Hans-Jürgen Twisselmann

Schlägt der „Wachtturm“ neue Töne an?

Zum Verständnis der Wiederkunft Christi bei den Zeugen Jehovas

In seiner Ausgabe vom 15. März 2007 titelte die Monatsschrift der Zeugen Jehovas, „Der Wachtturm“: „Das Kommen Christi. Wie berührt es uns?“ Auf den ersten drei Seiten verweist der Artikel zweimal auf das Bibelwort aus Apk 1,7: „Siehe! Er kommt mit den Wolken und jedes Auge wird ihn sehen ...“ – Gläubige Christen werden dieser Vorstellung zustimmen, denn auch sie erwarten das Wiederkommen Jesu. Wer aber mit der Geschichte der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) vertraut ist, kann sich nur verwundert die Augen reiben. Wie es scheint, schlägt die WTG auf diesem Gebiet ganz neue Töne an. Nicht der Inhalt des Artikels vom 15. März 2007 ist neu; ähnliche Gedanken kamen in früheren Ausgaben wiederholt vor.1 Neu ist die Akzentverschiebung, mit der erstmals der Schwerpunkt auf die Wiederkunft Christi als einem zukünftigen Ereignis gelegt wurde.

Eine unsichtbare Parusie im Jahr 1874 bzw. 1914

Die WTG hat während der ersten 44 Jahre seit ihrer Gründung im Jahr 1881 durch den amerikanischen Kaufmann Charles T. Russell beharrlich gelehrt, der Herr Jesus Christus sei bereits im Jahr 1874 wiedergekommen. Russell sprach vorzugsweise von „Christi unsichtbarer Gegenwart seit 1874“. Dieses Verständnis der Parusie hatte er einst von dem Adventisten Nelson Homer Barbour (1824-1905) übernommen.

Ein kurzer Rückblick: Die „Second Adventists“ hatten zunächst eine sichtbare Wiederkunft Christi für 1873, dann für 1874 erwartet. Als auch das Jahr 1874 zu Ende ging, ohne dass ihre Hoffnung erfüllt wurde, begann ein großes Rätselraten darüber, wo denn der Fehler stecken könnte. Barbour machte eine Entdeckung: Das griechische Wort „parousia“, das die meisten Übersetzer mit Wiederkunft, Kommen oder Ankunft wiedergeben, kann auch mit „Nahesein“ oder „Gegenwärtigsein“ übersetzt werden. Und dies hielt Barbour nun für die einzig korrekte Wiedergabe, löste diese Übersetzung doch die Erklärungsnot der ausgebliebenen Wiederkunft. Nach einer persönlichen Begegnung mit Barbour entschloss sich der junge Russell, sein ganzes Leben in den Dienst der Verkündigung dieser Botschaft zu stellen: „Der Messias ist gekommen; der Sendbote des großen Jehova ... ist da“ – seit 1874!2

Auch nachdem Russell die anfängliche Zusammenarbeit mit Barbour wegen Lehrdifferenzen beendete und seit 1879 eine eigene Zeitschrift herausgab, behielt die Lehre von der „unsichtbaren Gegenwart Christi“ für ihn einen hohen Stellenwert. Das signalisiert schon der Name seiner Zeitschrift: „Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence“. Selbst nach Russells Tod im Jahr 1916 hielt die WTG an dieser Sonderlehre fest.

Die meisten Zeugen Jehovas (ZJ) lassen sich jedoch nur ungern an die frühe Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft erinnern. Sie beteuern: „Wir haben doch heute ein helleres Licht: Der Sendbote Jehovas, Jesus Christus, ist erst seit 1914 unsichtbar gegenwärtig. In dem Jahr begann sein Königreich im Himmel!“ Ihnen ist jedoch entgangen, dass es sich bei diesem „helleren Licht“ in Wahrheit um eine Notlösung handelt, die seinerzeit von der schlimmsten „Panne“ in der Geschichte der WTG, der des Jahres 1914, ablenken sollte.

Über Jahrzehnte hinweg hatte Russell in Wort und Schrift die Erwartung geweckt, die Gläubigen würden kurz vor 1914 in den Himmel kommen, ehe im Jahr 1914 die Stürme des göttlichen Gerichts die gegenwärtige Weltordnung hinwegfegen würden. Im Einzelnen stellte er in Aussicht: den Höhepunkt und das Ende der „großen Trübsal“, „die äußerste Grenze der Herrschaft „unvollkommener Menschen“, den Beginn des Königreiches Gottes auf Erden und die Rückkehr Israels in den Stand der Gnade.3

Begreiflicherweise waren Russells Anhänger bitter enttäuscht, als das Jahr 1914 zu Ende ging, ohne dass sich auch nur eine dieser Prophezeiungen erfüllt hatte. Es begann die größte Krise in der Geschichte der Zeugen Jehovas, und nur ein starker Mann konnte die locker miteinander verbundenen „Bibelforscher“-Gruppen noch vor dem Auseinanderbrechen bewahren. Dem gewieften Juristen J. F. Rutherford, Nachfolger Russells im Präsidentenamt (1917-1942), gelang dieses Meisterstück4 – leider auf Kosten der Freiheit und der Wahrheit.

Zug um Zug und unter Anwendung rigoroser Methoden schuf er ein ganz auf die WTG und ihren Präsidenten zugeschnittenes zentralistisches Herrschaftssystem, das von allen Anhängern Gehorsam verlangte. Im Wachtturm5 begründete er dies unter Hinweis auf Gepflogenheiten beim Sport: „Das Kommando wird gegeben, und alle bewegen sich wie ein Mann ... Sie halten sich nicht dabei auf, ... darüber zu streiten, wer das Kommando hat. Sie anerkennen, dass einer es haben muss; ihre Sache ist es ... zu gehorchen“. Russells „Bibelforscher“ hatten das Reich Gottes erwartet; gekommen ist jedoch eine „Theokratische Organisation“. Nur auf Kosten der Wahrheit konnte Rutherford die „Bibelforscher“ zusammenhalten: Er versuchte, der Enttäuschung und Verbitterung in ihren Reihen dadurch Herr zu werden, dass er versicherte, das Datum 1914 hätte trotz ausbleibender Wiederkunft Entscheidendes gebracht. Dazu musste er allerdings durch plumpe Umdeutung des tatsächlich Erwarteten etwas „die Geschichte korrigieren“. Hatte Russell für 1914 die Aufrichtung des Königreiches Gottes auf Erden prophezeit, so verlegte Rutherford nun seinen Beginn in den Himmel! Die 44 Jahre lang in Wort und Schrift gepredigte unsichtbare Wiederkunft Christi schob er von 1874 auf das Jahr 1914 und versuchte so, die Botschaft zu aktualisieren und zugleich das Datum 1914 zu „retten“.

An dem Datum 1914 hält die WTG nun schon seit rund 80 Jahren fest. So heißt es in einem ihrer neueren Bücher: „Ein sorgfältiges Studium biblischer Prophezeiungen ergibt, dass der „Tag des Herrn“ in dem epochemachenden Jahr 1914 begann ... Jesus kam also 1914 unsichtbar wieder, ohne öffentliches Tamtam, und nur seine Diener waren sich seiner Wiederkunft bewusst.“6 Mit dem Nachsatz wird offensichtlich auf die Führung der „Bibelforscher“ angespielt.

Ist das nicht eine „Korrektur der Geschichte“? Denn offensichtlich haben im Jahr 1914 diese selbsternannten „Diener“ Christi seine angebliche Wiederkunft gar nicht bemerkt. Hätten sie sonst fast bis Ende der 1920er Jahre das Buch „Die Zeit ist herbeigekommen“7 weiterhin verbreitet, nach dessen Angaben Christus ja schon 1874 gekommen sein sollte? Der Wachtturm vom 15. Juli 1970 gibt unumwunden zu: „Im Jahre 1925 hielt man immer noch die Angaben über die biblische Zeitrechnung in dem Buch ‚Die Zeit ist herbeigekommen’ ... für richtig.“ Das bestätigt auch das neue Vorwort von 1926 im Buch selbst, in dem ausdrücklich das Festhalten an 1873 als Zeitpunkt des Beginns des Millenniums unterstrichen wird.8

Damit ist erwiesen, dass den ständig auf die „Zeichen der Zeit“ achtenden „Dienern“ oben auf der Wachtturm-Zinne das erst viel später angenommene Kommen Christi im Jahre 1914 nicht „bewusst“ geworden ist.9 Das gesteht auch der Wachtturm vom 1. September 1989 geradewegs zu, indem er berichtet: „Im Wachtturm vom 15. April 1925 wurde die Geburt des messianischen Königreiches Jehovas ... zum ersten Mal erklärt.“ Mit dieser höchst ungewohnten Wortwahl gab der Wachtturm von 1925 das Signal für eine neue, „theokratische“ Sprachregelung:10 Seither sprachen die ZJ in ihren Vorträgen und Schriften fast nie mehr von Christi „Kommen“ – das war ja die angeblich falsche Übersetzung des griechischen Wortes „parousia“ –, sondern von seiner „unsichtbaren Gegenwart“, vor allem aber vom 1914 aufgerichteten Königreich Jehovas.

Aus diesen Gründen ist es für ZJ und alle Kenner der „Szene“ so überraschend, dass die Wachtturm-Ausgabe vom 15. März 2007 titelt: „Das Kommen Christi“ und es als ein zukünftiges Ereignis hervorhebt, während sie die bisherigen Sprachregelungen „unsichtbare Gegenwart Christi“ und „Aufrichtung des Königreiches 1914“ vermeidet. Die Frage drängt sich auf, ob sich damit eine mögliche Kursänderung bezüglich der so genannten „Guten Botschaft vom (1914) aufgerichteten Königreich“ ankündigt. Gründe dafür gäbe es wahrhaftig genug. Gehen wir von denselben Prämissen aus wie die WTG, gibt es sechs triftige Argumente.

Warum die Botschaft vom 1914 gekommenen Königreich unbiblisch ist

1. Es handelt sich um ein anderes Evangelium als das von Jesus aus Nazareth verkündete (Mk 1,15). Es unterscheidet sich auch von den Kernaussagen des Apostels Paulus und seiner Mitapostel (1. Kor 1, 18.23; 15,1ff; Gal 1,8.9).

2. Die Entstehungsgeschichte der „Guten Botschaft vom (1914) aufgerichteten Königreich“ zeigt, dass sie eine Verlegenheitslösung ist, die aus den Trümmern der gescheiterten „adventistischen“ Prognosen für 1873/74 und derjenigen Russells für 1914 konstruiert wurde.11

3. Wenn die „Gute Botschaft“ der WTG darauf basiert, dass Jesus Christus seit 1914 „unsichtbar gegenwärtig“ sei, so ist daran zu erinnern: Unsichtbar gegenwärtig ist der auferstandene und erhöhte Herr bei den Seinen schon vor seiner Wiederkunft (Mt 28,20). Deshalb muss Wiederkunft mehr bedeuten als „unsichtbare Gegenwart“, und genau das bezeugt ja auch das Neue Testament:

4. Die Wiederkunft Jesu Christi gestaltet sich nach biblischer Aussage so, dass die Menschen ihn „kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit“ (Mt 24,30). Das bekannte Wort aus Apk 1,7: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen“ wird sogar im Wachtturm (15.3.2007) zweimal zitiert, aber im gleichen Atemzug wird bestritten, dass „die Menschen ihn buchstäblich sehen werden“. Die ZJ an der Haustür sagen gern, 1914 wurde das Kommen Jesu „mit dem Glaubensauge gesehen“. Tatsache aber ist, dass es noch nicht einmal die Wachtturm-Oberen „mit dem Glaubensauge“ gesehen haben, wie oben gezeigt wurde, denn sie hielten ja bis in die 1920er Jahre an 1874 fest.

5. Die „Gute Botschaft vom (1914) aufgerichteten Königreich“ steht im Widerspruch zu all den Aussagen, in denen die Bibel zeigt, was bei Jesu Wiederkommen geschehen wird. Vor allem ist die Entrückung und Vollendung der zu der Zeit lebenden und der entschlafenen Gläubigen zu nennen, die danach „bei dem Herrn sein werden allezeit“ (1. Thess 4, 13-17). Auch ZJ müssen zugeben, dass dies 1914 nicht eingetreten ist. Dann aber kann Jesus Christus nicht wiedergekommen sein.

6. Durch die biblischen Aussagen zur Wiederkunft wird auch begreiflich, warum die Christen nur so lange durch das Feiern des Abendmahls „den Tod des Herrn verkündigen, bis dass er kommt“ (1. Kor 11,26). Nach seinem Kommen sind die Gläubigen ja bei ihrem Herrn.

Vor Jahren machte ich einen ZJ auf diesen Zusammenhang aufmerksam. Ich stellte ihm unter Hinweis auf 1. Kor 11,26 die Frage: „Wie könnt ihr Zeugen Jehovas immer noch das ,Gedächtnismahl’ feiern, obwohl der Herr Jesus Christus doch schon gekommen sein soll? Da stimmt doch etwas nicht!“ Offenbar sah er den Widerspruch ein, denn er schrieb an das deutsche Zweigbüro der WTG und erhielt die mir etwas kleinlaut erscheinende Antwort: „... in diesem Sinne ist Christus noch nicht wiedergekommen“. Das aber bedeutet doch, dass in diesem Sinne sein Kommen noch zukünftig aussteht.

Zu erwartende Anfragen

Da der Wachtturm vom 15. März 2007 zur größten Überraschung für wachsame ZJ diese Einsicht nicht nur kleinlaut zugibt, sondern durch die Überschrift auf der Titelseite auch noch herausstellt, werden einige Mitglieder vielleicht den Mut haben, bei der WTG anzufragen, ob und in welchem Sinne sie dann überhaupt noch an 1914 festhält. Wenn sie ehrlich ist, muss sie gestehen, dass dies geschieht, weil sie ein ganzes Lehrsystem darauf aufgebaut hat – vor allem die Lehre, der 1914 inthronisierte Christus habe – nach einer Besichtigung aller sich zu ihm bekennenden Denominationen – die eine Gruppe, deren Werkzeug und Sprachrohr die WTG sei, als „treuen und verständigen Sklaven“ (oder „Knecht“) erwählt und über seine ganze Habe gesetzt. Die WTG interpretiert: über alle „Königreichsinteressen gesetzt“. Fällt „1914“, so droht also nicht nur ihr Lehrgebäude einzustürzen, sondern ihr Herrschaftssystem, weil dann auch die erwähnte „Besichtigung“ und die Einsetzung des „Sklaven“ nie stattgefunden haben kann.

Es erscheint als unwahrscheinlich, dass die WTG dieses Risiko in absehbarer Zeit eingehen wird, und es überrascht daher nicht, dass schon der Wachtturm vom 1.1.2008 ganz im alten Stil von Beweisen spricht „dafür, dass ... Christi Gegenwart begonnen hat“. Die gebe es in Hülle und Fülle seit 1914. Gleichwohl ist damit zu rechnen, dass die Führung sich langfristig aus dem Konfliktpotential von 1914 herausschleichen möchte. Dafür könnte der Wachtturm vom 15. März 2007 über das „Kommen Christi“ ein Signal sein. Wenn man jedoch die Diskussionen mit in Betracht zieht, die in der „Leitenden Körperschaft“ bereits früher über 1914 geführt wurden, gelangt man zu einer anderen Einschätzung. Raymond Franz, früherer Zeuge Jehovas und ehemaliges Mitglied der „Leitenden Körperschaft“, berichtet darüber ausführlich in seinem Buch „Der Gewissenskonflikt“. Einige Schilderungen und Zitate daraus sollen diese Einschätzung zum Schluss belegen.

Frühere Diskussionen über 1914 im Leitungsgremium der Weltorganisation

In den Sitzungen der Leitenden Körperschaft in Brooklyn am 6. März 1979 und am 14. November 1979 wurden Fotokopien der ersten 20 Seiten einer Abhandlung des schwedischen Ältesten Carl Olof Jonsson verteilt, „worin die Geschichte der Spekulationen zur Chronologie detailliert wiedergegeben und die eigentliche Quelle ... des Endzeit-Termins 1914 enthüllt wurde ...“12

Der Leiter der Schreibabteilung Lyman Swingle, der das Jonsson-Papier bereits kannte, schilderte seine Erinnerungen an die Diskussionen über die Problematik in seinem Elternhaus „und er wisse auch, was 1975 losgewesen sei. Noch einmal wolle er mit einem Datum nicht getäuscht werden“13.

Raymond Franz „verwies in dieser Sitzung darauf, dass das Basisdatum der Gesellschaft, das Jahr 607 v. u. Z. keinerlei historische Grundlage habe“14.

Am Schluss vertraten alle Mitglieder der Leitenden Körperschaft bis auf wenige Ausnahmen die Ansicht, „das Jahr 1914 und die damit verbundene Lehre über ‚diese Generation’ solle weiterhin hervorgehoben werden ...“

Lyman Swingle sagte daraufhin: „Also gut, wenn ihr das so wollt. Aber zumindest wisst ihr, dass Jehovas Zeugen das Jahr 1914 von den Adventisten übernommen haben – und zwar mit allem Drum und Dran!“15

Der Kommentar von Raymond Franz zu dieser Sitzung: Am meisten habe ihn beunruhigt, dass die Leitende Körperschaft einerseits von den Brüdern verlangte, „felsenfest an ihre Interpretationen zu glauben, während andererseits zugleich Männer in leitender Stellung bekannten, dass sie selber den Voraussagen im Zusammenhang mit dem Jahr 1914 kein volles Vertrauen schenkten“.

Als Beispiel führt er an, dass es schon in der Sitzung der Leitenden Körperschaft vom 19. Februar 1975 zu einer Diskussion über „die Ungewissheit von Zeitprophezeiungen“ kam, in deren Verlauf sogar der damalige Präsident Nathan Homer Knorr (1905-1977) bekannte: „Bei manchen Dingen bin ich mir sicher. Ich weiß, daß Jehova unser Gott ist, daß Christus Jesus sein Sohn ist, daß Jesus sein Leben als ein Lösegeld für uns gab. Bei anderen Dingen bin ich mir nicht so sicher. Zum Beispiel bei 1914. Davon reden wir schon sehr lange. Es mag sein, dass wir recht haben. Ich will es hoffen.“16

Im Anschluss an den Bericht über dieses Geständnis des damaligen Präsidenten Knorr schildert Raymond Franz, dass schon vor der großen Debatte über 1914 in der Sitzung vom 14. November 1979 das Schreibkomitee darüber gesprochen habe, ob es ratsam sei, das Datum 1914 so herauszustellen. Es wurde vorgeschlagen, wenigstens nicht mehr darauf „herumzureiten“. Einer der Beteiligten erinnerte an die übliche Methode, „eine bestimmte Lehre einfach eine Zeitlang nicht mehr zu erwähnen; dann erregt es nicht so großes Aufsehen, wenn eine Änderung kommt. Es ist beachtlich, dass die Schreibabteilung einstimmig beschloss, in Bezug auf 1914 im Wesentlichen genau nach diesem Muster zu verfahren“. – In der Sitzung vom 14. November 1979 wurde jedoch, wie oben gezeigt, anders entschieden.

Aber auch dies muss noch nicht das letzte Wort in der Sache sein. In der Vergangenheit hat die Leitende Körperschaft wiederholt frühere Entscheidungen revidiert. Dass dies auch in der 1914-Problematik möglicherweise schon geschah oder eines Tages geschehen wird, ist vor allem deshalb anzunehmen, weil in der WTG-Zentrale in Brooklyn bis in die Leitende Körperschaft hinein – trotz des Widerstandes gegen jede Veränderung in dieser Sache – offensichtlich kaum noch jemand von der Stimmigkeit des Datums 1914 überzeugt ist.


Hans-Jürgen Twisselmann, Büsum


Anmerkungen

1 Z. B. im Wachtturm vom 1.2.1996, 21, Abs. 18.

2 So wörtlich in „Die Zeit ist herbeigekommen“, Band 2 der „Schriftstudien“, Ausgabe von 1926, 228.

3 „Die Zeit ist herbeigekommen“, Band 2 der „Schriftstudien“, Ausgabe von 1912, 73.

4  Diese Beurteilung ist trotz der Tatsache gerechtfertigt, dass es seit Rutherfords Amtsantritt zu Abspaltungen von Einzelpersönlichkeiten und ganzen Gruppen kam, die das Erbe Russells bewahren wollten. Einige legten Wert darauf, dass dies ohne Einschränkungen geschähe, andere gingen freier mit ihm um. Manche erlagen einem gesetzlichen und dogmatischen Missverständnis des Christentums, andere pflegten eine am Evangelium von Jesus

Christus orientierte Frömmigkeit. Ausführliches dazu – besonders über die Situation in Deutschland – in: Bruderdienst Nr. 39/40 (heute Brücke zum Menschen).

Wachtturm von 1926, 84.

6 „Der größte Mensch, der je lebte“, Selters/Ts. 1991, Kapitel 132.

7 Band 2 der „Schriftstudien“.

8 Noch 1926 bekannte sich die WTG zu 1873/1874: „Die Chronologie der Bibel ... zeigt, dass die sechs großen Tausendjahrtage, die mit der Erschaffung Adams begannen, zu Ende gegangen sind, und dass der siebente Tag, die tausend Jahre der Herrschaft Christi, welche im Jahre 1873 begann, ihnen gefolgt sind. Die Ereignisse, die während dieser 43 Jahre vor sich gegangen sind, die, wie wir in diesem Bande behaupten, den Anfang des Millenniums darstellen, finden wir noch immer so in Übereinstimmung mit den Prophezeiungen der Bibel ...“ Dann werden diese Ereignisse aufgeführt: „Die Nähmaschine ... begann vor 43 Jahren ihre Vollkommenheit zu erreichen. Seitdem haben wir alle landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten, sowie von Werkstätten und Fabriken und heimische Bequemlichkeiten im Überfluss ... Diese verkürzen die Arbeitsstunden und beenden das Arbeiten im Schweiße des Angesichts, das die Bibel als mit dem Fluche identisch bezeichnet.“ Charles T. Russell, Vorwort, „Schriftstudien“, Band 2. Ausgabe von 1926, 6.

9 Sie behaupten deshalb auch nicht, im Jahre 1914 schon proklamiert zu haben „Christus ist wiedergekommen, seine Königsherrschaft aufgerichtet“, sondern: „Bald nach 1914 begann der Überrest derer, die hoffen, mit Jesus im Himmel zu herrschen, die gute Botschaft zu verkündigen, dass das Königreich aufgerichtet ist“ (Broschüre „Die Regierung, die das Paradies wiederherstellen wird“, Brooklyn und Selters/Ts. 1985, 23).

10 Seit dem hier zitierten Wachtturm vom September 1925 wurde dann auch statt vom „Kommen Christi“ und der angeblichen „Gegenwart Christi seit 1874“ mehr und mehr von der „Geburt“ oder „Aufrichtung des Königreiches Jehovas“ gesprochen. Nur im Titel der Zeitschrift wurde die alte Sprachregelung noch länger beibehalten. Erst seit dem 1.1.1939 heißt die deutsche Ausgabe nicht mehr „Der Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“, sondern „der Wachtturm und Verkünder des Königreiches Christi“, ab 1.5.1939 „Der Wachtturm als Verkünder von Jehovas Königreich“ und ab 15.4.1957 „Der Wachtturm verkündet Jehovas Königreich“.

11 Vgl. Brücke zum Menschen Nr. 157, 121 u. 125.

12 Franz, Der Gewissenskonflikt, 4. revidierte und erweiterte Auflage, 243. Die deutsche Ausgabe ist 2006 im Bruderdienst Missionsverlag in Kooperation mit „Ausstieg“ Karlsruhe erschienen.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Ebd., 245.

16 Ebd.