Debora Dusse

Rasse und Runengymnastik

Neuerscheinungen zur völkischen Bewegung und zum Neuheidentum

Krisenbewusstsein und gesteigertes Forschungsinteresse

Seit einigen Jahren ist eine Zunahme von Veröffentlichungen zur völkischen Bewegung zu verzeichnen. Am Beispiel einiger Neuerscheinungen der letzten Jahre soll im Folgenden ein Überblick über Forschungsschwerpunkte und Fragestellungen gegeben werden. Hierbei handelt es sich einerseits um groß angelegte Gemeinschaftsunternehmungen von Forschungsgruppen und andererseits um Einzelstudien. Als Gründe für das gesteigerte Interesse lassen sich im Wesentlichen zwei Aspekte anführen: zum einen die Tendenz, die völkische Bewegung losgelöst vom Kontext des Nationalsozialismus als eigenständigen Forschungsgegenstand zu betrachten. Hierbei kommt vor allem Armin Mohlers Handbuch der „Konservativen Revolution“ eine Vorreiterrolle zu („Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch“, 5. Aufl. Graz, Stuttgart 1999 [1. Aufl. 1950]). So verweisen denn auch die Herausgeber des Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871-1918 im Vorwort auf Mohlers Buch (Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht [Hg.], München 1999 [1996], IXf). Zum anderen ist das Interesse an der völkischen Bewegung im Zusammenhang mit einem aktuellen gesellschaftlichen Krisenbewusstsein zu sehen, das sich etwa in einem Verlust von Orientierung und der Suche nach einem neuen Sinn ausdrückt. Explizit wird in der Forschung auf entsprechende Parallelen in der geistigen Verfassung heute und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwiesen: Der Sammelband „Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende“, hg. von Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht (s.u.), deutet schon im Titel mit dem Plural „Krisen“ den doppelten Bezug des Erkenntnisinteresses an. Diese Bezugnahme auf die Gegenwart zeigt eine Affinität der Forscher ihrem Gegenstand gegenüber, die möglicherweise die Gefahr birgt, das intellektuelle Krisenbewusstsein der beiden Jahrhundertwenden zu sehr zu parallelisieren und darüber die Differenz aus dem Auge zu verlieren.

Vielfalt und Schlüsselthemen

In kultureller Hinsicht gehören die Anfänge der völkischen Bewegung in den Kontext der Lebensreformbewegung. Über die Vielfalt der Themen und Ausdrucksformen dieser Reformbewegung gibt der umfangreiche Katalog der Ausstellung zur Lebensreformbewegung, die zum Abschluss des 100-jährigen Jubiläums der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt gezeigt wurde, auf über 1200 Seiten Auskunft: „Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900“, Bd. I und II, hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Darmstadt 2001). Behandelt werden z.B. folgende Aspekte der Lebensreformbewegung: die spirituelle und seelische Suche, ein neues Verhältnis zu Körper und Gesundheit, die Reform der Pädagogik, Natursehnsucht, Architektur und die Problematisierung des Fortschrittsglaubens. Allein zum Themengebiet „Ideengeschichte, Geistesgeschichte und Weltanschauung“ enthält der hervorragende Essay-Band des Katalogs (Bd. I) vierzehn Beiträge unter anderem zu „Reformreligion“, zu „Völkischer Religion“ und zu „Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangeboten um 1900“. Das Katalogwerk bietet ein Panorama von neuen Lebensentwürfen zwischen „Reformoptimismus und Kulturpessimismus“ (vgl. Bd. I, 203).

Zeigt sich am Beispiel der Lebensreformbewegung schon eine Heterogenität der Themen und Träger der Bewegung, so verstärkt sich dieser Eindruck noch, wenn man einzelne Gruppierungen, wie z.B. die völkische Bewegung, herausgreift. Der Historiker Uwe Puschner behandelt in seiner Berliner Habilitationsschrift „Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion“ (Darmstadt 2001) die frühe Phase der völkischen Bewegung, die anders als die Phase der Weimarer Republik bisher kaum Gegenstand der Forschung war. Er unterscheidet zwei völkische Bewegungen in zeitlicher Abfolge (vgl. 13). Sein Buch ist ein Grundlagenwerk zum Thema, das, gegliedert nach zentralen Begriffen der Bewegung – Sprache, Rasse (als wichtigstes Dogma am umfangreichsten behandelt), Religion –, einen Einblick in Personenkonstellationen, Organisationen und Programme gibt. Hierzu hat er in großem Umfang das Schrifttum der völkischen Bewegung ausgewertet, wobei besonders das Zeitschriftenwesen hervorzuheben ist (so z.B. die Periodika „Heimdall“ und „Hammer“, vgl. 21). Die Flut an Publikationen (darunter auch umfangreiches Kleinschrifttum) macht das Sendungsbewusstsein und die Aggressivität deutlich, mit der einzelne Gruppen für ihre Anschauungen warben. Als weitere Strategie macht Puschner zudem eine „Vernetzung“ der Gruppen aus (zu „Agitation“ und „Vernetzung“ vgl. 279-288). Er zeigt, dass die heterogene völkische Bewegung eine Sammlungsbewegung war, die eine gemeinsame politische Stoßrichtung hatte, nämlich den Wunsch nach einer völkischen Erneuerung Deutschlands, in dem sich die Schlagworte Sprache, Rasse, Religion bündelten (vgl. 263). Was Puschners Arbeit jedoch nicht bietet (und hier könnte der Titel des Buches irreführen), ist eine Einordnung der völkischen Bewegung in die wilhelminische Zeit und eine Kontrastierung mit der (2.) Phase der Bewegung zwischen Erstem Weltkrieg und 1933. Der Sammelband „Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe ‚arteigener‘ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende“, hg. von Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht (Würzburg 2001), der interdisziplinären Forschungsgruppe „Arbeitskreis zur Geschichte neuer Religiosität im 20. Jahrhundert“ stellt das Thema „Religion“ ins Zentrum. Er besteht aus 17 Beiträgen, sechs Artikel beschäftigen sich einleitend mit theoretischen und methodischen Aspekten des Gegenstandsbereichs, von denen stellvertretend die Beiträge von Justus H. Ulbricht „‚...in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit...‘ – Aspekte einer Problemgeschichte ‚arteigener‘ Religion um 1900“ (9-39) und von Rainer Hering „Säkularisierung, Entkirchlichung, Dechristianisierung und Formen der Rechristianisierung bzw. Resakralisierung in Deutschland“ (120-164) genannt seien. Der interdisziplinäre Ansatz der Forschungsgruppe spiegelt sich in der Vielfalt der weiteren Beiträge, die Einzelaspekten gewidmet sind. Hier seien hervorgehoben die Beiträge von Ulrich Nanko „Das Spektrum völkisch-religiöser Organisationen von der Jahrhundertwende bis ins ‚Dritte Reich‘“ (208-226), von Helmut Zander „Anthroposophische Rassentheorie. Der Geist auf dem Weg durch die Rassengeschichte“ (292-341) und der Artikel von Bernd Wedemeyer „Runengymnastik: Zur Religiosität völkischer Körperkultur“ (367-385). Der abschließende Beitrag von Stefanie von Schnurbein „Transformationen völkischer Religion seit 1945“ (409-429) schließlich schlägt den Bogen zu neuheidnischer Religiosität der Gegenwart und unterstreicht die „nicht zu unterschätzende Rolle“, die „völkisch religiöse Denkmuster“ auch in unserer Zeit hätten, die ebenso wie der Anfang des 20. Jahrhunderts von der „Krise der Moderne“ geprägt sei (vgl. 409).

Deutschgläubige und Germanengläubige

Neben Überblicksdarstellungen zur völkischen Bewegung in Form von Monographien oder Sammelbänden sind in den letzten Jahren auch Arbeiten zu einzelnen völkisch-religiösen Gruppierungen erschienen, die die Reihe der vorhandenen Einzeluntersuchungen fortsetzen (vgl. Stefanie von Schnurbein, „Religion als Kulturkritik. Neugermanisches Heidentum im 20. Jahrhundert“, Heidelberg 1992, und Ulrich Nanko, „Die Deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung“, Marburg 1993). Die Dissertation des Theologen Frank Schnoor „Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates“ (Egelsbach, Frankfurt a. M. u.a. 2001) hat die deutschgläubige Gruppe der Ludendorffer um Mathilde und Erich Ludendorff zum Thema. Die Arbeit beginnt mit einer ausführlichen Biographie Mathilde Ludendorffs (1877-1966). Im Anschluss wird ihr in sieben Büchern dargelegtes philosophisches System der „Deutschen Gotterkenntnis“ behandelt, dessen Ziel der Aufstieg zur Gotterkenntnis im eigenen Erleben ist und das rassistisch-evolutionistisch sowie antichristlich-antikirchlich geprägt ist. Ein weiterer Schwerpunkt des Buches sind Mathilde Ludendorffs Christentums-Kritik (am Beispiel v.a. der polemischen Schrift Erlösung von Jesu Christo von 1931) und die kirchlichen Reaktionen auf diese Angriffe. Abschließend widmet sich die Studie der Wirkung Mathilde Ludendorffs im Tannenbergbund sowie in den Vereinen „Deutschvolk“ (1930-1933) und „Bund für Deutsche Gotterkenntnis, L.“ (1937-1945). Die Darstellung Schnoors profitiert von seiner quellennahen Vorgehensweise, die insbesondere den polemischen und agitatorischen Charakter dieses Teiles der deutschgläubigen Bewegung (bis zum Tod Mathilde Ludendorffs) fassbar macht. Die weitere Wirkungsgeschichte der Ludendorffer bis zur Gegenwart (im „Bund für Gotterkenntnis, L.“ und im Verlag „Hohe Warte“) bleibt allerdings unberücksichtigt.

Die publizierte Magisterarbeit von Daniel Junker „Gott in uns! Die Germanische Glaubens-Gemeinschaft – ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik“ (Hamburg 2002), behandelt die Germanische Glaubens-Gemeinschaft des Malers Ludwig Fahrenkrog und deren Vorläufer. Dem Verfasser geht es um eine organisationsgeschichtliche Darstellung und eine exemplarische Untersuchung völkischer Religiosität am Beispiel dieser germanengläubigen Gemeinschaft. Als Begründung seines Vorhabens führt Junker neben dem historischen Interesse an, dass das Thema vor dem Hintergrund neuheidnischer Bestrebungen der Gegenwart von Aktualität sei (vgl. 2). Problematisch ist die festzustellende unkritische Haltung des Verfassers zu seinem Gegenstand. So fällt z.B. im Abschnitt über „Die politische Verortung der GGG und ihr Verhältnis zum Judentum“ (83-85) kein einziges Mal das Wort „Antisemitismus“. Als letztes Buch soll die veröffentlichte Magisterarbeit von Sylvia Siewert „Germanische Religion und neugermanisches Heidentum. Zur Rezeptionsgeschichte germanischer Religion und zum Problem der Kontinuitätsfrage aus religionswissenschaftlicher Sicht“ (Frankfurt a.M., Berlin u.a. 2002), kurz vorgestellt werden. Der erste Teil ist ein allgemeiner Überblick zu Germanen und germanischer Religion, es folgt ein Abriss der Geschichte der Germanenrezeption, und schließlich behandelt die Verfasserin das Neuheidentum des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Die Arbeit ist nur von sehr eingeschränktem Nutzen, da sie voller sachlicher Fehler und Ungenauigkeiten ist. Um nur ein Beispiel anzuführen: Es kommt wiederholt zu Verwechslungen der beiden Hauptquellen der germanischen Mythologie, der Lieder-Edda und der Prosa- bzw. Snorra-Edda (vgl. 53 und 60). Auch die Konzeption der Arbeit, die von der Erwähnung des „Volks“ der Germanen im ersten Satz (27) bis hin zu germanischen Neuheiden der Gegenwart führt, ist (insbesondere in Form eines Überblicks) problematisch.

Fazit

Die Neuerscheinungen zur völkischen Bewegung zeigen, dass das Thema als Gegenstand der Forschung zur Zeit „entdeckt“ wird. Einerseits wird in Großvorhaben das Themenfeld abgesteckt und andererseits werden Einzelaspekte und Gruppen untersucht. Schwerpunkte sind Organisationsgeschichte und Fragen von Religion und Weltanschauung. Deutlich ist, dass das Forschungsinteresse mit einer heutigen kulturkritischen Weltsicht im Zusammenhang steht, die sich in der Tradition des Krisenbewusstseins zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht. Diese Affinität der heutigen Forschung zu den intellektuellen Suchern von vor 100 Jahren kann sich als Forschungsproblem erweisen, das bedacht werden sollte. Als zweiter Vorbehalt kann die vorschnelle Bereitschaft genannt werden, Kontinuitäten völkischer Religiositäten bis in die Gegenwart zu sehen, die immer wieder anklingt. Auch der von Stefanie von Schnurbein verwandte Begriff der „Transformation“ suggeriert vielleicht in zu starkem Maße die Umgestaltung eines immer gleichen Kernbestands an völkischer Religion und damit eine Kontinuität (Stefanie von Schnurbein, Justus H. Ulbricht [Hg.], „Völkische Religion und Krisen der Moderne“, 409). Es gilt in einer weiteren Phase der Forschung sicher auch, verstärkt die Unterschiede zwischen damaligen und heutigen religiösen Suchbewegungen aufzuzeigen. Zudem besteht auch weiterhin Bedarf an der kritischen Analyse der völkischen, rassistischen und antisemitischen Grundlagen der völkischen Bewegung und völkischer Religiosität.

 

Debora Dusse, 01.07.2003