Michael Hausin

Rechtliche Herausforderungen in einer sich wandelnden religiösen Landschaft

Bis zum 11. September 2001 stand der Artikel 4 des Grundgesetzes kaum im Rampenlicht öffentlicher Diskussionen. Die Kooperation zwischen Staat und Volkskirchen wie auch größeren Freikirchen verlief weitestgehend friedlich und unaufgeregt. Zur Religionsfreiheit gab es gelehrte Aufsätze, das Staatskirchenrecht regelte das Miteinander. Wenn es nötig war, gab es informelle Absprachen. Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gehörten (und gehören) zu den festen Maximen der Bundesrepublik. Ein laizistischer Ansatz mit dem Ziel, Religion aus der Öffentlichkeit zu drängen, war nicht zu erkennen. Und die kirchliche Einflussnahme auf das politische Geschehen ging über übliche Lobbyarbeit nicht hinaus.Diese abgeklärte Ruhe ist vorbei. Heinrich Wefing schreibt in der ZEIT, dass die Religionsfreiheit „wieder ein heißer, leidenschaftlich umkämpfter Stoff“1 sei. Die Auseinandersetzungen um Moscheebauten, das mögliche Verbot der Verschleierung, die Diskussion um islamischen Religionsunterricht, dazu beunruhigende Meldungen über Ehrenmorde und totalitäre Indoktrination in islamischen Zentren haben die Frage nach den Grenzen der religiösen Betätigung und der sichtbaren Äußerung religiöser Überzeugungen in der Öffentlichkeit neu entfacht.So beschäftigte sich der Deutsche Juristentag im September 2010 schwerpunktmäßig mit dem Thema, wie Staat und Rechtsordnung auf Religionskonflikte antworten sollen. Die etwa 3000 Juristen, die in Berlin konferierten, trugen damit der Veränderung der religiösen Landschaft Rechnung. Auf der Grundlage eines Gutachtens von Christian Waldhoff2, Professor für Öffentliches Recht in Bonn, diskutierten sie die rechtlichen Herausforderungen, die vor allem aus der bleibenden Anwesenheit des Islam in Deutschland entstehen, und untersuchten, ob die religionsrechtlichen Bestimmungen des deutschen Rechts noch angemessen sind.Das deutsche Staatskirchenrecht regelt das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. Es ist ein über Jahrzehnte gewachsenes, ausgearbeitetes und durchdachtes System von Gesetzen, Verfassungsgrundsätzen und Verordnungen. Aufgrund der Veränderung der religiösen Bekenntnisse wird immer wieder diskutiert, ob es nicht besser „Religionsverfassungsrecht“ heißen sollte. Das Staatskirchenrecht entstand in den Auseinandersetzungen des Staates mit den großen Kirchen und ist deshalb großenteils auf christliche Gemeinschaften zugeschnitten. Eine in der Gegenwart und der Zukunft wichtige Frage wird sein, wie der Islam als Religionsgemeinschaft in das Staatskirchenrecht integriert werden kann. „Der Islam wird zwar auch mittel- und langfristig nicht zur Mehrheitsreligion, hat jedoch bereits heute eine Stärke erreicht, die seine religionsrechtliche Ignorierung untunlich erscheinen lässt“, so Waldhoff.3 Nach Einschätzung von Religionswissenschaftlern wird der Anteil der Christen an der Bevölkerung in Deutschland um 2025 unter 50 Prozent fallen; zurzeit dürften es noch 60 Prozent sein.4

Ausgangspunkt: die staatliche Neutralität

Das Religionsrecht steht unter der vorausgesetzten religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Das Verfassungsgericht hat dazu in mehreren Urteilen ein Konzept entwickelt, bei dem unter Neutralität kein schroffes Gegenüber zur Religion zu verstehen ist. „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gebietet auch in positivem Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern. Der Staat darf lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden.“5 Die staatliche Neutralität ist also wohlwollend, freundlich und fördernd den Religionen gegenüber. Bei Konflikten zwischen religiösen Überzeugungen und der Verfassungsordnung darf der Staat das tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft und ihrer Anhänger bewerten, nicht aber den Glaubensinhalt.6 Das Handeln der Religionsgemeinschaft im öffentlichen Raum ist durchaus bewertbar; im Rahmen einer wehrhaften Demokratie darf Aktionen und Ansprüchen von Religionen auch aktiv entgegengetreten werden.

Keine Rolle bei der Bewertung einer Religion spielt hingegen, ob die religiöse Bewegung sich auf eine Tradition in Deutschland oder Europa berufen kann. Es kann nur in den Blick kommen, ob die Religionsgemeinschaft in ihren Handlungen „mit den Grundwerten der Verfassungsordnung in Einklang steht“7. Eine Bewertung der religiösen Dogmatik bleibt dem Staat verwehrt, für die Wahrheitsfrage, also die Religionsinhalte, ist er nicht zuständig. Zur Lösung der Wahrheitsfrage fehlen ihm schlicht „Fähigkeit und Kompetenz“.8 Es liegt an den Religionsgemeinschaften und ihren Mitgliedern, sich innerhalb der von der Verfassung gegebenen Grenzen einzurichten. Einigen gelingt das ohne Mühe, andere werden sich öfter an Verfassungsvorgaben stoßen. Das ist aber selbstverständlich. Niemand kann verlangen, dass „die politische und gesellschaftliche Ordnung in einer Weise eingerichtet wird“, die den Überzeugungen, Bedürfnissen und Lebensformen jeder Religionsgemeinschaft „in besonderer Weise entgegenkommt“.9 Das Neutralitätsgebot der Verfassung bezieht sich, noch einmal gesagt, nicht auf die Inhalte der Religionen, sondern auf deren feststellbare Auswirkungen in der Gesellschaft. In seinen Abschiedsbeschlüssen hält der Deutsche Juristentag fest: „Die wohlwollende Neutralität endet, wenn ein Grundrechtsträger sich aktiv gegen die rechtsstaatliche Ordnung wendet.“10

Religiöse Konfliktlinien

Religiöse Konflikte zeigen sich zwischen Religionen, innerhalb von Religionen (Konfessionsstreitigkeiten), zwischen Religionsgesellschaften und ihren Mitgliedern und schließlich zwischen dem Staat und Religionsgruppen.Religionskonflikte, die aus dem Widerspruch zwischen der staatlichen Rechtsordnung und religiösen Vorschriften erwachsen, sind nie auszuschließen. „Der grundlegende Konflikt zwischen dem Staat und einer Religion / Religionsgemeinschaft resultiert aus wechselseitigen Letztentscheidungsansprüchen“11, in denen der Berliner Politikwissenschaftler Karsten Fischer eine „Provokation der Religion“12 gegenüber dem liberalen Verfassungsstaat sieht. Die Konfliktlinien sind nicht immer eindeutig gezogen. Christian Waldhoff sieht eine wesentliche Entschärfung darin, dass die Religionen die Säkularität des Staates anerkennen und sich auf die transzendente Sphäre der Religion beschränken.13 Doch genau in dieser Beurteilung liegt ein Konfliktpotenzial. Um in christlicher Terminologie zu sprechen: Was des Kaisers ist und was Gottes, kann sich ändern und steht nicht kanonisch fest. Jede Religion, die Handlungsanweisungen und Verhaltensmaximen für das Alltagsleben vorgibt, steht vor dem „Problem des Ausgleichs oder Zusammenführens weltlich-politischer und geistig-religiöser Angelegenheiten“14. Der westliche Verfassungsstaat hat mit der Anerkennung der Religionsfreiheit ein Kooperationsfeld eröffnet, aber jederzeit können auch Konflikte entstehen. Die medial begleiteten Fälle drehen sich vorwiegend um religiös motivierte Schulverweigerer. Es gibt christliche und muslimische Eltern, die ihre Kinder entweder ganz der staatlichen Schule entziehen wollen (Homeschooling-Bewegung) bzw. nur erreichen wollen, dass sie bestimmten Fächern wie Sport- oder Sexualkundeunterricht fernbleiben dürfen. Die Rechtsprechung lehnte bisher zumeist religiös geführte Ansprüche auf Befreiung vom Unterricht oder gar von der Schulpflicht ab. Das Thema zeigt, wie aus einer vernünftigen Regelung zur Bildung ein heiß umstrittener Konflikt werden kann.Der Staat, so viel steht fest, darf auch Fundamentalisten und Sektierer nicht ihres Glaubens wegen beeinträchtigen, so absurd dieser Glaube auch erscheinen mag. Er darf nur etwaige Verstöße gegen die Rechtsordnung ahnden und notfalls bestrafen. „Nur so kann die religiös-weltanschauliche Neutralität und damit Säkularität des Staates erhalten bleiben.“15Die Konflikte zwischen Religionen oder innerhalb der Religionen stellen den Staat immer wieder vor Schwierigkeiten. Hier zeigt sich das typische verfassungsrechtliche Dreiecksverhältnis, bei dem der Eingriff des Staates zum Schutz des einen stets ein Eingriff in die Rechte des anderen ist.Immerhin, in Deutschland spielen solche Auseinandersetzungen kaum eine Rolle. Weder zwischen den christlichen Kirchen und dem Islam noch zwischen Katholiken und Protestanten stehen Streit und antagonistische Polemiken. Auch kontrovers diskutierte kirchliche Verlautbarungen, etwa die vatikanische Erklärung „Dominus Jesus“, die den evangelischen Kirchen den Status der Kirche abspricht, oder die EKD-Handreichung „Klarheit und gute Nachbarschaft – Christen und Muslime in Deutschland“ rühren nicht an die staatsbürgerlichen Rechte des jeweiligen Gegenübers. Es handelt sich um Klarstellungen, die den anderen gleichwohl nicht in seiner Menschenwürde oder Rechtsstellung verletzen. Ein denkbarer Fall wäre die Klage muslimischer Eltern oder Schüler gegen Kreuze im Klassenzimmer. Hier müsste das Verfassungsgericht entscheiden, ob es die negative Religionsfreiheit der Muslime, nicht von andersreligiösen Symbolen „belästigt“ zu werden, höher veranschlagt als die positive Religionsfreiheit der Christen auf Ausdruck ihrer Religion.

Der Islam als Körperschaft des öffentlichen Rechts?

Das Staatskirchenrecht kennt das Institut der Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR), das 1919 mit der Verabschiedung der Weimarer Verfassung geschaffen wurde. Katholische und evangelische Kirchen, viele Freikirchen und die Jüdische Kultusgemeinde gelten heute als „geborene Körperschaften“, da sie diesen Status bereits seit 1919 innehaben. Aber auch kleinere Religionsgemeinschaften und nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften besitzen den Körperschaftsstatus, etwa die Heilsarmee oder der Bund für Geistesfreiheit Bayern oder neuerdings die Zeugen Jehovas in der Mehrzahl der Bundesländer. Dem Wortlaut der Verfassung nach können alle Religionsgemeinschaften den Körperschaftsstatus beantragen, sofern sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, etwa „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“16.Eine ungeschriebene Voraussetzung für die Gewährung des Körperschaftsstatus ist die Verfassungs- und Rechtstreue.17 „Die Kompatibilität mit Aussagen der Verfassungs- und Rechtstreue überführt die Loyalitätsprüfung in eine juristische Argumentation.“18 Damit ist der Staat bei einer Prüfung davon befreit, Dogmen der Religionsgemeinschaft zu bewerten, wozu ihm ohnehin Kompetenz und Autorität fehlen. Wer den Körperschaftsstatus verlangt, muss einsichtig darlegen, dass es sich um eine Religion handelt, die verfassungstreu agiert und wahrscheinlich auf Dauer in Deutschland auftritt.Auch der Islam kommt grundsätzlich für den Körperschaftsstatus infrage. Die aktuellen Bestrebungen der Politik zeigen ein Zugehen auf den Islam und den Versuch, die Muslime mithilfe verschiedener islamischer Funktionsträger weitgehend in die deutsche Rechtsordnung einzubinden. Das öffentlichkeitswirksamste Ereignis ist die 2006 als ein Forum des Dialogs zwischen Staat und Muslimen ins Leben gerufene Deutsche Islamkonferenz (DIK).Das größte Hindernis besteht in der Organisation des Islam selbst. Dem Staat fehlt schlicht das legitimierte Gegenüber, wie er es etwa in der Deutschen Bischofskonferenz, den Bistümern oder dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bzw. den Landeskirchen hat. Mit wem sollen staatliche Vertreter verhandeln, gar rechtsverpflichtende Verträge abschließen? Die mitgliederstärkste islamische Organisation beispielsweise, die DITIB, kann nur für die türkischen Sunniten sprechen und ist zudem als ein Auslandsarm des türkischen Religionsministeriums zu betrachten. Daneben gibt es arabische Sunniten, Schiiten, nicht zu sprechen von den Aleviten, bei denen umstritten ist, ob sie „nur“ eine islamische Konfession oder eine eigenständige Religionsgemeinschaft sind, und andere Gruppierungen. Auch bei wohlwollender Schätzung können nur etwa 20 Prozent der in Deutschland lebenden vier Millionen Muslime als organisiert gelten.19 Weder der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) noch der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) können einen überzeugenden Anspruch auf Vertretung der Mehrheit der Muslime erheben.

Das stellt Absprachen mit den vorhandenen islamischen Verbänden bisher grundsätzlich vor ein Legitimationsproblem.Ein Streit zwischen zwei jüdischen Organisationen in Brandenburg zeigt, welche Rechtsstreitigkeiten ins Haus stehen können. Das Land Brandenburg hatte Fördermittel für jüdische Gemeinden an den Landesverband der Jüdischen Gemeinden gegeben, der Körperschaftsstatus genießt – mit der Auflage, die Gelder „angemessen“ zu verteilen. Der Landesverband gab die Gelder nicht an nichtkorporierte Verbände weiter. Die orthodoxe Jüdische Gemeinde im Land Brandenburg klagte daraufhin vor dem Verfassungsgericht. Mit dem Urteil, dass das Land Brandenburg selbst die Verteilung der Fördermittel übernehmen muss, hat das Verfassungsgericht die Handlungsmacht des Staates gegenüber Religionsgesellschaften gestärkt. Andreas Möller warnte in der FAZ: „Der Staat wird zum Schiedsrichter und Organisator religionsinterner Verteilungskonflikte.“20 Das heißt aber auch, dass Konflikte innerhalb von Religionsgemeinschaften die Neutralitätspflicht des Staates herausfordern, ihn u. U. sogar in Bedrängnis bringen. Die Verteilungskonflikte zwischen muslimischen Religionsgruppen, bei denen staatliche Stellen dann autoritativ entscheiden müssen, an wen Gelder fließen, sind vorprogrammiert.Es wird den Muslimen in Deutschland nicht erspart bleiben, im Blick auf Mitgliederzahlen und Strukturen berechenbare religiöse Dachverbände zu gründen, deren Mandat für die Vertretung der Muslime hierzulande plausibel zu machen ist. Das ist aber eine Aufgabe, die den Muslimen obliegt und die ihnen der Staat nicht abnehmen kann.

Hinzu kommt im Blick auf den Körperschaftsstatus ein möglicher ideologischer Konflikt, der damit zusammenhängt, dass unter Muslimen Vorbehalte gegenüber einer transparenten Trennung zwischen Staat und Religion verbreitet sind. Dies hat historische und normative Gründe. Der islamische Prophet Mohammed war „sein eigener Konstantin“21, wie es der Islamwissenschaftler Bernard Lewis prägnant formuliert. Mohammed war zugleich religiöser und politischer Führer, die Muslime waren in gleicher Weise Staatsvolk und „auserwähltes“ religiöses Volk. Dies spiegelt sich im Koran und in der islamischen Überlieferung. Die real verlaufene islamische Geschichte allerdings zeigt den Islam sehr anpassungsfähig und kennt durchaus eine Reihe von Ansätzen zur säkularen Weltdeutung, die neu aufgegriffen oder weiterentwickelt werden könnten.Christian Waldhoff prognostiziert, dass die mangelnde Organisationskraft des Islam es unwahrscheinlich mache, dass der Islam in absehbarer Zeit einen anerkennungsfähigen Dachverband zustande bringe. Er schlägt deshalb vor, ein neues Rechtsinstitut, den österreichischen Bekenntnisgemeinschaften ähnliche Vereine, zuzulassen. Die Bekenntnisgemeinschaft wäre unterhalb der KdöR angesiedelt, aber höher als die privatrechtlichen Vereine, die Religionsgemeinschaften oft bilden. Waldhoff unterstellt, der Islam müsste sich inhaltlich radikal ändern, um in den Genuss der Körperschaftsrechte zu kommen. „Also er würde sich als Religion verändern, indem er auf ein staatliches Angebot, Körperschaftsstatus, eingeht, das kann aber nicht Sinn des Religionsrechts sein, denn der Staat muss die Religionen mehr oder weniger so akzeptieren, wie sie sind. Und wenn man dann erkennt, der Islam wird sich realistischerweise niemals soweit verändern können, das ist auch gar nicht sinnvoll, dass er diesen Körperschaftsstatus erhält, dann sollte man ihm aber eine adäquate, ähnliche Organisationsform zur Verfügung stellen.“22 Für „ernsthafte Weltreligionen“, so Waldhoff weiter, sei es unbefriedigend, „mit Kegelclubs, dem ADAC und irgendwelchen Betriebssportvereinen auf einer Stufe“23 zu stehen. Die neue Vereinsform wäre also ein weiteres Zugehen auf den Islam, das ihm eine höhere Respektabilität zuweisen würde, ohne dass er sich in existenzieller Weise zu ändern brauchte. Dieser Vorschlag wurde vom Juristentag mehrheitlich abgelehnt.

Islamischer Religionsunterricht

Zur Erteilung von Religionsunterricht braucht der Islam nach herrschender Rechtsmeinung keinen Körperschaftsstatus. Es gelten allerdings ähnliche Vorbedingungen wie zu dessen Erlangung. Die Deutsche Islamkonferenz hat beschlossen, daran zu arbeiten, islamischen Religionsunterricht in ganz Deutschland einzuführen. Da der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach ist, muss er die pädagogischen und wissenschaftlichen Standards erfüllen, die für ein Schulfach gelten. Das erfordert auch entsprechend ausgebildete Religionslehrer. An den Universitäten Tübingen und Münster/Osnabrück entstehen derzeit Zentren mit umfassenden Curricula für islamische Studien. Bereits in diesem Jahr werden die ersten Studenten beginnen können.In mehreren westdeutschen Bundesländern werden bereits Modellversuche mit islamischer Religionskunde unternommen. Die unterschiedlichen Ansätze machen das Problem des Fehlens eines geeigneten Ansprechpartners, der die bekenntnisorientierten Inhalte festlegt, noch einmal deutlich. Der Religionsunterricht, eine staatliche Veranstaltung, wird inhaltlich von den Religionsgemeinschaften bestimmt. Er ist mehr als bloße Religionskunde. Die mangelnde Organisationsstruktur des Islam hat bisher verhindert, dass die Modellversuche zu einem ordentlichen islamischen Religionsunterricht geführt hätten. In Nordrhein-Westfalen z. B. hatte die Uneinigkeit der Muslime zur Folge, dass das Land allein für den Islamkundeunterricht verantwortlich ist. Konsequenterweise ist das Fach auch religionskundlich ausgerichtet und nicht bekenntnisorientiert. Seit 2008 gibt es dort auf Antrag der Aleviten einen separaten alevitischen Religionskundeunterricht, wie schon seit 2002 in Berlin und seit 2006 in Baden-Württemberg. Alle bisherigen Einrichtungen von Islamkunde sind Übergangsformen, Experimente, bis es gelingt, alle Voraussetzungen für die Einrichtung und Erteilung von islamischem Religionsunterricht zu schaffen.

Der Deutsche Juristentag hat in einem Entschluss festgelegt, dass Staat und Religionsgemeinschaften auf die Einrichtung islamischen Religionsunterrichts hinwirken sollen. Die auf Dauer unbefriedigende Lage, dass bisher nur bedingt islamischer Religionsunterricht erteilt wird, rührt daher, dass das Regelmodell aus Art. 7 Abs. 3 GG mangels Lehrkräften, mangels Ansprechpartner auf islamischer Seite und aus Erfahrungsmangel noch nicht verwirklicht werden kann. Die bisherigen Modellversuche, vor allem der mancherorts praktizierte Unterricht in türkischer Sprache, dürfen aber nicht zur Norm werden. „Die übergreifende Problematik dieser Projekte besteht darin, dass die Lehrinhalte letztlich in der Verantwortung des Staates liegen, welchem bekanntermaßen nach dem Neutralitätsprinzip die Kompetenz dazu fehlt. Ein solcher Verstoß gegen das grundgesetzliche Konzept des Religionsrechts kann nicht ohne weiteres mittels Hinweis auf faktische Zwänge gerechtfertigt werden ... Ebenso wenig rechtfertigt die positive Resonanz aus den Reihen der muslimischen Gemeinden..., insbesondere der Schüler, Eltern und Lehrer die Verletzung von Verfassungsprinzipien. Der Staat hat sich zu entscheiden zwischen von ihm verantworteter konfessionsneutraler Religionskunde oder aber konfessionsgebundenem Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG. Nur im ersteren Falle ist ihm die Gestaltung von Lehrplänen in seiner Verantwortung gestattet.“24


Michael Hausin, Uhldingen-Mühlhofe


Anmerkungen

1 Heinrich Wefing, Ein Kulturkampf findet nicht statt, in: Die Zeit, Nr. 40 (2010), 70.

2 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, 2010, www.jura.uni-bonn.de/fileadmin/Fachbereich_Rechtswissenschaft/Einrichtungen/Institute/Kirchenrecht/WS_10_11/djt-gutachten/.pdf .

3 Ebd., 6.

4 Vgl. Statistik der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit_Bevoelkerung__1950-2008.pdf. Die selbstverständliche Tatsache, dass es keine (territoriale) Bestandsgarantie für eine bestimmte Religion oder Konfession gibt, erfahren die Kirchen und Millionen Menschen, die ihnen nahe stehen, gerade schmerzlich

.5 www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20030924_2bvr143602.html.

6 Vgl. www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20001219_2bvr150097.html.

7 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 39. Die Feststellung von Bundespräsident Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, ist so gesehen eine nette Geste, hat aber verfassungsrechtlich keine Bedeutung. Denn auch wenn der Islam nicht zu Deutschland gehörte, wäre seine Anwesenheit nur durch sein Verhalten gegenüber den Verfassungsgrundsätzen zu beurteilen, nicht nach seiner kulturellen Nähe oder Fremdheit. Die Staatskirchenartikel der Weimarer Verfassung, die in Art. 140 zum Bestandteil des GG gehören, sprechen konsequent von Religionsgesellschaften und Weltanschauungen, nicht von Kirchen. Damit wird deutlich, dass die Republik in kultureller Weise ein „christlicher Staat“ sein kann, rechtlich aber diesem Konzept eine Absage erteilt ist.

8 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 40.

9 Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, 118.

10 Deutscher Juristentag, Beschlüsse 2010, 12.

11 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 44.

12 Karsten Fischer, Die Zukunft einer Provokation: Religion im liberalen Staat, Berlin 2009.

13 Vgl. Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 45.

14 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt a. M. 1999, 262.

15 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 45.

16 Art 140 GG in Verbindung mit Art 137 (5) WRV.

17 „Eine Religionsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben will, muss insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet“ (BVerfGE 102,370, www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20001219_2bvr150097.html).

18 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 49. Verfassungstreue heißt nicht Staatstreue. Ob die Religionsgemeinschaft eher quietistisch oder aktivistisch agiert, bleibt ihr völlig unbenommen.

19 Vgl. „Muslimisches Leben in Deutschland“ (Bundesinnenministerium, www.bmi. bund.de).

20 Andreas Möller, Der Staat als Schiedsrichter wider Willen, in: FAZ vom 13.8.2009, 30.

21 Bernard Lewis, Die Wut der arabischen Welt, Frankfurt a. M. 2003, 29.

22 www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1281196/.

23 Ebd.

24 Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, a.a.O., 82.