Georg Schmid

Ravi Shankar und die glücklichen Menschen

Sri Sri (Titel, etwa: „heilig, heilig“) Ravi Shankar – nicht zu verwechseln mit dem Musiker Ravi Shankar – wurde 1956 in Papanasam in Südindien geboren. Der „höchste Lehrer der Erleuchtung“, wie er auch genannt wird, lehrt seit den 1980er Jahren die „Kunst des Lebens“ (Art of Living), ein „Glücksverwirklichungsprogramm“ auf der Basis einer von ihm entwickelten Atemtechnik. Im Ashram gleichen Namens hat Georg Schmid den Guru besucht. (Vgl. auch den Bericht über Sathya Sai Baba in der letzten Ausgabe des MD.)


„Sie müssen unbedingt Sri Sri Ravi Shankar besuchen, er ist heute aktueller als Sai Baba. Viele Besucher aus dem Westen kommen seinetwegen nach Bangalore“, meint mein Gesprächspartner am „United Theological College“ in Bangalore im Süden Indiens. Als Dozent für Praktische Theologie beobachtet er auch das spirituelle Umfeld, in dem seine Studierenden arbeiten werden. Die Gurus der Gegenwart sind für ihn das Phänomen im zeitgenössischen Hinduismus, das besondere Aufmerksamkeit verdient. Die Gurus des 20. und des 21. Jahrhunderts weiten hinduistische Spiritualität fast bis ins Gegenteil dessen aus, was sie einmal war, und kombinieren in ihren Angeboten noch ungenierter als ihre Vorgänger fast alles mit fast allem – Hauptsache, das Programm dient aus ihrer Sicht der spirituellen Entfaltung des Menschen. Ihre Ashrams könnte man Laboratorien für einen neuen, einen spirituell transformierten Menschen nennen.Ich habe als Christ allen Grund, Orte zu besuchen, in denen neues, glückliches Menschsein angestrebt wird. Denn zum einen ist die Sehnsucht nach einem anderen, einem neuen, einem von Grund auf transformierten Menschsein in der religiösen Gegenwart nach wie vor fast mit Händen zu greifen. Die religiöse Gegenwart lernen wir kennen, wenn wir uns auf diese Sehnsucht einlassen. Und zum anderen ist neues, glückliches Menschsein seit den Tagen des Meisters von Nazareth auch ein zentral christliches Thema. Beginnt nicht schon die Bergpredigt mit einem Loblied auf selige oder – anders formuliert – auf glückliche Menschen? Vielleicht gelingt es anderen heute besser als uns Kirchenchristen, nicht nur ein Lächeln auf das Gesicht ihres Nachbarn zu zaubern, sondern schlichtes Glück ins Herzen der Menschen zu gießen.

Das Ashram-Gelände

Am nächsten Tag fahren wir in einer Motor-Riksha entlang der Kanakapura Road in die südlichen Vororte von Bangalore. Unser Fahrer hält vor dem immensen Gelände von Ravi Shankars Ashram. Zuerst stehen wir vor großen Reklamewänden, auf denen den Anhängern Wohnungen zum Kauf angeboten werden. Überall wird gebaut. Genug Raum ist vorhanden. Aber schon der bisherige Ashram entwickelt sich zur kleinen Stadt. Zum Ashram gehören außer dem Tempel u. a. Läden, ein Café, ein Informationszentrum, ein Ayurveda-Zentrum, ein Krankenhaus und Unterkünfte für große Besucherscharen. Weil sich das Gelände an einen Abhang um den Tempelhügel herum schmiegt, kann erst eine Wanderung durch den Ashram das wahre Ausmaß des „Art of Living“-Zentrums erschließen. Meine Wanderung wird allerdings schon nach etwa zehn Minuten abgekürzt, weil mich der Fahrer eines im Ashram eingesetzten Shuttle-Busses so freundlich zum Mitfahren einlädt, dass ich das Angebot nicht ausschlagen kann. Ich mache beim neuen Speisesaal halt. Hier wird Essen gratis abgegeben. Alle Eintretenden werden vor dem Essen persönlich von einer würdigen, fast „priesterlichen“ Gestalt durch Handauflegen gesegnet. Anschließend sitzen alle auf dem Boden, wo Markierungen angebracht sind, damit sich ein ordentliches Gesamtbild ergibt.Die Mitte des Geländes bildet zweifelsohne der große Meditationstempel, ein Rundbau mit fünfstufigem Dach. Jede Dachstufe stellt einen aufgehenden Lotus dar. Dieser zentrale Bau erinnert mich fast an eine Hochzeitstorte, auf fünf Ebenen mit zartfarbenem, süßem Dekor beladen. Im Inneren des Tempels umhüllen den Besucher ähnliche Farbtöne: Vanillegelb und Himbeerrot. Überall erinnern uns Hindugötter und Symbole aller Religionen, dass uns hier nicht nur irgendeine spirituelle Wahrheit begegnen soll, sondern die Wahrheit schlechthin, das eigentlich Gemeinte, verborgen in allen Religionen. Der Tempel bietet Raum für 2000 Besucher und ist Lakshmi, der Gattin des Vishnu, geweiht, Göttin des Glücks, des Reichtums, der Harmonie und des Wohlbefindens. Ich kann mir keine passendere Schutzpatronin für ein indisches Glücksverwirklichungszentrum vorstellen. Allerdings hieß die Mutter Ravi Shankars ebenfalls Lakshmi. Welcher Lakshmi ist die Meditationshalle nun eigentlich gewidmet? Aber wahrscheinlich können nur ahnungslose Westler eine solche Frage stellen.

Zu Füßen des Gurudev

Der Tempelsymbolik nachsinnend und wahrscheinlich unnötigen Fragen nachhängend, warten wir um 19.30 Uhr im Meditationstempel auf den Meister. Mitten in der Woche haben sich nur ein paar Hundert Anhänger eingefunden. An Wochenenden pilgern Scharen aus der Stadt hinaus zu ihrem Meister. Auch heute sind die meisten Inder. Wir sitzen nach Geschlechtern getrennt. Im Raum dazwischen wird Sri Sri, der Gurudev, den Tempel betreten und zu seinem Sitz auf der Bühne schreiten. Von einer Vorsängerin angeleitet singen wir eine halbe Stunde lang Hymnen auf Gott (Shiva, Krishna, Lakshmi ...) und auf den Guru. Die uns vorgesungenen Passagen sind so innig schlicht, dass wir sie problemlos gemeinsam nachsingen können. Die Stimmung ist feierlich und doch locker. Einmal läuft ein kleines Kind über die Bühne, den leeren Raum vor dem Meistersitz mit seinen kleinen Schritten ausmessend. Aber niemand eilt hinauf, um entsetzt den Störenfried einzufangen.Dann kommt der Gurudev. Fast alle haben sich erhoben und drängen zum Gang, durch den er einzieht. Jovial begrüßt er während des Einzugs mal diese, mal jene Menschen. Überhaupt gibt er sich betont locker, beinahe informell. Auf seinem Sitz räkelt er sich ein wenig, ruft dann einen Begleiter herbei und unterhält sich mit ihm. Dann hört er sich gelassen noch eine halbe Stunde lang Lobgesänge an. Während dieser Zeit fällt sein Haupt zweimal ruckartig nach vorn. Offensichtlich ist er kurz eingenickt. Wer würde ihn nicht begreifen? Es ist nicht einfach, immer so entspannt und so grenzenlos locker zu sein wie Sri Sri. Aber sich lange Lobgesänge auf die eigene Person anhören zu müssen, das bringt den Meister an diesem Abend offensichtlich an die Grenze des physisch Ertragbaren. Unsere Lobgesänge wiegen ihn in den Schlaf. Doch das stört hier niemanden. Dem Leitbild des lockeren, stressfreien Lebens wird gern ein kurzes Nickerchen auf der Bühne zugestanden.Während der letzten halben Stunde beantwortet der Meister Fragen aus dem Publikum. Wahrscheinlich bespricht er keine echten Schülerprobleme, sondern von seiner Crew präparierte Standardfragen, z. B.: Worin liegt der besondere Wert seiner Meditationsmethoden? Braucht man einen Guru? Die Antworten legt Ravi Shankar locker, hier und da sogar schmunzelnd vor. Er ist – wenigstens in diesem großen Kreis – weder der Guru der perfekten Formulierungen noch der der strengen Forderungen, sondern der Guru der Lebensfreude und der Bejahung. Er verbindet positives Denken und praktischen Pantheismus mit indischer Guru-Mystik. Wenn alles Gott ist und wenn nun durch den Meister klare und zuverlässige Wege zum glücklichen Leben aufgezeigt wurden – warum denn dann nicht entspannt lächeln? In den Antworten auf die Publikumsfragen verweist der Gurudev gern auf die im weitesten Sinne als Atemübung gestaltete Entspannungsmethode, die er während einer zehntägigen Schweige-Retraite in Shimoga 1980 entdeckte und die er seither als Sudarshan Kriya, sozusagen als seine spirituelle Marke und als Basis aller weiteren Offerten weltweit in Kursen anbietet (vgl. www.artofliving.org/fr-en/sudarshankriya-origin).

Ravi Shankar und Maharishi

Was, fragen wir uns, finden Menschen beim Gurudev? Von seinem eigenen Lehrer, Maharishi Mahesh Yogi, und dessen Transzendentaler Meditation (TM), übernahm er die Auffassung, dass sich schlichte und doch scheinbar wissenschaftlich abgesicherte Wege zum vollkommenen Glück finden lassen. Maharishi hat seine Methoden vorgelegt, Ravi Shankar entwickelt analog seine eigenen. Ähnlich wie Maharishi initiiert auch Ravi Shankar immer wieder neue Aktionen und Stiftungen zur möglichst weltweiten Verbesserung der Lebensbedingungen. So hat er z. B. versucht, Gefängnisinsassen seine „Art of Living“-Entspannungstechniken im breiten Maßstab zu erschließen (vgl. www.artofliving.org/fr-en/prison-program-home). Wie im Umfeld der TM liebt man auch im Umkreis von Ravi Shankar die medienwirksamen Aktionen und die großen Zahlen. Es geht um weltweite Verbreitung – oder Vermarktung? – der einfachen, garantiert zuverlässigen Wege zum Glück. Sogar auf dem evangelischen Kirchentag im Juni 2011 in Dresden will der Gurudev nun auftreten.

Der lächelnde Gurudev der Cybercity

Nicht vergessen werden darf, dass Sri Sri seine Angebote im Umfeld von Bangalore, der am schnellsten wachsenden Stadt Asiens und berühmten Cybercity, entwickelt hat. Wenn ein Guru die Menschen des Internetzeitalters versteht, dann ist er es. Informationen sind heute leicht zugänglich, und Ziele sollen leicht erreichbar sein. Was sich nur mit größtem Aufwand schaffen lässt, ist nicht mehr unser Ding. Vielleicht ist eine Gestalt, die uns auf unserer Suche nach Glück einfache spirituelle Methoden anbietet, uns an der Hand nimmt und ein paar einfache Schritte weiterführt, genau der Guru, den wir brauchen. Auf jeden Fall bestätigt er uns in unserer im Stress des Alltags oft vergessenen Überzeugung, dass Glücklichsein unsere edelste Bestimmung ist und dass es keine Hexerei wäre, glücklich oder doch wesentlich glücklicher zu leben. Sri Sri will auf das Gesicht aller Menschen ein Lächeln zaubern. In seinem Ashram gelingt ihm das zu einem guten Teil. Die Menschen, die wir dort antreffen, wirken glücklich, locker und hilfsbereit. Zudem ist das Ashramgelände ausgesprochen sauber, was sogar im Umfeld von Bangalore, immer noch Indiens Gartenstadt, auffällt. Überall im Ashram stehen Abfalltonnen, getrennt nach Plastik und Papier.Offen bleibt für uns die Frage, ob die Schüler die große Energie, die sie in die Guruverehrung investieren, nicht sinnvollerweise direkt in die eigene Glückssuche einfließen lassen könnten. Aber vielleicht machen gerade das Schülersein und die Gurubewunderung manche Menschen erst wirklich glücklich. Das höchstmögliche Glück erschließt sich vielleicht manchen Menschen erst in der Begegnung mit einem Menschen, von dem sie annehmen wollen, dass er vollkommen glücklich ist.Ist aber Sri Sri wirklich immer lächelnd glücklich und ständig so entspannt locker, wie er sich uns präsentiert? Wer so das stressfreie Glück inkarniert wie er, muss trotzdem irgendwo noch völlig andere Möglichkeiten in sich tragen. Sonst wäre er nicht mehr wie wir alle, ein Mensch mit seinen Widersprüchen. Gefragt, ob er auch mal wütend oder ärgerlich wird und wie man mit solchen Gefühlen umgehen kann, antwortet Sri Sri: „In den 55 Jahren meines Lebens habe ich niemals ein barsches Wort gesagt. Ich konnte das nicht. Das schlimmste, was ich jemals gesagt habe, war ‚du Dummkopf’. Manchmal möchte ich zeigen, dass ich ärgerlich bin, und die Leute glauben mir nicht. Das ist mein Problem. Es läuft besser, wenn man auch mal wütend wird. Wut ist etwas Gutes, wenn man sich über dieses Gefühl im Klaren ist. Sie sollte aber nur so lange anhalten, wie eine Linie auf einer Wasseroberfläche sichtbar ist. Manche Menschen nehmen ihren Ärger mit in den nächsten Tag, in den nächsten Monat oder halten für die nächsten zehn Jahre daran fest. Die Seele leidet. Legt den Ärger ab, die Frustration, die Eifersucht und die Gier. Meditation hilft dabei. Pranayama, Sudarshan Kriya und Yoga sind die Antwort“ (www.artofliving.org/fr-en/sudarshan-kriya-faq, aus dem Engl. übersetzt).Wenn Sri Sri recht hat, wenn er tatsächlich nie mehr Ärger zeigen kann, dann müssen wir ihn bedauern. Dann verbaut er sich, wie er selbst andeutet, eine wesentliche und oft auch notwendige und heilsame menschliche Möglichkeit. Wenn ich sein Auftreten in seiner Meditationshalle bei Bangalore und in zahlreichen ins Internet gestellten Videos beobachte, neige ich zu der Annahme, dass es tatsächlich so ist, wie er sagt. Der arme Mann kann nur noch entspannt lächeln. Aber ich hoffe für ihn, dass er sich selbst etwas vormacht, wenn er meint, er könne keinen Ärger zum Ausdruck bringen. Hoffentlich ist sein öffentlich vorgezeigtes Gesicht nicht sein ganzes Wesen.Mit dieser Hoffnung verbinde ich nicht die Meinung, dass das stressfreie Lächeln des Meisters nichts taugt. Sein lockeres Auftreten hat auch mich beeindruckt. Sri Sri verkörpert eine so lockere Würde, eine so oft befreiend lachende, immer zu Scherzen aufgelegte geistige Autorität, dass sie ihm nicht so leicht jemand nachmacht. Nicht einmal Osho (Bhagwan Shree Rajneesh), der unbestrittene Künstler des Schülergelächters, zeigte diesen stressfreien Guru-Charme. Wahrscheinlich war Osho von der Bedeutung der eigenen Sendung doch so eingenommen und in seinen Ansprachen ein derartiges Muster an Konzentration, dass er sich in weiten Passagen nur zu gerne in paradoxem, mystischem Tiefsinn verlor. Tiefsinn aber mündet ins Schweigen. Wer immer so locker bleiben will wie Sri Sri, sollte sich vor Banalitäten nicht fürchten und den Absturz in menschliche Abgründe tunlichst vermeiden. Er darf zwar Unsagbares andeuten und mystische Paradoxien streifen, aber er sollte dies nicht zu oft und zu nachhaltig tun. Er muss in der Grundlinie seiner Ansprachen und seines Auftretens tapfer und von Herzen gerne ein Meister der spirituellen Binsenwahrheiten sein. Sri Sri besitzt diese herzliche Tapferkeit in hohem Maß.Nur am Rande sei noch angedeutet, dass die glücklichen Menschen, die der Meister von Nazareth am Anfang der Bergpredigt erwähnt (Matth 5,3ff), nicht durch Kurse zu ihrem Glück fanden. Der Nazarener spricht von einem paradoxen Glück der weltlich betrachtet Glücklosen, von einem Glück, das nicht nur lächelt, sondern auch Ärger, Trauer und Protest zulässt.


Georg Schmid, Rüti/Schweiz