Interreligiöser Dialog

Schriftauslegung in Christentum und Islam

Zur siebten Jahrestagung des „Theologischen Forums Christentum-Islam“ (6.-8. März 2009 in Stuttgart) kamen mehr als 120 christliche und muslimische Theologinnen und Theologen aus zwölf Ländern zusammen, um über Grundfragen der Exegese in beiden Religionen zu diskutieren. Ausgangspunkt sollten dabei ausdrücklich nicht einseitige Argumentationsmuster sein, etwa die Forderung an die Adresse der Muslime nach Einführung einer historisch-kritischen Methode. Vielmehr sollten Fragen erörtert werden, die sich beiden Religionen stellen und so als gemeinsame Herausforderungen wahrgenommen werden können. Fragen dieser Art gibt es in der Tat genug, das wurde in lebhaften Debatten sichtbar und in unterschiedlichen Arbeitsgängen bearbeitet. Die Atmosphäre ist vertraut, man kennt und schätzt einander, der Anteil der muslimischen Teilnehmenden ist über die Jahre kontinuierlich gestiegen.

Themen wie Aktualisierung durch Übersetzung, Geschlechtergerechtigkeit und Genderfragen einer frauenbefreienden Interpretation, intertextuelle Ansätze und Deutungsmonopole in der Schriftauslegung wurden in Arbeitsgruppen diskutiert. Ein offenes Forum gab wieder die Möglichkeit, aktuelle Projekte, Studien und Ideen vorzustellen und darüber ins Gespräch zu kommen.

In seinem Hauptreferat legte der Neutestamentler Eckart Reinmuth (Rostock) im Blick auf das christliche Offenbarungsverständnis dar, dass Rezeption konstitutiv zum Offenbarungsbegriff gehört. D. h. das unableitbar Gegebene (Offenbarung) wird und ist immer schon kommuniziert; es setzt sich dadurch von vornherein der Interpretation, dem Diskurs, anderen Ansprüchen aus. Die narrative Struktur bedeutet zugleich auch Widersprüchlichkeit, Interpretationsbedürftigkeit; ja selbst „Offenbarungsverlust“ ist anzunehmen, da die uns überlieferten Texte im Grunde Relikte dessen darstellen, was einmal vorhanden war.

Von muslimischer Seite wurde demgegenüber im Großen und Ganzen trotz Differenzierungen und konstruktiver Aufnahmen (westlicher) hermeneutischer Ansätze ein verhältnismäßig konservatives Koranbild gezeichnet. Der Koran als Bezeugung der Anrede Gottes hat zwar einen geschichtlichen Ort – hier wird alles „Historische“ untergebracht, über das zu reden man offenbar als wichtig für den exegetischen Diskurs erkannt hat –, doch dies meint gerade nicht einen narrativen, kommunikativen Akt, wie es christlicher Exegese geläufig ist. Man könnte eher von einem metaphysischen Ereignis mit „historischem Rand“ sprechen. In dieser Sicht ist es konsequent, etwa mit Ismail Yavuzcan (Osnabrück) die Christen zur Anerkennung des Korans (zumindest) als „Nachgeschichte des Neuen Testaments“ aufzufordern, analog zur Anerkennung des Alten Testaments als „Vorgeschichte“. Gerade in dieser Zuspitzung wurde erneut deutlich, dass unter Christen und Muslimen der Sachverhalt eines „historischen Zugangs“ unter sehr unterschiedlichen Prämissen verhandelt wird, die permanent zu Äquivokationen im Diskurs führen. Diese Erkenntnis ist weder neu noch dispensiert sie vom fortgesetzten Dialog, ganz im Gegenteil. Doch auch in Stuttgart war spürbar, dass diese Kluft noch keineswegs ausreichend beschrieben, geschweige denn einfach überbrückbar ist.

In dieser Hinsicht ließ insbesondere der Vortrag Burhanettin Tatars (Samsun/Türkei) aufhorchen. Hier waren deutlich distanzierende Töne gegenüber der „Ankara-Schule“ zu hören (Ömer Özsoy), deren offenen hermeneutischen Neuansatz man in den vergangenen Jahren freudig begrüßt hatte, weil er im Kern die „Sprechweise des Korans“ historisch betrachtet und die universale „Botschaft“ gleichsam aus der historischen Form herausdestilliert. Diese Herangehensweise kommt westlichen Gepflogenheiten sehr entgegen. Tatar warf dem im Gefolge von Fazlur Rahman und Hans-Georg Gadamer entwickelten Ansatz die historische Dekonstruktion des metaphysisch orientierten „Meta-Narrativs“ der Muslime und damit die „Spaltung des modernen Bewusstseins“ vor. Diese zeige sich etwa an der Einführung des Begriffs der „Tradition“ (der eben zurückblickt, gleichsam einen historischen „Graben“ aufweist). Da sei plötzlich „Etwas“, das als kulturelles und historisches Produkt einer Vergangenheit erklärt wird. Die historisch-kritische Reduktion des muslimischen Narrativs auf ein „imaginatives Konstrukt“, überhaupt die Trennung von Glauben und Wissen, trügen wesentlich zur Misere der Koraninterpretation bei, da sie die Muslime ihrer „metaphysischen Zuflucht“ beraubten. Dies öffne Tor und Tür u. a. für „islamistische, fundamentalistische“ und andere Rückkehrbewegungen zum Koran in der islamischen Welt.

Gegenüber einem solchen aktiven „Zugriff“ des modernen Subjekts auf den (passiven) „Gegenstand“ Koran, der eben auch Gefahren in sich birgt, will Tatar ein lebendiges „dialogisches Bewusstsein“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart (d. h. zwischen Koran und modernem Leser/Hörer) fördern. Tatar macht die Autorität des Korans wieder stark, er spricht von dessen Widerständigkeit, die bei den Menschen auch etwas verändern müsse, von der korrektiven Funktion des Korans als eines Gegenübers, ja vom „Ereignis“, das seine Bedeutung in allen Aspekten des Lebens „enthüllt“. Die etwas verklausuliert dargebotene Rückbesinnung auf eine fast traditionell anmutende, „metaphysisch“ orientierte Koranhermeneutik geht mit einer Distanzierung von einem zu starken Einfluss westlicher Konzepte einher. Es gibt weitere Signale aus der Türkei, die möglicherweise eine Wende in Teilen der dortigen islamtheologischen Entwicklung anzeigen.

Damit ist übrigens zunächst keine Kritik an diesem theologischen Ansatz verbunden, vielmehr ist christlicherseits zu betonen, dass Tatar im Grunde an eine theologische Unterscheidungskunst erinnert, die christlicher Theologie bei dezidiert religionssoziologischen und kulturwissenschaftlichen Schwerpunktsetzungen aus dem Blick, wenn nicht gar in Misskredit zu geraten droht. In diese Tiefe dringt ein straff getakteter Tagungsdialog allerdings auch bei vorbildlicher Durchführung kaum vor. M. E. lägen hier künftige Aufgaben, die die zweifellos vorhandenen parallelen Problemstellungen doch auch in Bezug auf die tiefgreifend unterschiedlichen Problemlösungswege hin befragen. Gerade darin müsste sich die Dialogkultur als tolerant und respektvoll bewähren.

Eine herausragende Besonderheit des diesjährigen Forums war der Vortrag von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zur Bedeutung des christlich-islamischen Dialogs für die Gestaltung des Zusammenlebens von Christen und Muslimen in Deutschland. Der Minister beantwortete im Anschluss Fragen. Ausdrücklich sprach sich Schäuble für die Einrichtung einer islamtheologischen Fakultät in Deutschland aus. Dies sei selbstverständlich Ländersache, habe aber seine volle Unterstützung.

Das Theologische Forum Christentum-Islam ist ein wissenschaftliches Netzwerk und Diskussionsforum für Theologen, Religionspädagogen, Sozial- und Kulturwissenschaftler mit entsprechendem Schwerpunkt, Multiplikatoren aus Forschung und aus unterschiedlichen praktischen Arbeitsfeldern. Die Tagungsbeiträge werden jeweils publiziert, sie erscheinen im Pustet-Verlag, Regensburg.


Friedmann Eißler