Christian Ruch

Schöner sterben in der Schweiz?

Neue Debatten um aktive Sterbehilfe

Die Schweiz erfreut sich nicht nur als Urlaubsland und Hort unversteuerten Vermögens großer Beliebtheit – auch für buchstäblich Lebensmüde ist sie ein attraktives Ziel. Denn im Gegensatz zu Deutschland ist in der Eidgenossenschaft die aktive Sterbehilfe erlaubt. Dies hat zur Folge, dass sich unter den Mitgliedern und Klienten der Sterbehilfe-Organisation „Dignitas“ ein hoher Prozentsatz Deutscher befindet. Laut „Dignitas“ stammten von den 195 Menschen, die 2006 mit ihrer Hilfe in den Tod gingen, 120 aus Deutschland, was einem Anteil von 60 % entspricht.1

Offenbar schreckt die Sterbewilligen nicht ab, dass sowohl „Dignitas“ als auch die Konkurrenzorganisation „Exit“ in der Schweiz alles andere als unumstritten sind. Der Verein „Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben“ wurde 1998 gegründet und verfolgt gemäß eigener Beschreibung „den Zweck, ihren Mitgliedern ein menschenwürdiges Leben wie auch ein menschenwürdiges Sterben zu sichern und diese Werte auch weiteren Personen zugute kommen zu lassen. DIGNITAS verfolgt diese Zielsetzung, indem den Mitgliedern überall dort im Rahmen der Möglichkeiten des Vereins durch Rat und Tat dem Einzelfall angepasste Hilfe geleistet wird: Für eine einmalige Eintrittsgebühr von CHF 100 (etwa 76 Euro) und einen jährlichen Mitgliederbeitrag von mindestens CHF 50 (etwa 38 Euro) – die Höhe liegt im Ermessen des Mitgliedes – hilft DIGNITAS im konkreten Fall bei der Durchsetzung der Patientenverfügung gegenüber Ärztinnen und Ärzten sowie Kliniken und steht für Sterbevorbereitung, Sterbebegleitung und Freitodhilfe zur Verfügung.“2

In Hannover unterhält die „Dignitas“ eine Geschäftsstelle und einen eingetragenen Verein, der sich momentan allerdings „Dignitate“ nennen muss, weil ihm von der „Deutschen Interessengemeinschaft für Verkehrsunfallopfer e.V. dignitas“ die Verwendung des Namens „Dignitas“ per einstweiliger Verfügung untersagt wurde. Vorsitzender der „Dignitate Deutschland“ ist der Schweizer Rechtsanwalt und „Dignitas“-Chef Ludwig A. Minelli, sein Stellvertreter der Berliner Arzt Uwe Christian Arnold.

Wesentlich älter und wohl auch größer ist die Vereinigung „Exit“, die schon 1982 entstand und heute „rund 50.000 Mitglieder aus allen sozialen Schichten“ umfassen soll. Im Gegensatz zu „Dignitas“ können jedoch nur Schweizer und in der Schweiz lebende Ausländer Mitglieder bei „Exit“ werden. Der Verein ist „politisch und konfessionell neutral und Mitglied der ‚World Federation of Right-to-Die-Societies’“. Er engagiere „sich für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen im Leben und im Sterben. Die zentralen Begriffe für EXIT sind Autonomie und Menschenwürde. Längst nicht alles, was die moderne Medizin heute vermag, macht auch Sinn aus Sicht des betroffenen Patienten. Immer mehr Menschen wehren sich heute dagegen, im Falle einer schweren Erkrankung oder zum Beispiel einer irreversiblen Hirnschädigung durch eine technisch perfektionierte Medizin gezwungen zu werden, weiter ‚leben’ zu müssen.“3

Immer wieder kommt es zu heftigen Debatten um die fragwürdige Beihilfe zum Freitod, den die beiden Organisationen anbieten. Bei „Dignitas“ erhält der Sterbewillige „für einen Betrag ab 3000 Schweizer Franken (...) ein One-Way-Ticket in die Schweiz, eine tödliche, vom Arzt verschriebene Dosis Natrium-Pentobarbital (15 Gramm), etwas Betreuung. Die Wohnung zum Jenseits befindet sich in Zürich. Dort ist eine Kamera installiert, damit man den freiwilligen Akt filmen kann – zur juristischen Absicherung. Eigenhändig führt der Sterbewillige das Giftglas zum Mund“, wie die „Zeit“ schrieb.4

Unlängst sei es dabei zu schweren Komplikationen gekommen, wie mehrere Schweizer und deutsche Zeitungen berichteten: Gemäß der Schweizer „SonntagsZeitung“ war dies bei der 43 Jahre alten Deutschen A. H. der Fall, die an einem Gehirntumor litt. „Nach einer Operation und zahlreichen Chemotherapien meldete sich A. H. bei Dignitas. Der Zeitpunkt für den Tod schien der Katholikin am 13. November 2006 gekommen. Mit vier Begleitern reiste sie nach Zürich, um zu sterben. Dort musste die geschwächte Frau zuerst 35 Minuten auf die Sterbehelferin warten, die das Gift brachte. Die Zeugen Dirk Neuhaus und Pomina Bentson schildern, dass sie das Sterbezimmer in einem traurigen Zustand antrafen: ‚Der Boden war dick mit Staub belegt. Das Bett sah aus, als ob es schon benutzt worden wäre.’ Als ihre Freundin das Gift schluckte, schrie sie laut Neuhaus und Bentson vor Schmerzen auf. Diese stoppten erst, nachdem A. H. in ein angespanntes Koma gefallen war. Die Frau erstickte nach 38 Minuten. Länger dauerte der Kampf beim Schlaganfallpatienten Peter A. Er führte sich im August 2004 das Gift über eine Magensonde zu. Statt – wie es normal wäre – innert Minuten zu sterben, rang er 72 Stunden mit dem Tod. Von [Dignitas-Geschäftsführer] Minelli war keine Stellungnahme zu erhalten.“5

Mittlerweile hat die „Dignitas“ auf das ihrer Ansicht nach „überaus raffinierte Konglomerat von Halbwahrheiten, Unwahrheiten, perfiden Unterstellungen und haltlosen Verdächtigungen“ reagiert und im Internet ihre Sicht des Falles dargestellt. Die Behauptung, die Todeswilligen hätten einen qualvollen Todeskampf durchlitten, sei „frei erfunden. (...) Zudem können wir Ihnen versichern, dass in jedem einzelnen Fall unserer Begleitungen seit 1998 (bis Ende 2006 waren dies 675) die Mitglieder, die ihr Leben beenden wollten, innerhalb von zwei bis fünf Minuten eingeschlafen sind. Das gilt auch für die beiden Fälle uneingeschränkt und ist von den dabei anwesend gewesenen Angehörigen auf dem Protokoll unterschriftlich bestätigt worden. (...) Das Medikament Natrium-Pentobarbital, das in einer drei- bis vierfachen Überdosis verabreicht wird, führt nach dem Hervorrufen eines tiefen Komas nach einiger Zeit zu einer Lähmung des Atemzentrums: Der Körper gibt dann das Atmen auf. Dass anschließend an die Einnahme des Medikaments der Sterbevorgang unterschiedlich lang dauert, ist nur normal: kein Körper reagiert gleich auf ein Medikament.“6

Gleichgültig, wie friedlich oder leidend die „Dignitas“-Klienten ihr Leben beenden, bleibt festzustellen, dass dringend Handlungsbedarf besteht. Immer noch werden die Sterbehilfe-Organisationen zu wenig von den Behörden überwacht, was auch daran liegt, dass es in der Schweiz keine einheitliche gesetzliche Grundlage dafür gibt, und so sind nun die Kantone gefordert. „Insbesondere bei der im Raum Zürich ansässigen Dignitas sind Zweifel angebracht, ob der Sterbewunsch umfassend abgeklärt wird“, befand die „Neue Zürcher Zeitung“. „So begleitet Dignitas mit dem Argument des Zeitdrucks, unter dem unheilbar kranke Menschen oft stünden, Sterbewillige manchmal bereits einen Tag nach ihrer Ankunft in Zürich in den Tod. Verlangt werden lediglich die – auch kurzfristige – Mitgliedschaft, eine schriftliche Begründung des Sterbewunsches sowie die Bescheinigung einer unheilbaren Krankheit. Ein Arzt in der Schweiz, der den Angereisten zum ersten Mal sieht, stellt das Rezept aus. Eine Zweitmeinung eines unabhängigen Arztes wird nicht eingeholt. Eine solche Absicherung ist im Fall der Tragweite eines assistierten Suizids jedoch dringend nötig. Zudem sollte ein solcher auf keinen Fall kurzfristig organisierbar sein, kann doch ein Sterbewunsch manchmal bereits nach wenigen Tagen wieder in den Hintergrund treten. Und schließlich ist es äußerst wichtig, nach der Diagnose einer unheilbaren Krankheit Zeit verstreichen zu lassen.“7

Zu fragen ist auch, ob es den Sterbehilfe-Organisationen nicht auch (oder sogar ausschließlich) darum geht, von der Verzweiflung Todkranker zu profitieren. Dies würde zumindest erklären, warum es mit der Beihilfe zum Tod – so jedenfalls der Eindruck – bedenklich schnell geht. Und es würde zudem erklären, warum die beiden Organisationen meistens so aggressiv auf alle Formen von Kritik reagieren: Schließlich ist das potenziell schlecht fürs Geschäft. Außerdem ist vor allem die „Dignitas“ selbst keineswegs zimperlich, wenn es darum geht, Kritik zu üben und Feindbilder zu kultivieren. Dass es in Deutschland immer noch verboten sei, aktive Sterbehilfe zu leisten, liege daran, dass sich „die deutschen Politiker (...) bevormunden“ ließen und „sich dem Thema aus Angst vor Kritik aus den Kirchen“ verweigerten.8 Als ob die Kirchen eine so große Macht hätten! Vielleicht liegt es eher daran, dass deutsche Politiker keine zweifelhaften Organisationen wie „Dignitas“ und „Exit“ am Werk sehen wollen? Angesichts des Sterbetourismus in die Schweiz ist dies natürlich keine Lösung – das Thema Sterbehilfe gehört also wohl oder übel auch in Deutschland auf die politische Agenda. Die Pflegebedürftigkeit und Vereinsamung eines nota bene wachsenden Heeres alter Menschen werden langfristig gar keine andere Wahl lassen, als sich damit zu befassen. Dies schon, um verzweifelte Menschen vor dubiosen Geschäftemachern zu schützen.


Christian Ruch, Baden/Schweiz


Anmerkungen

1 Meldung auf der Homepage von „20minuten“, 21.1.2007, siehe www.20min.ch/news/schweiz/story/16608840.

2 Zitiert nach www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&task=view&id=80&Itemid=121.

3 Zitiert nach www.exit.ch/wDeutsch/

4 Die Zeit, 27.10.2005, zit. nach www.zeit.de/2005/44/Dignitas?page=all.

5 Sonntagszeitung, 6.1.2007, zit. nach www.sonntagszeitung.ch/dyn/news/nachrichten/705313.html.

6 www.dignitas.ch/WeitereTexte/Stellungnahme.pdf.

7 NZZ, 13.1.2007, zit. nach www.nzz.ch/2007/01/13/zh/kommentarETHPF.html.

8 Wie Anm. 1.