Petra Hasselmann

„Rituelle Gewalt“ und Dissoziative Identitätsstörung. Eine multimethodale Untersuchung zu Erwartungshaltungen an Akteure im Hilfesystem

Petra Hasselmann, „Rituelle Gewalt“ und Dissoziative Identitätsstörung. Eine multimethodale Untersuchung zu Erwartungshaltungen an Akteure im Hilfesystem, Pabst Science Publishers, Lengerich 2017, 284 Seiten, 25 Euro.
 

Petra Hasselmann legt eine Arbeit zu einem Phänomen vor, das wissenschaftlich bislang spärlich untersucht wurde. Dies mag zum Teil schon den Begrifflichkeiten geschuldet sein, denn die Bezeichnung „Rituelle Gewalt“ wird keineswegs einheitlich verwendet, sondern für eine Vielzahl von Fällen von physischem und sexuellem Missbrauch, in der Regel in Verbindung mit einer Ideologie oder bestimmten Systematik, gebraucht. Dazu kommt eine hohe Skepsis bei Strafverfolgungsbehörden, manchen Beratungsstellen und Wissenschaftlern, da unter dem Stichwort Rituelle Gewalt oft weitreichende, aber kaum nachprüfbare Aussagen getroffen werden. Demgegenüber steht eine große Zahl an ärztlichen, therapeutischen oder sozialen Helfernetzwerken, deren Vertreter auf die Dringlichkeit des Phänomens hinweisen und es politisch wie gesellschaftlich in den Fokus rücken möchten. Doch auch das psychiatrische Krankheitsbild „Dissoziative Identitätsstörung“ bzw. „Multiple Persönlichkeitsstörung“, wie es nach der derzeit (noch) gültigen Klassifikation in Deutschland offiziell bezeichnet wird, ist in seiner Existenz und Ausprägung keineswegs unumstritten und wird häufig als unbedingt mit schwerer bzw. ritueller Gewalt verknüpft angesehen.

Petra Hasselmann – selbst Kriminalbeamtin und Kriminologin – begegnet diesen Gegensätzen, indem sie in ihrer Untersuchung konsequent die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. Ein Schwerpunkt soll dabei auf der Haltung zum Gefahrendiskurs und auf den Erwartungen an Personen und Strukturen des Hilfesystems liegen.

Im ersten Teil wird ein kurzer theoretischer Überblick über die drei zentralen Begrifflichkeiten des Feldes gegeben. Dies beginnt mit der Entstehung sowie verschiedenen Definitionen des Begriffs Rituelle Gewalt, wobei an den vier vorgestellten Lesarten bereits deutlich wird, wie unterschiedlich dieser verstanden wird. Die Autorin schließt sich hier jedoch keiner Definition an. Im nächsten Abschnitt wird das Störungsbild der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) bzw. Multiplen Persönlichkeitsstörung dargestellt, basierend auf den gängigen Diagnosesystemen für psychische Erkrankungen, ICD und DSM. Der dritte Teilabschnitt behandelt schließlich das Thema Erinnern bzw. Vergessen traumatischer Erlebnisse und schließt dabei das sogenannte False-Memory-Syndrom, also die Möglichkeit einer falschen Erinnerung, mit ein. Im folgenden Abschnitt geht die Autorin auf den Diskussionsstand zum Thema ein und stellt dabei die befürwortende traumatherapeutische Betrachtungsweise der Haltung von Kritikern gegenüber, welche das Thema Rituelle Gewalt bzw. DIS als konstruiert und soziologisch als Moralpanik betrachten. Der theoretische Teil schließt mit einer Darstellung von Positionen zum Hilfesystem ab. Interessant ist hier die Darstellung der Positionen kirchlicher Weltanschauungsarbeit: Während aus Sicht katholischer Weltanschauungsarbeit das Thema kaum relevant sei und praktisch nur als Vermittlung Betroffener an andere Stellen Bedeutung erlange, werde von evangelischer Seite ein längerer seelsorglicher Kontakt mit dem Aufbau eines Helfernetzwerkes für nötig gehalten. Eine ungeklärte Rolle spielen laut Hasselmann bislang Selbsthilfeforen und -gruppen Betroffener.

Im nächsten Kapitel wird eine Erhebung in einem Selbsthilfeforum für von einer Dissoziativen Identitätsstörung Betroffene dargestellt. Die Forenmitglieder konnten hier freiwillig einen von der Autorin konzipierten Fragebogen ausfüllen, was 31 Personen taten. Beachtenswert ist an dieser Stelle der Familienstand der Teilnehmenden mit einem vergleichsweise hohen Anteil an gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, ein Befund, der sich in der folgenden qualitativen Erhebung fortsetzt. Weiterhin fällt auf, dass als hilfreichste Personengruppe zwar Therapeutinnen bzw. Therapeuten genannt werden – es geben aber fast alle Teilnehmenden an, ihren Therapeuten/ihre Therapeutin bzw. Arzt/Ärztin mindestens einmal oder sogar häufig gewechselt zu haben. Das Erleben von Ritueller Gewalt wird von der Mehrheit der Teilnehmenden angegeben, satanistische Gewalt bestätigen weniger als die Hälfte. Als Verursacher gilt vor allem die Familie, ein großer Teil gibt jedoch auch „Unbekannte“ an.

Den größten Teil der Arbeit nimmt der qualitative Untersuchungsteil ein, bei welchem 16 Personen zu ihren Einstellungen und Erfahrungen mit den Themen Dissoziative Identitätsstörung, Gewalterleben und Erfahrungen im Hilfekontext interviewt wurden. Fast alle dieser Probanden hatten zuvor bereits an der Fragebogenerhebung teilgenommen. Bei dieser Befragung wird zunächst der Stellenwert deutlich, den die Diagnose Dissoziative Identitätsstörung für etliche Betroffene besitzt. Sie dient demnach als Bestätigung und Erklärung des Gefühls, „anders“ zu sein, und ist unbedingt mit dem Erleben (massiver) Gewalt verknüpft.

In der Folge fällt auf, dass einige Begriffe wie Gehirnwäsche, Programmierung, Ausstieg oder Kult sehr selbstverständlich verwendet werden, um die Problematik und die Verursachung zu verdeutlichen. Gleichzeitig bleiben diese Begriffe ohne weitere Erklärungen stehen und bilden damit einen diffusen Rahmen. Rituelle Gewalt wird von vielen Befragten bejaht, teils wird eine religiöse Komponente oder ein satanischer Kontext benannt, wobei auch hier die Begriffe nicht weiter ausgeführt werden. In der Folge wird der Terminus Rituelle Gewalt auch unterschiedlich definiert, beispielsweise als organisierte Kriminalität, internationale Täternetzwerke oder satanische Rituale. Die Abgrenzung zu anderen Formen von Gewalt erscheint eher quantitativ als qualitativ, wenn Rituelle Gewalt allgemein als deutlich schlimmer als „gewöhnlicher Missbrauch“ eingeschätzt wird. Das Geschehen selbst ist bei den Teilnehmenden jedoch auch von Zweifeln und Unsicherheiten geprägt. Somit wird die Beseitigung von Zweifeln essenziell bei der Bewertung von Hilfsangeboten. Deutlich wird jedoch auch der selbstbewusste Anspruch, auf Hilfsangebote Einfluss nehmen und die Behandlung mitgestalten und mitbestimmen zu können. Als hilfreich wird durchweg ein soziales Netz gesehen, welches sowohl aus Familienmitgliedern als auch externen Personen bestehen kann. Daneben wird der Kontakt zu anderen Betroffenen, beispielsweise in Onlineforen, als Selbsthilfeangebot geschätzt. Berichtet wird auch von Widrigkeiten und Wendepunkten in den Lebensläufen, die bei manchen Betroffenen zur Annahme therapeutischer Hilfe führten.

Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden wurde nur von einem kleinen Teil der Befragten gesucht. Insgesamt wird die Strafverfolgung eher negativ betrachtet – vor allem, da nach Ansicht vieler Betroffener ihnen ohnehin kein Glauben geschenkt werde. Teilweise wird die Vermutung angeführt, dass Verfahren bewusst korrumpiert worden seien.

An die Befragung der Betroffenen schließt sich in einem Exkurs ein Interview mit zwei Akteuren im Hilfesystem, einem Kriminalisten und einer Psychiaterin, an. Hier werden insbesondere Unterschiede in der Perspektive und in der Zielsetzung deutlich: Während der Ermittler das Ziel betont, Fakten und Belege zu finden, steht für die Psychiaterin die hilfesuchende Person im Fokus, deren Berichte zu akzeptieren seien und der eine Hilfestellung zur Lebensbewältigung zu geben sei.

In der abschließenden Diskussion stellt die Autorin kritisch die Frage, ob manche Schilderungen zur DIS-Diagnose auf einen sekundären Krankheitsgewinn hindeuten könnten, und bringt auch das Thema Simulation ins Spiel. Während sie bei einem Interview zuvor eigene Zweifel an der Realität der Darstellung hat erkennen lassen, kommt sie insgesamt zu dem Schluss, dass die berichteten Inhalte nicht mit Sicherheit als erlebt oder simuliert einzuordnen seien. Da Zweifel immer wieder eine Rolle spielten, werde der Glaube an das Berichtete zum zentralen Faktor bei der Bewertung von Hilfeformaten, wobei die Betroffenen ihrer Einschätzung nach teilweise Glauben und Glaubhaftigkeit vermischten und damit auch die skeptische Haltung zur Strafverfolgung erklärbar sei. Der hohe Stellenwert von Selbsthilfeangeboten, beispielsweise in Onlineforen, oder von Betroffenenverbänden initiierten Tagungen spiegele jedoch auch das Bedürfnis wider, fachlich ernst genommen zu werden und Problematiken selbstbestimmt angehen zu können.

Zweifelsohne stellt die Studie von Petra Hasselmann einen wichtigen Beitrag in einem unübersichtlichen Themengebiet dar. Die Interviews geben einen kleinen Einblick in die Lebenswelt einer Personengruppe, welche sich von der Mehrheit der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht so isoliert wie unverstanden fühlt. Die Berücksichtigung der Bedürfnisse Betroffener sollte dementsprechend ein zentraler Maßstab bei der Bewertung von Phänomenen im Bereich Rituelle Gewalt und bei der Konzeption von Hilfsangeboten sein. Die Autorin postuliert hier aber auch die Notwendigkeit, sich ebenso mit Zweifeln und Glaubhaftigkeit auseinanderzusetzen und keine reine Fokussierung auf die „Glaubensfrage“ zuzulassen. An manchen Stellen wird dazu passend ersichtlich, dass der Autorin selbst Zweifel am Realitätsgehalt einer Erzählung kamen. Die Ergebnisse der Studie sind allerdings nicht ohne Weiteres zu verallgemeinern. Interessant wäre an dieser Stelle zu erfahren, wie die Autorin selbst ihre Ergebnisse in der Forschung verortet. In jedem Fall wäre weitere Forschung wünschenswert.

Bemerkenswert ist, dass die vorliegende Studie in einer kürzlich erschienenen Empfehlung zum Thema Rituelle Gewalt1  keinerlei Erwähnung bei der Auflistung des Forschungsstandes findet. Dies erstaunt umso mehr, als die Forschungslage auf diesem Gebiet sehr dünn ist und eine Dissertation zum Thema daher umso beachtenswerter erscheint.


Christina Hanauer, München, 01.06.2018

 

Anmerkung

1  Empfehlungen an Politik und Gesellschaft des Fachkreises „Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, http://ecpat.de/wp-content/uploads/2018/04/Fachkreis_Empfehlungen_2018_web-2.pdf.