Göran Sahlberg

Sieben wunderbare Jahre

Göran Sahlberg, Sieben wunderbare Jahre, Roman, Karl Blessing Verlag, München 2008, 303 Seiten, 19,95 Euro.


Freikirchliche Frömmigkeit liefert ein äußerst literaturfähiges religiöses Milieu. Man kann sie dramatisch nutzen wie Åsa Larsson in ihrem sehr lesenswerten Krimi „Sonnensturm“ (München 2005); man kann sie ironisch bis sarkastisch nachzeichnen wie Claudia Schreiber in ihrem Roman „Ihr ständiger Begleiter“ (München / Zürich 2007). Eine ganz neue Variante bietet jetzt der schwedische Religionspsychologe Göran Sahlberg in seinem ersten Roman an. Er beschreibt eine längere Episode aus der Kindheit eines etwa sechsjährigen Predigersohns in den 50er Jahren auf eine so einfühlsame Weise, dass sich Tragik und Komik die Waage halten.

Der (namenlose) Ich-Erzähler lebt als einziger Sohn eines freien Predigers in einer mittelschwedischen Kleinstadt zu der Zeit, „als Dag Hammarskjöld Generalsekretär der UNO geworden war und Nacka Skoglund für Inter spielte“ (14). Mit geringem Erfolg versucht die lebenspraktische, fröhliche Mutter ihn von den Vorzügen des Spielens und Tobens an frischer Luft zu überzeugen. Magisch angezogen wird der Junge dagegen von der alten Schreibmaschine, in die der Vater seine Predigten hämmert. Der Vater hat nichts weniger zu verkünden als die baldige Endzeit, denn das Leben wird bestimmt von der Tafel der biblischen Zeitalter, die der in die USA ausgewanderte schwedische Prediger Chader in Anlehnung an John Nelson Darby gezeichnet hat, dem Wandschmuck hinter der Schreibmaschine (im Buch faksimile nachgedruckt). Und deshalb gilt: auch so kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs „war der Frieden kein wirklicher Frieden mehr. Er wurde zu einem anderen Krieg befördert: der Kräftemessung mit den Mächten, welche die Menschen ständig terrorisierten. Es würde weitergehen, bis die Gemeinde in die Luft hinaufgesogen würde, um die Himmlische Hochzeit zu feiern und auf diese Weise der endgültigen Schlacht bei Armageddon zu entkommen. So würde es kommen“ (15f). Wer dann – wie die Mehrheit – auf der Erde verbleibt, erlebt die Tage der Mühsal und hat allenfalls eine geringe Chance, durch heroisches Zeugnis vielleicht doch noch die ewige Seligkeit zu erreichen – sportlich gesehen eine Art apokalyptischer „Hoffnungslauf“. Wer es nicht schafft, ist dem ewigen Feuer geweiht. Davor hat auch der kindliche Erzähler Angst. Denn er hat tatsächlich aus dem Keller des Mietshauses ein Fahrrad „ausgeliehen“ und draußen liegen gelassen, das ihm nicht gehörte. Noch nicht – denn es hätte sein Geburtstagsgeschenk werden sollen, wie sich später herausstellt. Ist das nun Diebstahl oder nicht? Eine hoch wichtige Frage, denn Diebe, Lügner und Hurenböcke werden nicht ins Himmelreich eingehen. Wird er, der Junge, sich womöglich bald allein auf der Erde finden, während die frommen Eltern entrückt sind?

Eines Tages scheint es so weit zu sein. Ein Wagen mit kreisendem Blaulicht steht vor dem Haus, die Mutter ist fort, der Vater kurz darauf auch. Einziger Haltepunkt in der Welt bleibt Viola, die nette Verkäuferin aus dem Lebensmittelgeschäft um die Ecke. Sie nimmt den Jungen kurzerhand mit in den Urlaub in ihrer Heimat im äußersten Süden Schwedens. Dort wiederum verbringt auch der angeschwärmte Fixpunkt in Violas Leben seinen Urlaub, der berühmte Schwede und UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld. Ausgerechnet mit Hilfe des Jungen gelingt Viola tatsächlich ein Kontakt zu dem aus der Ferne Angebeteten. Der dauert zwar nur kurz, aber immerhin kann der Junge feststellen, dass eine Sorge in Bezug auf Hammarskjöld unbegründet ist: Er ist nicht der Antichrist, für den ihn viele in der frommen Gemeinde gehalten haben. Bis heute wittern ja manche christlichen Fundamentalisten in allem, was vermeintlich an eine Welteinheitsregierung erinnert, die Verschwörung des Antichristen. Aber Hammarskjöld (dessen Tagebücher ja durchaus einen christlichen Mystiker erkennen lassen) liest auf seinem Boot in einem Buch namens „Nachfolge Christi“; also gehört er auf die Seite der Guten. Diese tröstliche Erkenntnis bleibt, auch wenn sich sonst vieles als trostlos entpuppt: Die Mutter ist tot, der Vater darüber unheilbar krank geworden, der Fortgang des Lebens ungewiss. Es bleibt eine „Zeit der Mühsal“, auch wenn die genannte Epoche (zwischen Entrückung der Gemeinde und Armageddon) offenkundig noch nicht angebrochen ist.

„Nicht einmal die Mühsal war so geworden, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte mir gedacht, sie würde so sein wie die Vorderseite von Claessons Prophezeiung: farblos, grau, unheimlich. Aber um mich herum war alles anders: Das Meer lag spiegelglatt und blau da. Und dazwischen, in dem gewaltigen Luftmeer, das die Erde umgab, stiegen und sanken die Schwalben wie gewöhnlich über diesem grünen, unbeschädigten Teil der Welt. Als wäre nichts geschehen“ (282). Leise Desillusionierungen dieser Art durchziehen das ganze Buch. Aber sie kommen nicht von irgendwelchen schlauen Aufklärern, sondern aus der kindlich-genauen Beobachtung. Gedeutet wird wenig, wie sich das für einen Roman, anders als für ein Essay, gehört. Aber der kluge Junge schaut genauer und unbefangener hin als die Erwachsenen, z. B. als er den Jubel des Vaters beschreibt, nachdem das vermeintlich gestohlene Geburtstagsfahrrad wieder gefunden wurde. „Er stieg wie ein Ballon in immer gefährlichere Höhen. Bald lachte er, bald befand er sich an der Grenze zum Zungenreden. Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Jetzt kamen die Worte in eigentümlichen Buchstabenkombinationen heraus. Sie erinnerten an ferne Orte wie Karesuando oder an alltägliche Dinge, die aus ihrem Zusammenhang gerissen waren. Ein oft wiederholtes Wort war ‚Rhabarber’“ (93). Der Sohn, der selbst so gern Prediger sein möchte, beschreibt dies staunend und ohne Hintergedanken – die er zugleich dem Leser eröffnet, ohne sie selbst zu formulieren.

Göran Sahlberg erzählt die Geschichte konsequent und geschickt aus der Perspektive des Kindes. Ihm gelingt dabei eine wunderbar leichte, luftige Beschreibung eines mal dramatischen, mal skurrilen religiösen Milieus, in dem unbändige Ängste und unbändige Hoffnung unentwirrt ineinanderfließen und die lebenspraktische Normalität sich manchmal hinterrücks durchsetzen muss. Dass der Autor dies ohne Denunzierung der beteiligten Personen schafft, macht das Buch zu einer ebenso liebenswerten wie zum Nachdenken anregenden Lektüre.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt