Hans Michael Heinig

Säkularer Staat - viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart

Hans Michael Heinig: Säkularer Staat – viele Religionen. Religionspolitische Herausforderungen der Gegenwart, Kreuz Verlag, Freiburg i. Br. 2018, 142 Seiten, 18,00 Euro.

Hans Michael Heinig ist Professor für öffentliches Recht an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD. In dem kleinen Buch spricht er zahlreiche religionspolitische Themen an. Die Beiträge wurden zuvor in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht und für das Buch überarbeitet. Sie richten sich an Leserinnen und Leser, die an Religionspolitik interessiert sind, ohne spezielles Vorwissen in Religionsverfassungsrecht zu haben. Es handelt sich also nicht um wissenschaftliche Aufsätze im engeren Sinne, sondern es geht um eine allgemein verständliche Vermittlung von rechtlichen Fragestellungen zum Thema Staat und Religion. Das ist eine besondere Form der Wissenschaftskommunikation. Viele Menschen haben im Bereich der Geisteswissenschaften eine vorgefasste Meinung – zuweilen unabhängig vom Grad ihres Wissens. Das scheint in naturwissenschaftlichen Fragen anders zu sein: Viele trauen sich nicht, zu bestimmtem chemischen Reaktionen oder physikalischen Vorgängen Urteile abzugeben, ohne sich zuvor ausführlich Wissen anzueignen. Während Naturwissenschaftler häufig erklären müssen, warum Sachen eigentlich gar nicht so kompliziert sind, müssen Geisteswissenschaftler oftmals erklären, warum die Dinge gar nicht so einfach sind. Eine besondere Herausforderung ist es dann, die komplizierten Probleme so darzustellen, dass (in diesem Fall) Nichtjuristen sie verstehen. Heinig gelingt es, die religionspolitischen Herausforderungen anschaulich zu vermitteln, ohne zu vereinfachen. Dabei bleibt die Pfadabhängigkeit, also die lange Historie des Verhältnisses von Staat und Religion in Deutschland, immer im Blick. Er spitzt manche Formulierungen aus seinen zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen für dieses Büchlein zu, um die Herausforderungen deutlich zu machen.

Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte mit insgesamt 15 Kapiteln. Nach einer Einleitung beginnt Heinig mit dem ersten Abschnitt über „Religionspolitische Ordnung“ (13-67). Der Umgang mit dem Begriff der religiösen und weltanschaulichen Neutralität, dem er sich in Kapitel 1 widmet, ist angesichts manch kontroverser Diskussionen wohltuend entspannt. Der Begriff wird zu Recht nicht gänzlich verbannt, aber auch nicht überhöht (er findet sich als solcher auch nicht im Grundgesetz). Heinig weist zutreffend darauf hin, dass der religiös und weltanschaulich neutrale Staat sich demokratisch legitimiert und in diesem Sinne säkular, aber nicht säkularistisch ist. Der Begriff erweist sich als „verfassungsrechtlicher Reflexionsbegriff, der zur Vermessung des Spannungsverhältnisses von demokratischer Allgemeinheit und gleicher individueller Freiheit dient und zugleich grundlegende Lernerfahrungen aus zurückliegenden Religionskonflikten im kollektiven Gedächtnis des Rechts in Erinnerung ruft“ (26). Eine typische Formulierung des Autors: In einem Satz werden die heuristische Begriffsfunktion, Demokratie, individuelle sowie kollektive Religionsfreiheit und die Religionsverfassungsgeschichte in Beziehung zueinander gesetzt und das Ergebnis der Vermessung offen gelassen. Allerdings wird der Satz im Folgenden näher ausgeführt. In dem Zusammenhang ein weiteres typisches Beispiel dafür, dass der Autor auch feuilletonistisch formulieren kann: „Wohlwollende Kooperation mit Religionsgemeinschaften ist so gesehen in Deutschland ein erprobtes Instrument der Fundamentalismusprophylaxe“ (27).

Im zweiten Kapitel beschreibt Heinig, dass die religionspolitische Ordnung unter Druck geraten ist, die volkskirchliche Ordnung erodiert und religionspolitische Selbstverständlichkeiten verloren gehen. Als Konsequenz könnten die Kirchen eigene Ansprüche und Begehrlichkeiten selbstkritisch prüfen. Es gebe eine argumentative Bringschuld der Kirchen, wenn am religionspolitischen Status quo festgehalten werden solle angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse (28f). Diesem Petitum ist zuzustimmen. In der Tat müssen die Kirchen ihre auch rechtlichen Besonderheiten gegenüber der Gesellschaft und dem Staat so deutlich darstellen, dass sie plausibel sind.

Im dritten Kapitel geht es um den Religionsunterricht als einzigem Schulfach, das ausdrücklich im Grundgesetz genannt wird. Außer mit dem islamischen Religionsunterricht1 setzt sich Heinig kritisch mit dem christlich-kooperativen Religionsunterricht vor dem Hintergrund des Art. 7 Abs. 3 GG auseinander. Aus meiner Sicht reichen die staatlich akzeptierten Kooperationsvereinbarungen zwischen den beiden Kirchen aus, um den Verfassungsanforderungen zu genügen. Einig bin ich mit Heinig, dass der Religionsunterricht schlicht unverzichtbar ist, wenn er es schafft, unter den veränderten religionssoziologischen Bedingungen den vom Grundgesetz intendierten gehaltvollen Beitrag zur religiösen und theologischen Bildung zu leisten (47).

Kapitel 4 beschäftigt sich mit den Hochschulen als Orten zwischen Religionsoffenheit und Laizismus, Kapitel 5 mit der Religionspolitik bei Bündnis 90/Die Grünen unter der Überschrift „Diffuse Empörung statt differenzierter Analyse“ (55ff). Die Überschrift entspricht der Hauptthese. Entsprechendes gilt für Kapitel 6: „Juristischer Offenbarungseid. Die Alternative für Deutschland und die Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz“ (61ff).

Im zweiten Abschnitt unter der Überschrift „Toleranz und Religionskritik“ (71ff) handelt das Kapitel 7 „Vom Ethos der Toleranz“, und die Unterüberschrift „Nicht Staatspflicht, sondern Bürgertugend“ beschreibt die Grundaussage: Toleranz ist nach Ansicht Heinigs nicht ein Verfassungsprinzip o. Ä., sondern eine Bürgertugend. Dies liegt ganz auf der Linie des Kapitels über die Neutralität. Das achte Kapitel beschäftigt sich mit Religionsbeschimpfungen. Heinig fragt kritisch, ob das Strafrecht auch unter einschränkender Auslegung des § 166 StGB das richtige Mittel ist, um Religionskonflikte auszutragen.

Der dritte Abschnitt (81ff) beschäftigt sich mit dem „Protestantismus“ (83-106), zunächst im neunten Kapitel mit „Von Ambivalenzen geprägt. Der Protestantismus in der deutschen Demokratie“. Lange Zeit haderte der deutsche Protestantismus mit der Demokratie. Erst die Kontroversen der Adenauer-Zeit führten nach Heinig dazu, sich in die demokratische Streitkultur einzuüben. In den 1960er Jahren erlebte die Bundesrepublik einen Säkularisierungsschub, und die allmählich gewonnene Integrationsfähigkeit wurde durch die gesellschaftlichen Modernisierungsbewegungen infrage gestellt. Angekommen in der Demokratie ist die evangelische Kirche durch die EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 1985.

Mit der „Ökonomisierung des Sozialen: Wenn die Diakonie streikt“ (Kapitel 10, 96ff) spricht der Autor ein aktuelles Thema an. Die Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung von Kirche steht in dem Spagat, einerseits zur Kirche zu gehören und sich als Dienstgemeinschaft zu verstehen und andererseits sich auf dem Markt der Anbieter von sozialen Dienstleistungen behaupten zu müssen. Hier tun sich zwei Probleme auf: a) Es werden Mitarbeitende beschäftigt, die nicht der Kirche angehören, b) die Tarife müssen den Beschäftigten gerecht werden, aber auch marktfähig sein. Diesen Spagat zwischen Selbstverständnis als Dienstgemeinschaft und praktischen Anforderungen auszuhalten und gleichzeitig den geistlichen Anforderungen gerecht zu werden, ist nicht einfach. Hier fordert Heinig Plausibilität kirchlichen Handelns bis hin zum Mut, sich von Handlungsfeldern zu trennen: „Der Erhalt diakonischer Einrichtungen darf nie Selbstzweck in der Kirche sein“ (99). Das ist eine klare und eindeutige Position! Heinig weist darauf hin, dass mit dem Wegfall diakonischer Anbieter die Ökonomisierung des Sozialen weiter voranschreiten würde.

Kapitel 11, „Kirchentag und Kirche. Eine Polemik“ (101ff), benennt schon im Titel die Zuspitzung: Heinig meint, beim Kirchentag herrsche ein „verzerrtes Kirchenverständnis“, er sei ein „Tummelplatz für protestantische Wutbürger, für sonderliche und unversöhnliche Eiferer und Rechthaber“. Im „eigenwilligen Kontrast dazu pflegen die Leistungsorgane des Kirchentages enge Beziehungen zu den politischen Eliten des Landes, ja, sie sind fester Bestandteil dieser“. Der Kirchentag lebe von einer eigentümlichen Ungleichzeitigkeit und existiere als Echokammer des protestantischen „juste milieu“, als kollektives Meinungssilo. Der Beitrag mündet in die Forderung nach transparenten und durchlässigen Beteiligungs- und Gremienstrukturen. Auch für den Kirchentag gelte: Ecclesia semper reformanda. Der Beitrag ist ein schönes Beispiel von Streitkunst und der notwendigen Freiheit des Wissenschaftlers.

Das Buch endet mit dem vierten Abschnitt zum Thema „Islam im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat“ (109ff). Das zwölfte Kapitel behandelt den Kopftuchstreit. Heinig beschreibt den unterschiedlichen Umgang mit dem Kopftuch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einerseits und der Zurückhaltung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte andererseits. Frankreich behandelt die Kopftuchfrage aufgrund des Laizismus restriktiv, England vor dem Hintergrund der multikulturellen Tradition liberal, Deutschland geht einen Mittelweg: Das pauschale Kopftuchverbot ist unverhältnismäßig, sodass eine Einzelfallprüfung stattfindet.2 Aktuell ist die Frage des Kopftuchs in der Rechtspflege. U. a. der Landtag in Nordrhein-Westfalen berät aktuell ein Justizneutralitätsgesetz. Anders als der Gesetzgeber in NRW sieht Heinig in einem Kopftuch bei Richterinnen kaum eine Gefahr für die Unparteilichkeit, es gehe eher um die äußerliche Wahrnehmung. Aus meiner Sicht überwiegen eher die Nachteile vor dem Hintergrund der Integration.3 Die vorhandenen Befangenheitsregelungen reichen aus. Der Schaden eines solchen Gesetzes ist größer als der Nutzen.

Das 13. Kapitel über Islamverträge fragt nach Chancen und Risiken. Heinig spricht den Verträgen (zutreffend) eher symbolischen Charakter zu. In diesem Kapitel wird die Frage der Selbstorganisation aus dem zweiten Kapitel noch deutlicher fokussiert: „Das Grundgesetz verlangt für die Zusammenarbeit mit dem Staat Klarheit darüber, wer für wen gegenüber dem Staat spricht und wer in seinen religiösen Interessen durch eine bestimmte Gemeinschaft nicht vertreten wird.“ Insofern hätten die Moscheeverbände eine „Bringschuld“ (37). So deutlich wird das an dieser Stelle nicht formuliert. Besonders strittig ist die Frage, ob die islamischen Verbände überhaupt Religionsgemeinschaften sein können oder unter welchen Voraussetzungen.4 Dies bleibt offen. Heinig mahnt aber mittelfristig weitere Islamverträge mit gehaltvollen rechtlichen Regelungen an (122).

Im 14. Kapitel spricht sich Heinig gegen ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild aus und plädiert stattdessen für ein flexibles Religionsrecht, weil auch ein Islamgesetz das Hauptproblem einer befriedigenden Selbstorganisation nicht lösen würde.

Im letzten Kapitel stellt er die Frage, ob wir einem „islamischen“ gesetzlichen Feiertag einführen sollten (128ff). Der Text greift zeitbedingt eine Idee des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière auf und kommt schnell zu dem Schluss, dass es angesichts der Zuständigkeit der Bundesländer keine „Neukalibrierung des Feiertagsrechts“ im Hinblick auf die Anerkennung eines islamischen Feiertags geben wird.

Das Buch setzt Akzente, wie die wörtlichen Zitate verdeutlichen, bemüht sich aber zugleich um Ausgleich. Es mahnt an, „uns religionspolitisch immer wieder über Traditionen und Umbrüche, Bewährtes und Fehlentwicklungen zu verständigen“ (9). Der Jurist Heinig ist in guter Gesellschaft: Der Politologe Ulrich Willems hat die deutsche Religionspolitik als „Stiefkind“ bezeichnet. Die Zögerlichkeit der politischen Entscheidungsträger führe angesichts der religiösen Pluralisierung5 zu erheblichen Unsicherheiten und Irritationen.6 Gert Pickel als Religionssoziologe prophezeit, dass die für den Ausgleich religiöser Positionen notwendige Kompromissbildung schwieriger werde, weil aufgrund von Politisierung religiöser Zugehörigkeit und Identität sich Positionen radikalisieren könnten.7

Heinig hat ein allgemein verständliches Buch vorgelegt, das Gehalt und Tiefe mit Zuspitzung und Pointierung verbindet. In dieser Kombination wird es zu einer anregenden Lektüre.


Arno Schilberg, Detmold


Anmerkungen

  1. Dazu Riem Spielhaus / Zrinka Stimac: Schulischer Religionsunterricht im Kontext religiöser und weltanschaulicher Pluralität, in: APuZ 28-29 (2018), 41-46.
  2. Vgl. Arno Schilberg: Kirche, Kopftuch, Körperschaft. Gerichtsentscheidungen in Weltanschauungsfragen, in: MD 7/2018, 253-260.
  3. Vgl. zuletzt Hanna Fülling: Die Deutsche Islam Konferenz, in: MD 2/2019, 45-53 (zur Handlungsfähigkeit der Muslime: 50).
  4. Vgl. Friedmann Eißler: Islamische Verbände in Deutschland, EZW-Texte 260, Berlin 2019, 13ff, 84ff, 149ff.
  5. Vgl. dazu neu Hanna Fülling: Religionspolitik vor den Herausforderungen der Pluralisierung, EZW-Texte 259, Berlin 2019.
  6. Vgl. Ulrich Willems: Stiefkind Religionspolitik, in: APuZ 28-29 (2018), 9-15.
  7. Vgl. Gert Pickel: Säkularisierung, Pluralisierung, Individualisierung. Entwicklung der Religiosität in Deutschland und ihre politischen Implikationen, in: APuZ 28-29 (2018), 22-27. In demselben Heft befindet sich auch ein Beitrag von Hans Michael Heinig (Historische und aktuelle Dynamiken im Religionsrecht, 16-21), in dem er zu Recht u. a. fordert, die von einzelnen Religionskulturen ausgehende Gefahr für das Allgemeinwohl von bloßen kulturellen Fremdheitserfahrungen zu unterscheiden (21).