten um. Die moderne psychoanalytische Bindungsforschung bezieht nämlich im Selbstwerdungsprozess der Seele auch Beziehungen zu einem transzendenten Gegenüber ein. Weil der christliche Glaube im Kern ein Beziehungsgeschehen darstellt, ergeben sich hier fruchtbare Dialoge und ein weiterführendes Verständnis für subjektiv passende Glaubensstile. So wie sich unsere Persönlichkeit lebenslang weiterentwickelt, verändert sich auch der Glaube mit seinen Gottesbildern und Frömmigkeitspraktiken.13

Die heilsame Wirkung positiver ­Gottesbilder: empirische Befunde

Innere Bilder erzeugen starke seelische Wirkungen; darauf hat Jung immer wieder hingewiesen. Ein besonderes Interesse hatte Jung in diesem Zusammenhang an religiösen Symbolen und Bildern. Besonders bei der Bewältigung eines schweren Schicksalsschlags taucht automatisch die Frage nach dem Warum auf. In einer neueren Studie wurden deshalb Patienten mit chronischen Schmerzen daraufhin untersucht, ob bei ihnen positive oder negative Gottesbilder vorhanden waren und ob diese sich in der Krankheitszeit verändert haben.14 Es zeigte sich, dass Menschen mit einem positiven Gottesbild leichter in der Lage waren, ihre Krankheit zu akzeptieren. Sie konnten ihren Glauben konstruktiv bei der Schmerzbewältigung einsetzen.

Als eine neue Seelsorgeform erlebt seit einigen Jahren die der „Geistlichen Begleitung“ eine Renaissance.15 Hier steht die Qualität der Gottesbeziehung im Mittelpunkt. In einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung wurden 160 Begleitete aus 16 Bistümern und drei Landeskirchen zu ihren Erfahrungen befragt.16 In den Befragungen erwies sich das Gespräch über die emotionale Tönung des Gottesbildes als ein wertvolles Hilfsmittel, um die Qualität der Gottesbeziehung zu bestimmen. Darüber hinaus zeigte sich, dass Begleiterinnen und Begleiter mit positiv besetzten Gottesbildern eher in der Lage waren, das Leben vom Glauben her zu deuten. Ein weiteres interessantes Teilergebnis besagt, dass durch die Fokussierung auf die Gottesbeziehung in der Geistlichen Begleitung auch signifikante Veränderungen auf der menschlichen Beziehungsebene eintraten.

In einer norwegischen Pilotstudie wurden die Gottesbilder der Patienten ausdrücklich in die psychotherapeutische Behandlung einbezogen.17 40 Patientinnen und Patienten mit depressiven Störungen unterzogen sich in einer Klinik einem Therapieprogramm, das systematisch auch die Veränderung des Gottesbildes berücksichtigte. Es nahmen nur Patienten an diesem Programm teil, bei denen sich in einer Voruntersuchung Hinweise auf pathologische Gottesbilder ergeben hatten. Es zeigte sich, dass die therapeutische Arbeit am Gottesbild wirkungsvolle Verbesserungen der seelischen Störung nach sich zog.

Auch wenn in den genannten Studien nicht ausdrücklich auf C. G. Jung Bezug genommen wurde – seine Einsichten zur religiösen Dimension der Seele und des zentralen Stellenwerts des Gottesbildes sind als Pionierleistung zu würdigen.

Dunkle und bedrohliche Gottesbilder kommen nicht nur in den christlichen Sondergemeinschaften vor. In einer aufwändigen Untersuchung, an der knapp 600 katholische Priester teilnahmen, stieß Karl Frielingsdorf bei der Mehrzahl seiner Probanden auf „dämonische Gottesbilder“, die vor allem durch die Überlagerung mit negativen Vaterbildern entstanden waren.18 Das meist unbewusste Vaterbild übertrug sich auf die Vorstellungen und Gefühle in Bezug auf Gott. Bei einer Mehrheit der befragten Priester stellte sich ein gravierender Unterschied zwischen dem bewussten und dem unbewussten Gottesbild heraus. Während in der Predigt die Güte und Barmherzigkeit Gottes thematisiert wurde, war das unbewusste Gottesbild häufig lebensfeindlich und destruktiv getönt. Zwei Drittel der Probanden waren davon überzeugt, dass die Botschaft vom „gütigen Gott“ ihnen nicht gelte. Es bedurfte intensiver biografischer Aufarbeitung und geistlicher Begleitung, um solche einseitig geprägten Gottesbilder zu verändern. Hier haben die Einsichten jungianischer Psychotherapie mit dazu beigetragen, die seelische und religiöse Entwicklung aufeinander zu beziehen und den Menschen stärker zu einem ganzheitlichen Glauben anzuleiten.

Reaktionen auf C. G. Jung

Ohne Zweifel hat Jung das psychologische Wissen vom Menschen bereichert – seine Konzepte der Individuation, des Schattens, der Archetypen, des kollektiven Unbewussten, der Komplexe oder der Imagination sind heute fast zu Allgemeinwissen geworden. Andererseits gibt es bis heute nachhaltige Kritik an Jungs Person und Werk. War er nicht durch und durch Okkultist? Seit seiner Jugend hat er sich intensiv mit dem Spiritismus, der Wahrsagerei, der Astrologie, der Alchemie und der Magie beschäftigt. Mit Kommilitonen veranstaltete er spiritistische Seancen mit einer 15-jährigen Verwandten als Medium. In seiner Doktorarbeit „Zur Psychologie und Pathologie so genannter okkulter Phänomene“ griff er Erlebnisse aus den Seancen auf und verarbeitete sie.

Aus feministischer Sicht wurde ebenfalls heftige Kritik an Jung geäußert und ihm sexistisches Verhalten vorgeworfen. Solche Vorwürfe regen bis heute Biografen an, sich mit den Beziehungskonstellationen des Psychiaters zu beschäftigen.19 Ist Jung nur Opfer seiner hohen Sensibilität gewesen, mitgeprägt durch einen sexuellen Übergriff in seiner Kindheit? Wollte er durch spekulative Theorien nur seiner farbenprächtigen und bilderreichen Innenwelt Herr werden? Ist das umfangreiche Werk Jungs eher eine „Hiobsbotschaft“20 als ein wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis des Seelischen?

Bis heute polarisiert das Werk des bekannten Schweizer Seelenforschers. Nicht anders ergeht es seinem Tagebuch, das jahrzehntelang unter Verschluss gehalten worden war und erst 2009 als „Rotes Buch“ in einer opulenten Ausgabe herausgegeben wurde.21 Von Anhängern Jungs wird es als eine Offenbarung gefeiert, und in der Tat erinnert das reich verzierte Werk, für das sich Jung eigens mittelalterliche Kalligrafie aneignete, eher an die Schrift eines Propheten, der seine Visionen, Wachträume und die von ihm vernommenen Stimmen aufgezeichnet und zu deuten versucht hat. Hinzu kommen ausdrucksstarke Gemälde, die abstrakte und figürliche Malerei miteinander verbinden, Mandalas, Ornamente und Zitate. Wenn man das Tagebuch durchblättert, stellt sich spontan die Frage: Stammt es von einem Genie oder von einem Wahnsinnigen? Kritiker schätzen Jungs Visionen und Dialoge mit seiner Seele und dem „Geist der Tiefe“ jedenfalls zum Teil als pathologisch ein und vermuten, dass Jung durch seine Technik der „aktiven Imagination“ seine eigenen Wahnobsessionen bannen wollte. In seinem Erinnerungsbuch bekennt Jung freimütig, hilflos und fremd ­einem unaufhörlichen Strom von Fantasien ausgeliefert gewesen zu sein, an dessen „dämonischer Kraft“ er zerbrochen sei.22

In der Auseinandersetzung mit Werk und Wirkung Jungs kommt der badische Pfarrer und jungianische Psychotherapeut Raimar Keintzel zu dem Schluss, dass Jung sowohl methodisch als auch persönlich gescheitert sei: „Die von ihm behauptete Einheit von Leben und Denken ... zerbrechen ihm selber auf grausame Weise ... Auch seine erotischen und sexuellen Erlebnisse, die er wegen seiner Gespaltenheit offensichtlich brauchte, konnten ihm nicht helfen, das Ziel der Individuation zu erreichen.“23

Anhänger Jungs sind jedoch begeistert und sehen in der einzigartigen Dokumentation seiner langjährigen Tagebuchaufzeichnungen einen Beleg für seine wissenschaftliche Theorie, die Jung auf das eigene Leben angewandt habe. Danach ist für einen erfolgreichen Individuationsprozess die Auseinandersetzung mit den „Protagonisten“ des eigenen Unbewussten unabdingbar – und dies belege das Tagebuch doch eindeutig.

Einschätzung

Eine Würdigung und kritische Einschätzung von Jungs komplexem Werk und seiner schillernden Persönlichkeit ist nicht einfach. Die Unklarheit seiner Begriffe, insbesondere seine Konzeption des Unbewussten, haben „die theologische Diskussion wesentlich mehr erschwert als Freud“24. Auch sein eigenartiges Selbstverständnis als Empiriker muss hinterfragt werden. Mit Recht werden ihm „empirisch widersprüchliche Konzepte“ vorgeworfen, die „eine wenig plausible Metaphysik des Unbewussten voraussetze“ und deshalb nur „den Status einer parawissenschaftlichen Idee“ einnähmen.25 Stärken und Schwächen seiner Theorie sollen deshalb abschließend gegenübergestellt werden.

Zunächst ist positiv hervorzuheben, dass Jung durch seinen breiten geistesgeschichtlichen Zugang berechtigte Kritik am damals erstarkenden Rationalismus und Materialismus geübt hat.26 Mit seinem ungewöhnlich breit angelegten Ansatz versucht er den Dualismus, die Spaltung zwischen bewusst und unbewusst, innen und außen, Materie und Geist zu überwinden.27 Jung hat als Antipode Freuds die Wiederentdeckung der Seele in der modernen Psychotherapie und eine stärker ganzheitliche Ausrichtung damit in gewisser Weise schon vorweggenom­men.28 Weiterhin ist Jung in seiner Beobachtung zuzustimmen, dass ein Schlüssel zur individuellen Sinnfindung im Unbewussten zu finden ist. Auf erstaunliche Weise verstehen es die unbewussten Kräfte der Seele, ihr Anliegen zumindest verschlüsselt deutlich zu machen, sei es durch Träume, innere Bilder oder Gefühlszustände. Auch wenn an Jungs Versuch einer systematischen Theorie des Unbewussten Zweifel berechtigt sind29 – ohne das einfühlsame Verstehen unbewusster Impulse und Ahnungen würde der Reichtum des Seelischen verloren gehen. Hier hat Jung große Verdienste erworben. Dazu zählen auch seine Einsichten zum Umgang mit dem „Schatten“. Anders als in der triebdynamischen, eher mechanistischen Gedankenwelt der Freud’schen Psychoanalyse konnte Jung in den manchmal unheimlichen Kräften des Unbewussten und des Bösen auch ein Potenzial sehen. Wenn es gelänge, so Jung, den Schatten zu akzeptieren und zu integrieren, könne er seine zerstörerische Richtung ändern und in eine unterstützende Kraft verwandelt werden.

Trotz vieler konstruktiver Gedanken und produktiver therapeutischer Ideen, die von zahllosen Psychotherapeuten bis heute aufgegriffen werden, krankt Jungs Wissenschaftstheorie an der grundsätzlichen Vermischung von Ontologie und Empirie. Das, was Jung intuitiv wahrnahm, hat er nicht in eine überprüfbare Theorie überführt. In Jungs Psychologie sind Gegenstand und Methode identisch, für ihn können psychische Phänomene nur psychisch gedeutet werden. Deshalb charakterisiert Keintzel sie als eine „imaginative Psychologie“: „Sie ist, genau besehen, weder ‚Tiefenpsychologie’ noch ‚Komplexpsychologie’ oder ‚Analytische Psychologie’ ... Sie ist auch nicht Psychologie der Imagination, denn sie macht die Imagination nicht zu ihrem Gegenstand, sondern zu ihrer Methode.“30

Auch ist die Religionspsychologie Jungs mit ihrem Totalanspruch zurückzuweisen. Sicher sind Spuren Gottes im Unbewussten zu finden; Gott kommt der menschlichen Seele sehr nahe („in ihm weben, leben und sind wir“, Apg 17,28). Aber Jung findet in den Tiefen des Unbewussten den „Ort des Heils und der Erlösung“31. Als Vorläufer der Transpersonalen Psychologie verbindet er das begrenzte Ich mit dem unbegrenzten Selbst und strebt an, alle Spaltungen in einer „Einheitswirklichkeit“ aufzuheben. Mit solchen kosmologischen Deutungen hat Jung den Boden der Psychologie hinter sich gelassen und das Tor für esoterische Interpretationen geöffnet, was bis heute vielfältig genutzt wird.

Das Ganzheitskonzept, das bei Jung eine zentrale Stellung einnimmt, hat der jungianische Psychotherapeut Roman Lesmeister in einer Studie einer umfassenden Kritik unterzogen.32 Wenn das archetypische Ganzheitsideal zum Leitbild der Persönlichkeitsentwicklung erhoben werde, nehme es den Charakter einer Allmachtsphantasie an, die auf Unverwundbarkeit hinauslaufe. Wenn das destruktive Potenzial des Menschen verdrängt und ausgeblendet werde, was bei Jung der Fall sei, werde das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit verzerrt dargestellt. Diese Schieflage wirke sich auch auf das Gottesbild aus. „Der zerrissene Gott“, ist ­Lesmeisters Studie überschrieben. Wenn der durch die Individuation geläuterte Mensch gottähnliche Qualitäten erreicht hat, wird der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf verwischt – das Selbst und Christus sind identisch. Damit wird jedoch ein zentrales Merkmal Gottes – seine Ungeschaffenheit – übergangen.

Der amerikanische Psychologe Paul Vitz hält der jungianischen Richtung der Psychotherapie vor: Die Individuation, „dieses Ziel der Selbstverwirklichung, ist im Grunde gnostischer Natur ... Nur hat das Jungsche Gebot ‚Erkenne dich selbst und verleihe deinem Selbst Ausdruck’ das jüdisch-christliche Gebot ‚Liebe Gott und deinen Nächsten’ ersetzt“.33

Im Bemühen um bestmögliche Individuation kreisen viele Menschen um ihre eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten und übersehen, dass der christliche Glaube ein Beziehungsgeschehen zwischen einer einzigartigen Person mit ihren Schattenseiten und Mängeln und dem verborgenen Christus ist. In der individuellen Gottesbegegnung wird sich dann aber im Laufe der Beziehungsgeschichte zwischen dem Einzelnen und Gott etwas ereignen, was in der Bibel als „Verwandlung des inneren Menschen“ oder „Umwandlung in das Ebenbild Christi“ beschrieben wird.34 Hier geht es nicht mehr um überhöhte Ideale von Ganzheit und Selbstverwirklichung, sondern um eine Liebesbeziehung zu Gott. Gottes Geist möchte im Menschen Wohnung nehmen und ihn umgestalten zu dem Menschen, wie er ursprünglich gemeint war. Glaube erweist sich hier als eine Beziehungsweise, die auf Vertrauen zum Gegenüber und auf Zuversicht gründet und sich nicht in einsamer Selbstvervollkommnung verliert. Anders als das utopische Ziel der Ganzheit ist aus christlicher Sicht das „Leben als Fragment“ zu feiern.35 Ein zufriedenes und glückliches Leben mit allen Grenzen, Fehlern und Vorläufigkeiten ist möglich und lebenswert. Der Blick auf das Kreuz Christi kann uns davor bewahren, vom Optimierungsdiktat der Gegenwart angesteckt zu werden. Die Gottesbeziehung führt auch in die Gemeinschaft mit anderen und schützt uns vor dem Kreisen um das eigene Ich.

Am Schluss sollen zwei Anfragen an Jungs Werk stehen. Erstens: Wenn die eigene Individuation Dreh- und Angelpunkt der Persönlichkeitsentwicklung ist, gerät der Nächste leicht aus dem Blick. Wem ist das individuierte Selbst verantwortlich, wer bewahrt es vor grenzenlosem Egoismus? Zweitens: Nach Jung produziert das kollektive Unbewusste religiöse Vorstellungen. Können religiöse Erlebnisse aber nicht auch als Antwort auf ein verborgenes Handeln Gottes in der bewusst wahrnehmbaren Welt verstanden werden? Paul Vitz sieht in der Jung’schen Religionspsychologie die „ernste Gefahr“ einer Verwechslung: dass „echte religiöse Erlebnisse, die vom transzendenten, in der Geschichte handelnden Gott stammen, durch psychologische Erlebnisse des eigenen religiösen Unbewussten ersetzt werden“.36


Michael Utsch


Anmerkungen

1 Überarbeitetes Manuskript eines Vortrags, der im Rahmen der Tagung „Gott und das Selbst“ am 14.5.2011 in der Evangelischen Akademie Baden in Bad Herrenalb gehalten wurde.

2 Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, Zürich 1962, 67.

3 Carl Gustav Jung, Psychologie und Religion, Olten 1971, 138.

4 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 1972.

5 Eckhard Frick / Bruno Lautenschlager, Auf Unendliches bezogen. Spirituelle Entdeckungen bei C. G. Jung, München 2007, 158.

6 Vgl. Carl Gustav Jung, Der Mensch und seine Symbole, hg. von Marie-Luise von Franz, Olten 1968; Jolande Jacobi, Vom Bilderreich der Seele. Wege und Umwege zu sich selbst, Olten 1969.

7 Christoph Kolbe, Heilung oder Hindernis. Religion bei Freud, Adler, Fromm, Jung und Frankl, Stuttgart 1986, 145-210.

8 Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, a.a.O., 6.

9 Zit. nach Ursula Wirtz / Jürg Zöbeli, Menschen in Grenzsituationen – Grenzen der Psychotherapie, Stuttgart 1995, 293.

10 Ann Belford Ulanov / Alvin Dueck, The Living God and Our Living Psyche. What Christians Can Learn from Carl Jung, Grand Rapids 2008; Thomas Moore, Der Seele Raum geben. Wie Leben gelingen kann, München 2010.

11 Susanne Heine, Der Ertrag der Objektbeziehungstheorie für Theologie und Seelsorge, in: Isabelle Noth / Christof Morgenthaler (Hg.), Seelsorge und Psychoanalyse, Stuttgart 2007, 108-121; Michael Klessmann, Gottesbilder. Psychologische Theorien zu Entstehung und Funktion von Religion und Glaube, in: ders., Pastoralpsychologie, Neukirchen-Vluyn 22008, 215-244; Isabelle Noth, Freuds bleibende Aktualität. Psychoanalyserezeption in der Pastoral- und Religionspsychologie im deutschen Sprachraum und in den USA, Stuttgart 2010.

12 Dieter Funke, Der halbierte Gott. Die Folgen der Spaltung und die Sehnsucht nach Ganzheit, München 1993.

13 Michael Utsch, Psychologische Hilfen zur Förderung der spirituellen Entwicklung, in: Dorothea Greiner / Klaus Raschzok / Matthias Rost (Hg.), Geistlich begleiten. Eine Bestandsaufnahme evangelischer Praxis, Leipzig 2011, 106-118.

14 Jessie Dezutter / Koen Luyckx / Hanneke Schaap-Jonker u. a., God Image and Happiness in Chronic Pain Patients: The Mediating Role of Disease Interpretation, in: Pain Medicine 11/2010, 765-773.

15 Dorothea Greiner / Klaus Raschzok / Matthias Rost (Hg.), Geistlich begleiten, a.a.O.

16 Hermann-Josef Wagener / Klaus Kießling, Qualitativ-empirischer Zugang zu Geistlicher Begleitung. Forschungsergebnisse, in: Klaus Kießling (Hg.), Geistliche Begleitung. Beiträge aus Pastoralpsychologie und Spiritualität, Göttingen 2010, 63-104.

17 Hanneke Schaap-Jonker u. a., Development and Validation of the Dutch Questionnaire God Image, in: Mental Health, Religion & Culture 11/2008, 501-515.

18 Karl Frielingsdorf, Dämonische Gottesbilder. Ihre Entstehung, Entlarvung und Überwindung, Mainz 32001.

19 John Kerr, Eine gefährliche Methode: Freud, Jung und Sabina Spielrein, München 2011; Deirdre Bair, C. G. Jung. Eine Biographie, München 2007.

20 Renate Höfer, Die Hiobsbotschaft C. G. Jungs. Folgen sexuellen Missbrauchs, Rotenburg 1997.

21 Carl Gustav Jung, Das rote Buch, Düsseldorf 2009.

22 Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, a.a.O., 180.

23 Raimar Keintzel, C. G. Jung. Retter der Religion? Auseinandersetzung mit Werk und Wirkung, Stuttgart 1991.

24 Raimar Keintzel, Das sogenannte Unbewusste in der theologischen Diskussion, in: Gion Condrau (Hg.), Transzendenz, Imagination und Kreativität, Zürich 1981, 140-151, hier 143.

25 Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 2007, 290-295.

26 Susanne Heine, Carl Gustav Jung: Die göttliche Natur, in: dies., Grundlagen der Religionspsychologie: Modelle und Methoden, Göttingen 2005, 267-297, bes. 292f.

27 Ursula Wirtz / Jürg Zöbeli, Menschen in Grenzsituationen, a.a.O., 204-224.

28 Hartmann Hinterhuber, Die Seele. Natur- und Kulturgeschichte von Psyche, Geist und Bewusstsein, Wien 2001; Daniel Hell, Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaft vom Leben, Bern 2003.

29 Raimar Keintzel, C. G. Jung, a.a.O., 63ff und 153ff, Bernhard Grom, Religionspsychologie, a.a.O.

30 Raimar Keintzel, C. G. Jung, a.a.O., 147.

31 Zit. nach Ursula Wirtz / Jürg Zöbeli, Menschen in Grenzsituationen, a.a.O., 211.

32 Roman Lesmeister, Der zerrissene Gott. Eine tiefenpsychologische Kritik am Ganzheitsideal, Zürich 1992.

33 Paul Vitz, Der Kult ums eigene Ich. Psychologie als Religion, Gießen 1995, 23.

34 Eph 4,23 und 2. Kor 4,16-18.

35 Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, in: Wege zum Menschen 43/1991, 262-273.

36 Paul Vitz, Der Kult ums eigene Ich, a.a.O., 24.