Luther Blissett

Q. Roman

Luther Blissett, Q. Roman, Verlag Assoziation A, Hamburg, TB-Neuausgabe 2016, 699 Seiten, 19,80 Euro.

Romane zur Reformation gibt es eine ganze Reihe. Aber dieser fällt aus dem Rahmen, zum einen schon vom Umfang her: Über fast 700 Seiten zieht sich hier der Kampf zwischen den unterschiedlich radikalen Flügeln der Reformation auf der einen Seite und ihren katholisch-päpstlich-kurialen Gegnern auf der anderen Seite. Zum zweiten bleiben die Helden namenlos – oder sie haben viele wechselnde Namen, was ebenso wie Namenlosigkeit keine persönliche Identität erkennen lässt. Also ist dieser Roman das Gegenteil eines frömmelnden Heldenepos um eine der historischen Gestalten der Reformation. Anonym bleiben drittens auch die Verfasser, die sich – als Kollektiv – den Namen „Luther Blissett“ gegeben haben. Ein bekannter Name ist nicht dahinter, auch nicht der oft vermutete Umberto Eco. Auch das spiegelt eine der vielen Botschaften dieses Buches: Es sind nicht die großen Namen, die Geschichte machen, sondern schwerer zu durchschauende geschichtliche Kräfte setzen sich durch.

Das Buch spiegelt auf seine spezielle Weise ca. 40 Jahre Reformationsgeschichte in Erlebnisberichten, Briefen und Tagebuchnotizen. Es beginnt um die Mitte der 1550er Jahre und blendet von dort immer wieder zurück, bis ins Jahr 1517. Der Protagonist, der sich mal Brunnengert nennt, mal Gustav Metzger, mal Don Ludovico, zählt zu den Schülern Luthers in Wittenberg, fühlt sich aber bald zu den Radikaleren unter den Reformatoren hingezogen. So schließt er sich der geistlichen Leitfigur des Bauernkrieges an, Thomas Müntzer. Bei dessen vernichtender Niederlage in Frankenhausen 1525 kann er entkommen und ist in den folgenden Jahrzehnten überall da zu finden, wo neue Formen des christlichen Glaubens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens erprobt werden: bei den militanten Wiedertäufern in Münster 1534/35, bei den friedliebenden Täufern in Belgien, die der Gewalt abgeschworen haben und wirtschaftlich vom wachsenden Handel profitieren, um 1550 schließlich beim rasch wieder erstickten Aufflackern der italienischen Reformationsbewegung aufzutauchen, die durchaus katholische Sympathisanten hatte, bis hin zu Bischöfen und Kardinälen.

Es fällt auf, dass hier nicht die theologischen Hauptstränge der Reformation im Vordergrund stehen samt ihren Vordenkern wie Luther, Calvin, Zwingli, sondern eher die, welche neben dem Glauben in den Köpfen vor allem die Gesellschaft und ihre Spielregeln verändern wollen, die eine neue Gesellschaft mit der vorbehaltlosen Leidenschaft suchen, die auch dem Reich Gottes gilt.

Zur Verdeutlichung ein längeres Zitat; es stammt von einem Protagonisten des Täuferreichs in Münster, der hier in einer flammenden Rede oder Predigt (das ist kaum zu unterscheiden) zwei Abgesandte der Täufer aus den Niederlanden wie Propheten begrüßt: „Brüder und Schwestern, die Wanderer, die wir erwartet haben, sind eingetroffen Sie kommen nach Münster, um zu verkünden, dass die Stunde unmittelbar bevorsteht, dass die Tage der Reichen gezählt sind, dass die Macht des Bischofs für immer hinweggefegt wird. Heute wissen wir mit Sicherheit, dass uns Freiheit und Gerechtigkeit erwarten: Gerechtigkeit für alle jene, die in Knechtschaft gehalten werden, gezwungen, für einen Hungerlohn zu arbeiten, für all jene, die glauben und die mit ansehen müssen, wie das Haus des Herrn mit Bildern beschmutzt wird … Die Altgläubigen behaupten, gute Christen können sich nicht um die Welt kümmern, sie sollen daher ihren Glauben für sich pflegen, weiter still die Übergriffe erdulden, weil wir alle Sünder sind, zur Buße verurteilt. – Doch hier sind nun Boten der Hoffnung! Diese beiden Männer haben unseren Schrei der Empörung vernommen und sind nun hier, um Zeugnis zu geben. Uns zu sagen, dass …die Zeit gekommen ist. Die Mächtigen der Erde werden entmachtet, von ihren Thronen gestoßen durch die Hand des Herrn … Die Tore sind jetzt offen für jene, die das Wagnis eingehen. Wenn sie gedenken, uns mit dem Schwert zu vernichten, werden wir diesen Schlag parieren und hundertfach erwidern“ (258ff).

Die Apokalypse als Abrechnung mit den Reichen und Mächtigen, die Gottes Boten selbst in die Hand nehmen – sozusagen als Schild und Schwert des Höchsten: Dieses Denkmuster ist ein klassisches Modell in den besseren Sekten-Krimis wie Henning Mankells „Vor dem Frost“. Es ist aber auch real in der Kirchengeschichte vorhanden – und ganz exemplarisch beim sogenannten Täuferreich in Münster. Es hat aber seine Tücken, wie wiederum in Münster exemplarisch zu besichtigen ist: Die Propheten, allen voran der als Heilsbringer erwartete Jan Matthys, wandeln sich binnen Kurzem zu vermeintlich göttlich legitimierten Despoten, vor denen auch langjährige Mitkämpfer keine Gnade finden, wenn sie den blinden Gehorsam verweigern.

In Münster wie auch auf allen früheren und späteren Stationen hat der Revolutionär „Brunnengert“ den gleichen Gegenspieler, der ihm aber nicht bekannt ist. Seine Identität wird erst kurz vor Schluss des Buches enträtselt, wie sich das für das Lösen von kriminalistischen Rätseln gehört. Er ist so etwas wie der V-Mann aus dem Vatikan, der seinem Chef unter den Kurialen, dem Bischof Carafa (eine historische Gestalt, der katholische Scharfmacher und spätere Papst Paul IV.) nicht nur Geheimnisse aus dem Umfeld der reformatorischen Bewegungen mitteilt, sondern sich auch als „agent provocateur“ dort mitmischt. „Q“ nennt er sich in seinen Lageberichten nach Rom, nach dem biblischen Buch Qohelet.

Seine Deutung des theologisch-gesellschaftlichen Weltgeschehens offenbart er in einem seiner vielen Briefe so: „Es erscheint unnötig, daran zu erinnern, wie gefährlich die lutherische Lehre für die rechte christliche Orientierung ist. Ich zögere nicht zu behaupten, dass die als Rechtfertigung sola fide, allein aus dem Glauben bekannte Lehre der tragende Pfeiler aller von den Lutheranern in den letzten 25 Jahren begangenen Schandtaten ist. Sie ist die Säule ihrer verqueren Theologie, gleichzeitig verleiht sie ihnen die Kraft, ohne jede Demut gegen den Heiligen Stuhl anzurennen und die Hierarchie der Heiligen Römischen Kirche in Frage zu stellen: All dies, weil ein Richter über das menschliche Tun und eine kirchliche Autorität für überflüssig erachtet werden, die sagen, was Recht und Unrecht ist und eben darüber befinden, wer würdig ist, ins Reich Gottes einzugehen, und wer nicht. Euer Gnaden werden sich sicherlich daran erinnern, dass eine der ersten Dreistigkeiten Luthers eben die war, dem Heiligen Vater die Autorität abzusprechen, den Bann zu verkünden“ (427f).

Allmählich keimt der Verdacht, dass dieser „Q“ nicht etwa aus sicherer Ferne gegen den Protagonisten, den ewigen Revolutionär, agiert und agitiert, sondern unerkannt als Schatten ganz in seiner Nähe. Alles drängt auf einen finalen Showdown; nicht umsonst haben die Autoren im Nachwort ihr Werk als einen „theologischen Western“ charakterisiert. Hier kommt durchaus so etwas wie Thriller-Spannung auf, freilich nicht ungebrochen, wie der FAZ-Rezensent Andreas Kilb beim ersten Erscheinen des Buches 2003 schrieb: Der Roman „stellt seine Figuren auf, doch dann, wie ein Schachspieler, der sich an einer faszinierenden Variante ergötzt, ohne sie durchzuführen, lässt er sie stehen und redet von etwas anderem … ‚Q‘ will nicht nur unterhalten, sondern auch belehren, und dieser doppelte Auftrag setzt die Erzählung spürbar unter Druck … Es wird jede Station der Predigerreisen Müntzers, jede Quisquilie der Münsteraner Wiedertäufer penibel nachgebetet, als läge in solcher Vollständigkeit der Nachgeschmack der Epoche … Am Ende, wenn unser Held im türkischen Exil weilt und heißen Kaffee schlürft, bedürfen wir der Erholung von den Glaubenskämpfen ebenso dringend wie er; aber es bleibt doch, über die Lektüre hinaus, eine Ahnung vom epochalen Drama dieser Zeit, und das ist mehr, als man von den meisten Romanen dieser Gattung sagen kann.“ Insofern bleibt die Lektüre dieses Buches empfehlenswert


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.