Michael Teut / Martin Dinges / Robert Jütte (Hg.)

Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland

Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019, 139 Seiten, 36,00 Euro.

Der Sammelband besteht aus zehn Beiträgen und einem Editorial und ist als Beiheft 71 des Jahrbuchs des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung erschienen. Die Publikation ist Ergebnis der Tagung „Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland“, veranstaltet vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin sowie der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ im Juni 2018.

Die Tagung war interdisziplinär angelegt, entsprechend stammen die Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Disziplinen mit je eigenen theoretischen Perspektiven und methodischen Zugangsweisen zum Themenfeld Medizin und Religion (Volkskunde/Europäische Ethnologie, Medizingeschichte, Psychologie, Religionswissenschaft, Medizinethnologie, Allgemeinmedizin). Neben der Transdisziplinarität besteht seitens der Autorinnen und Autoren auch eine unterschiedliche Nähe zum Feld, sodass grob zwischen Perspektiven von Wissenschaftlern, Praktikern-Wissenschaftlern und Praktikern unterschieden werden kann. Die Herausgeber Dinges, Jütte und Teut stellen die These eines Spannungsverhältnisses von Religion und Medizin in der Gegenwart voran, in der dementsprechend auch die Kontroversen um religiöses Heilen in der Gegenwart einzuordnen sind. Dann erfolgt eine kurze, aber luzide Darstellung der historischen Entwicklung konfliktiver und nicht-konfliktiver Beziehungen zwischen Kirche, Ärzteschaft und Staat. Ebenso vielfältig sind die Reaktionen von Klienten und Patienten auf die Entwicklung des modernen deutschen Gesundheitswesens unter staatlicher Kontrolle seit dem 19. Jahrhundert.

Thematisch umspannen die einzelnen Beiträge verschiedenste Praktiken „religiösen Heilens“: Gesundbeten, Besprechen, Geistheilen, Spiritual Healing, Fernheilung, spiritualitätssensible Psychotherapie, Maly-Meditation, Therapeutic Touch, Exorzismus etc. Die Leser des Bandes bekommen so nicht nur einen umfassenden Eindruck von der Vielfalt der Praktiken, ihrer sozialen Situiertheit, ihrer jeweiligen weltanschaulichen Rahmung, sondern auch von den unterschiedlichen Arten und Weisen, wie man diese erforschen kann. Besonders spannend sind die volkskundliche Studie von Anita Chmielewski, der archivarische Bericht von Nadine Kulbe sowie die sozialwissenschaftliche Studie von Barbara Stöckigt, Florian Jeserich et al. Auch der Bericht von Michael Utsch, was sich in den psychotherapeutischen Berufsverbänden global im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit einer multireligiösen Klientel tut, ist äußerst informativ.

Wie im Tagungsbericht bereits bemerkt,1 krankt der Band daran, dass sich in den Einzelbeiträgen nicht bei allen ein systematischer Bezug zur Rahmenthese findet und damit die Suche nach einer Erklärung für bzw. das Einordnen in das postulierte Spannungsfeld Religion und Medizin ausbleibt.

Viel schwerer wiegen allerdings drei Dinge. 1. Angesichts der disziplinären Vielfalt der Autorinnen und Autoren und des ganzen Spektrums von eher emischen bis hin zu etischen Perspektiven hätte man sich zumindest für den Tagungsband über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Definitionen der verwendeten Arbeitsbegriffe verständigen sollen. Was „Religion“, „Magie“, „Aberglaube“, „Spiritualität“ in den jeweiligen Studien meint, wird selten expliziert. Dabei thematisieren Religionswissenschaft und Religionssoziologie seit mehr als einhundert Jahren genau solche Definitionsprobleme. Forschungsergebnisse aus diesem Bereich werden jedoch scheinbar nicht rezipiert. Positiv davon auszunehmen sind die Beiträge von Jeserich et. al., Stöckigt et al. sowie Chmielewski, welche zum einen Arbeitsdefinitionen liefern und zum anderen bei den Fallbeschreibungen durch besondere Sprachsensibilität und Präzision auffallen.

2. Die Schwammigkeit hinsichtlich der benutzten Begrifflichkeiten wird m. E. mit dadurch hervorgerufen, dass die hochgradig verschiedenen Wissenschaftsverständnisse der Verfasserinnen und Verfasser (kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, naturwissenschaftliche etc.) nicht dargelegt werden.

3. Während in den meisten Beiträgen hinsichtlich der Diversität der heilkundlichen Ideen, Praktiken und Akteure adäquate, die Komplexität abbildende Begrifflichkeiten benutzt werden, nimmt diese sprachliche Differenziertheit ab, sobald sich die Praktiken oder Akteure im Bereich „Heilung mit Transzendenzbezug“ im weitesten Sinne bewegen. Beschreibungen wie „fatale Sehnsucht nach pseudoreligiöser Massensuggestion“, „parareligiöse Vergemeinschaftungen“, „sektiererische Glaubensgemeinschaft“, „Grauzone zwischen Gesundbeten und Besprechen“, „schwarzmagische Erpressungsversuche“ oder eine „Esoterikwelle … spülte“ tragen jedoch nicht nur nichts zur Erhellung des jeweiligen Falls für die Leser bei, sondern sie sind auch noch hochgradig pejorativ, denn sie reproduzieren die uralten Unterscheidungen zwischen „richtiger“ und „falscher“, zu „extremer“ und „kommoder“ Religion bzw. zwischen Magie und Aberglaube versus Religion und schwimmen damit teilweise im Fahrwasser klassischer Sektendiskurse.

All das anzukündigen, zu kommentieren und einzuordnen, wäre Aufgabe der Herausgeber gewesen wie im Übrigen auch eine wissensgeschichtliche oder wissenssoziologische Einordnung der Debatten. Die Soziologie bietet zudem verschiedenste Modelle an, um solche konflikthaften oder nicht-konflikthaften Konstellationen zu beschreiben. Die Beziehungen zwischen den Feldern Religion und Medizin werden angesichts ihrer Komplexität erst verständlich, wenn man sie nicht nur aus der Perspektive der Medizingeschichte intensiv beleuchtet, sondern zugleich genauso intensiv aus der Perspektive der Religionsgeschichte Deutschlands.2 So bleiben die Leserinnen und Leser angesichts dieses spannenden Themenbereichs mit mehr Fragen als Antworten zurück.


Bernadett Bigalke, Leipzig, 05.05.2020


Anmerkungen

  1. Vgl. Pierre Pfütsch: Tagungsbericht „Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland“, 7.6.2018 – 8.6.2018, in: HSoz-Kult 3.7.2018.
  2. Eine solche Studie ist bspw. Stephanie Gripentrog: Anormalität und Religion. Zur Entstehung der Psychologie im Kontext der europäischen Religionsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Würzburg 2016.