Weltanschauungsarbeit

„Religion im Pott"

So lautete das Thema der diesjährigen EZW-Exkursion, die 19 Weltanschauungsbeauftragte aus Deutschland und Österreich nach Dortmund führte (8.-10.10.2018).

Zur Einführung stellten zwei Mitarbeitende des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES), Jens Schlamelcher und Maren Freudenberg, Daten ihrer empirischen Forschung über die religiöse Verteilung in NRW vor. Sie zeigten z. B., dass das neureligiöse Spektrum mit etwa 2 % quantitativ kaum ins Gewicht fällt, ihm aber eine große öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwird.

Interessant war die Metaebene dieser Begegnung, trafen hier doch die unterschiedlichen Konzepte weltanschaulicher und religionswissenschaftlicher Arbeit aufeinander. Auch wirkte offensichtlich die frühere stark apologetische Tradition der „Sektenbeauftragten“ noch nach. Damit empirische Daten valide und interpretierbar werden, bedürfe es religionswissenschaftlich sinnvoller Abgrenzungskriterien, etwa, ob Zeugen Jehovas zu Neuoffenbarern gerechnet werden sollten oder wer bei den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft mitzuzählen sei. Dies könne nur dezisionistisch entschieden werden. In der Weltanschauungsarbeit, so wurde deutlich, folgt man nicht selten anderen Kriterien. Diskutiert wurden auch die Ergebnisse zur Entwicklung pfingstlich-charismatischer Gemeinden. Der religionswissenschaftlich sicherlich gebotene Verzicht auf eine inhaltliche Näherbestimmung des Forschungsfeldes aus der Binnenperspektive ihrer Vertreter führt zu einer religionswissenschaftlich distanzierten Außenperspektive, die verhindert, dass man vorschnell Diskurse und Sprachspiele aus der jeweiligen Binnenperspektive übernimmt. Dass man aber wirklich ganz ohne diese Binnensicht auskommt, halte ich für fraglich. Die Unterschiede zu den Erfahrungen aus der Weltanschauungsarbeit waren jedenfalls nicht zu übersehen. Positiv bleibt aber festzuhalten, dass diese Begegnung das Gespräch mit den Religionswissenschaften wieder neu und ohne manche bisherigen Vorurteile eröffnen kann.

Der Fußball hat natürlich für Dortmund eine besondere Bedeutung und bringt nicht selten zumindest religionsähnliche Phänomene hervor. Beim Besuch des christlichen Fanclubs „Totale Offensive BVB 09“ spielte dies kaum eine Rolle. Christlicher Glaube in evangelikaler Prägung steht hier im Mittelpunkt und soll in die Fankultur hineinwirken. So stellte es der SELK-Pfarrer Sebastian Kurz dar, der die Totale Offensive betreut. Beeindruckend war auch die intensive Sozialarbeit des Vereins. Und wer die aufgeheizte Stimmung bei den berüchtigten Derbys mit dem Rivalen aus der Nachbarstadt kennt, ahnt sicherlich, wie bedeutsam die gemeinsamen Gottesdienste mit den Schalker Glaubensgeschwistern sind.

Ebenfalls dem evangelikalen Christentum verpflichtet ist die Arbeit im „Weigle-Haus“ in Essen. Auch hier spielt die soziale Arbeit eine große Rolle. Im multireligiösen Umfeld werden auch Muslime einbezogen. Christliche und muslimische Glaubensvorstellungen prallen dabei aufeinander – mitunter sehr deutlich, wenn in Gesprächen dem jeweils anderen Gericht und Hölle vor Augen gestellt werden. Und trotzdem gehen beide höchst respektvoll miteinander um! Die weltanschauliche Perspektive von Dialog und Unterscheidung wird hier praktisch umgesetzt.

Im „Soul of Africa“-Museum des Ethnologen Henning Christoph lernte die Gruppe zahlreiche Aspekte der Voodoo-Religion in ihrem Ursprungsland Benin kennen – und dass diese nichts mit den bekannten Nadelpuppen zu tun habe. Die seien „eine Erfindung Hollywoods“. Zentral im Voodoo seien Heilungen und das Schaffen und Bewahren dörflicher Ordnungen und Rechte. Aufgrund seiner häufigen Aufenthalte und intensiver Begegnungen hat Christoph kritisches Nachfragen aufgegeben. Voodoo funktioniere, wenn man daran glaube. Der fehlende Abstand zu diesen Phänomenen ließ auch keinen kritischen Blick auf mögliche Schattenseiten zu, sondern Voodoo nur positiv erscheinen. Machtmissbrauch und Ängste wurden ausgeblendet. Fremde Einflüsse wie der Islam oder das pentekostale Christentum lehnte Christoph ab, angestammte Religionen wie der Voodoo seien stattdessen beizubehalten. Auch wenn es im Bewahren indigener Kulturen sicherlich noch viel nachzuholen gilt, erschien diese Perspektive doch als zu einseitig.

Zu „Sekten-Info NRW“ (Essen), der staatlichen Beratungsstelle, pflegt die kirchliche Weltanschauungsarbeit schon lange ein vertrauensvolles Verhältnis. Die Arbeit wird getragen von zwei Theologen, darunter die Leiterin Sabine Riede, einer Psychologin und einer Juristin; sie ist somit auch interdisziplinär breit aufgestellt.

Spannend wurde es, als es um das Phänomen der induzierten Erfahrungen ging: Eine Frau berichtete eindrucksvoll, wie ihr in ihrer Therapie eine frühkindliche Missbrauchserfahrung und eine dissoziative Persönlichkeitsstörung suggeriert wurden. Die anschließende Diskussion zeigte, dass eine solche Diagnose immer häufiger gestellt und von einer zunehmenden Zahl von Traumatherapeuten auf einen rituellen Missbrauch, meist durch satanische Gruppen, zurückgeführt wird. Einer solchen hoch problematischen Deutung müsse man öffentlich entschieden entgegentreten.

Abends in Dortmund ging es mit düsteren Themen weiter: Die bekannte Kriminalpsychologin Lydia Benecke, selbst mit einer starken Affinität zur Gothic-Szene, referierte über die Real-Life-Vampyre-Subkultur (das „y“ im Namen ist deren Erkennungsmerkmal). Diese zahlenmäßig kleine Gruppe innerhalb der Gothic-Szene nehme sich in ihrer Selbstwahrnehmung als Vampire wahr. Sie kommuniziere und organisiere sich über internationale Internetforen. Auch Life-Action-Rollenspiele („Pen & Paper“) spielten dabei eine große Rolle. Einige glaubten, die „Energie“ ihrer Mitmenschen saugen zu müssen, andere regulierten ihre Stimmung mit dem Konsum kleiner Mengen Blut, das sie vornehmlich von freiwilligen menschlichen Spendern, sogenannten „Donoren“, erhalten würden. Aus psychologischer Sicht reflektierte Benecke über mögliche Gefahren dieser Gruppen, wenn etwa bei ihren Vertretern posttraumatische Belastungsstörungen nicht erkannt und behandelt werden. Das sei besonders bei den bluttrinkenden Gruppen wie dem Nexus Noctis offensichtlich der Fall.

In der letzten Begegnung der Exkursion stellte Pia Wick ihr Konzept eines „christlichen Yogas“ vor. Auch als klassisch ausgebildete Yoga-Lehrerin bleibt sie überzeugte Christin. Dies war das überraschend Neue an ihrem Ansatz: Es ging nicht um ein „Yoga auch für Christen“ oder um ein Einebnen der Unterschiede zum Hinduismus. Pia Wick sucht als Christin eine Beziehung zwischen Körper und Religiosität und findet sie in der Leiborientierung biblischer Texte. Dort gelte: Wir haben nicht einen Körper, wir sind ein Körper. Unsere Körper sind keine Objekte, sondern „Tempel“. Und Yoga-Übungen unterstützen diese Botschaft der Bibel, uns als Tempel wahrzunehmen. Das Ziel christlichen Yogas sei nicht wie im Hinduismus, sich ganz zu entleeren, sondern es will aufbauen und aufrichten. Ob man dies sinnvollerweise noch Yoga nennen sollte, ob es „christlichen“ Yoga überhaupt geben könne, wurde anschließend diskutiert. Auf jeden Fall ist es eine Möglichkeit, dem spirituellen Suchen der Menschen nach ganzheitlicher Erfahrung christlich angemessen zu begegnen. Es lohnt sich, diesen Weg weiter zu verfolgen.

Die Exkursion der Weltanschauungsbeauftragten ermöglichte sehr intensive Begegnungen und Diskussionen. Sie hat, so resümierte Reinhard Hempelmann, „ein großes und aktuelles Themenspektrum unserer Arbeit berührt mit sehr besonderen Begegnungen in der Ruhrgebietsregion“.


Andreas Hahn, Dortmund