Dieter Rohmann

Psychologische Beratungsangebote und -erfahrungen

Wege des Einstiegs in eine sog. Sekte und Wege des Ausstiegs

Der Beitrag (MD 2/2017, S. 45-53) ist als pdf-Datei abrufbar:
Psychologische Beratungsangebote und -erfahrungen

 

„Ich vermeide es, Angehörige einer Kirche und Religionsgemeinschaft in ihrem Glauben irre zu machen. Für die Mehrzahl der Menschen ist es sehr gut, einer Kirche und einem Glauben anzugehören. Wer sich davon löst, der geht zunächst einer Einsamkeit entgegen, aus der sich mancher bald wieder in die frühere Gemeinschaft zurücksehnt. Er wird erst am Ende seines Weges entdecken, dass er in eine neue große, aber unsichtbare Gemeinschaft eingetreten ist, die alle Völker und Religionen umfasst. Er wird ärmer um alles Dogmatische und alles Nationale, und wird reicher durch die Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten und aller Nationen und Sprachen“ (Hermann Hesse 1964). Dieser Gedanke Hermann Hesses inspirierte mich schon vor vielen Jahren und machte mir schon damals zunehmend deutlich, wie komplex, sensibel, aber auch spannend die Themen Glaube, Religiosität, Spiritualität, Gruppe, Individuum, das Wir und das Ich tatsächlich sind.

In der Arbeit mit Menschen, die sich einst aufmachten (aufgrund welcher vorausgehenden konkreten Lebensereignisse und Motive auch immer), Sinn, Orientierung und geistige Heimat in ihr Leben zu holen, gibt es sicherlich keine Methode, die auf all diese Personen in gleichem Maße anzuwenden ist. Dafür sind die Biografien dieser Menschen viel zu unterschiedlich und deren Persönlichkeiten zudem erfreulich heterogen. Was sie häufig eint, ist die Erfahrung von Manipulation und geistigem Missbrauch durch einen Meister, das Gefühl von Trauer, Enttäuschung, Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit nach dem Ausstieg aus dem einstigen Lebensmittelpunkt des Kults. Nach dem Ausstieg aus einer solchen Wertegemeinschaft wird intensiv nach Erklärungen für das Geschehene gesucht. Es will und soll verstanden werden, was eigentlich in diesen Gruppen geschehen ist, warum man selbst (trotz immer wieder aufgetretener Zweifel) ein aktiver Teil des Ganzen blieb, und schließlich wird gefragt, wie das Leben für einen selbst weitergehen soll und kann.

Beispiele aus der Praxis

  • Frau A. (63 Jahre), drei erwachsene Kinder, verwitwet, gebildet. Sie war über zwei Jahre in Kontakt mit einer Heilpraktikerin (Heilerin, Seherin, Medium). Als Ziel wurde durch diese nicht weniger als die Errettung der Welt propagiert. Besonders vier Mitglieder der Gruppe, die sich um die „Meisterin“ gebildet hatte (darunter sie selbst und die Meisterin), waren dafür auserwählt. Die ganze Gruppe bestand damals aus ca. 25 Mitgliedern. Die Meisterin bekam von Frau A. 40 000 Euro und den gesamten Familienschmuck im Wert von ca. 100 000 Euro. Nach ihrem Ausstieg wurde ihr von der Meisterin gesagt, dass nun sie allein schuld am Leid dieser Welt sei, weil sie durch ihren Ausstieg versagt habe und die Welt nun nicht gerettet werden könne.
  • Frau B. (45 Jahre), drei Kinder, Akademikerin. Zusammen mit ihrem Mann baute sie damals ein Haus. Sie litt sehr darunter, dass zwischen ihnen keine körperliche Nähe mehr bestand. Es entwickelten sich weitere Eheprobleme, und das älteste Kind (21) äußerte zu diesem Zeitpunkt wiederholt Suizidgedanken. In einer Fußgängerzone begegnete Frau B. einer Wahrsagerin, die ihren Gemütszustand und ihre Probleme überraschend genau beschrieb. In den folgenden sechs Monaten fanden mehrere Treffen statt, bei denen die Wahrsagerin magische Hilfe versprach und für ihre Dienste so nach und nach um die 60 000 Euro erhielt. Dann äußerte Frau B. Zweifel, und die Wahrsagerin war plötzlich unauffindbar.
  • Herr und Frau C. (41 und 39 Jahre), zwei Kinder, Akademiker. Beide waren durch die Geburt ihrer Zwillinge stark überfordert, Eheprobleme stellten sich ein. Über die Kinder kamen sie in Kontakt zu einer Heilpraktikerin (Coach) in ihrer Stadt, die versprach, ihre Probleme zu lösen. Über einen Zeitraum von drei Monaten fand nun ein intensives tägliches Ehecoaching (persönlich und telefonisch) statt. Schließlich bekam die Ehefrau eine Trennungsanweisung und verschwand plötzlich ohne das Wissen des Ehemanns mit den Kindern spurlos. Der Ehemann informierte Jugendamt und Polizei. Mutter und Kinder wurden gefunden und kehrten zurück. Insgesamt hatte die als Coach fungierende Heilpraktikerin ca. 50 000 Euro Honorar erhalten.
  • Frau D. (58 Jahre), drei erwachsene Kinder, geschieden, erfolgreiche Unternehmerin. Sie nahm seit zehn Jahren an einer wöchentlichen Gruppenarbeit (ca.15 Gruppenmitglieder) teil, geleitet durch eine Heilerin (Medium, Coach). Es fanden auch gemeinsame Gruppenurlaube und -unternehmungen statt. Energiearbeit und der Aufstieg ins Licht waren von großer Bedeutung. Monatlich wurden von jedem Mitglied ca. 500 Euro als Honorar an die Meisterin übergeben. Als Loyalitätsbeweis sollte jedes Mitglied dazu beitragen, dass die Meisterin ein Heilungszentrum aufbauen konnte. Frau D. übergab ihr zweimal 50 000 Euro in bar, die sie nach ihrem kurz darauf erfolgten Ausstieg zurückforderte. Die Meisterin meinte dazu nur, dass sie ihr nichts geben könne, was sie von ihr nie erhalten habe.
  • Frau E. (41 Jahre), alleinstehend, gebildet. Sie schloss sich vor 16 Jahren einer esoterischen Lebensgemeinschaft (13 Mitglieder) im Allgäu an. Die Gruppe wurde von einer Meisterin mit vorwiegend esoterisch-theosophischem Gedankengut geführt. Alles wurde nur noch gemeinsam gemacht. Verordnet wurden sexuelle Enthaltsamkeit und permanente Energiearbeit. Es fanden tägliche Unterweisungen durch die Meisterin statt. Um auf sich geladene Schuld abzubauen, unterschrieb Frau E. den Kaufvertrag für ein Haus für die Lebensgemeinschaft. Sie verschuldete sich mit 400 000 Euro. Nach ihrem Ausstieg versuchte sie, ihr Leben neu zu regeln, und ging – nach erfolglosen Gerichtsverhandlungen – in die Privatinsolvenz.
  • Frau F. (32 Jahre), zwei Kinder, ledig, Akademikerin. Sie kommt aus einer problematischen Herkunftsfamilie, hatte Beziehungsprobleme und fand einen Diplom-Psychologen, der sich gleichzeitig als spiritueller Lehrer ausgab. Mit ihrem damaligem Lebensgefährten und ihren beiden Kindern ordnete sie sich für sieben Jahre der Leitung des Meisters unter. Die Therapiegruppe des Psychologen bestand aus ca. zwölf Mitgliedern. Zweimal wöchentlich traf man sich z. B. zu „Energiearbeit“. Das gesamte Leben wurde über den Psychologen und Meister gestaltet, nichts dem Zufall überlassen. In den sieben Jahren floss – ermöglicht durch ein großes Firmenerbe des damaligen Lebensgefährten von Frau F. – sehr viel Geld an den Meister. Nach ihrem Ausstieg war Frau F. mittellos und musste gänzlich neu anfangen.
  • Frau G. (38 Jahre), Schauspielerin, in fester Partnerschaft lebend. Sie wollte berufliche Spannungen reduzieren, um konzentriert arbeiten zu können. Über diverse Handleser, Kartenleger und das esoterische Portal „Questico“ verlor sie im Zeitraum von mehreren Jahren ca. 70 000 Euro und stand nun nach Jahren da, wo sie auch zu Beginn gestanden hatte – von den esoterischen Angeboten konnte sie nicht nachhaltig profitieren.

„Wie konnte dir das denn passieren?“

Für viele Menschen (besonders für Familienmitglieder und Freunde) sind derartige Geschichten kaum nachvollziehbar. Es fällt ihnen schwer zu verstehen, wie eine solche Abhängigkeit entstehen konnte, und dem ehemaligen Gruppenmitglied in seiner Verletzung und seiner Scham den nötigen Trost, Beistand und Halt zu geben. Oft bleibt dem Aussteiger dann nur Wut, Trauer, Unsicherheit und Enttäuschung als Reaktion und versuchte Kompensation. Erklärt wurden die schwer nachvollziehbaren Vorgänge in sog. Sekten/Kulten, die dort vorhandenen Mechanismen und die daraus resultierende Dynamik im Alltag solcher Wertegemeinschaften zu Beginn der 1980er Jahre mithilfe verschiedener Theorien der Bewusstseinskontrolle bzw. der mentalen Programmierung.

Richtungsweisend war zu Beginn sicherlich der Psychiater Robert J. Lifton (1961) mit seiner Forschung unter anderem zur chinesischen Kulturrevolution. Er stellte einen Acht-Punkte-Katalog der Methoden zur Bewusstseinskontrolle auf: 1. Milieukontrolle; 2. Manipulation der Sprache; 3. Forderung nach Reinheit; 4. Beichtkult; 5. mystizistische Manipulation; 6. Vorrang der Lehre gegenüber dem Menschen; 7. geheiligte Wissenschaft; 8. Zu- und Aberkennung der Existenzberechtigung.

Der Psychologe Edgar H. Schein (1961) unterschied drei Phasen der Bewusstseinsmanipulation: 1. Destabilisierung eines Menschen („Aufbrechen“); 2. Indoktrination („Verändern“); 3. Aufbau einer veränderten Persönlichkeit („Fixieren“).

Margaret Singer (Thaler Singer/Lalich 1997, Tabelle 3.3) formulierte sechs Bedingungen, unter denen eine mentale Programmierung abläuft: 1. Person wird im Unklaren darüber gelassen, was vor sich geht und welche Veränderungen in ihr bewirkt werden; 2. Kontrolle über die Zeit und, wenn möglich, die physische Umgebung; 3. Erzeugung von Ohnmachtsgefühl, verdeckter Angst und Abhängigkeit; 4. Unterdrückung alter Verhaltensweisen und Einstellungen; 5. Einflößen neuer Verhaltensweisen und Einstellungen; 6. Propagieren eines geschlossenen logischen Systems; Input und Kritik werden nicht zugelassen.

Ein neueres Modell dieser Art wurde von dem amerikanischen Mind Control Consultant Steven Hassan (2000) in seinem Buch „Releasing the Bonds“ vorgestellt.1  Er beschreibt vier Grundkomponenten der Kontrolle, die zum näheren Verständnis von Bewusstseinskontrolle beitragen können – das sog. BITE-Modell: Behaviour = Verhaltenskontrolle, Information = Informationskontrolle, Thought = Gedankenkontrolle, Emotion = Kontrolle der Emotionen.

All diese Modelle und Kriterien sind sinnvoll und tragen sicherlich zum Verständnis des doch sehr komplexen Themas bei. Dennoch möchte ich hier auch auf wichtige Erkenntnisse und Theorien der Sozialpsychologie hinweisen, die zusätzlich – gut nachvollziehbar – dabei helfen können, die Mechanismen, die Dynamik und die daraus resultierende Bindung in sog. Sekten und Kulten noch verständlicher zu machen. Hier eine nur kurze und unvollständige Auflistung einiger relevanter Theorien der Sozialpsychologie:

  • Psychologische Reaktanz nach Jack Brehm (1966, 1972): Reaktanz ist die Folge einer wahrgenommenen Freiheitseinschränkung. Sie besteht in der Aufwertung der bedrohten oder verlorenen Alternative. Sie tritt auf bei Verboten, bei knappen Ressourcen und bei Beeinflussungsversuchen. Jedes Mal, wenn eine Person glaubt, dass eine ihrer persönlichen Freiheiten bedroht oder eliminiert worden ist, wird sie motivational aktiviert. Diese motivationale Aktivierung – als psychologische Reaktanz bezeichnet – veranlasst die Person, mit allen Mitteln zu versuchen, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Emotional zeigt sich das dann z. B. in Verärgerung oder Wut, die sich meist gegen die Quelle der Freiheitseinschränkung richtet, kognitiv in Form einer Einstellungsänderung, die die verlorene Option positiver und die Quelle der Einschränkung nun negativer bewertet. Im Verhalten wird schließlich das Verbotene besonders demonstrativ gezeigt. Nach dem Motto: „Jetzt erst recht“. Reaktanz spielt sowohl beim Einstieg (leider oft ausgelöst durch Familie und Freunde) in eine sog. Sekte als auch beim Ausstieg (nun ausgelöst durch die Autoritäten des Kults) eine bedeutende Rolle.
  • Reziprozität der Perspektive nach Theodor Litt (1926), George Herbert Mead (1934) und Alfred Schütz (1971): Unter Reziprozität versteht man das Prinzip der Gegenseitigkeit. Reziprozität der Perspektive ist die Möglichkeit, den Standpunkt eines anderen einzunehmen. Sie kann als eine Bedingung des gegenseitigen Verstehens angesehen werden. Obwohl Reziprozität ein grundlegender sozialer Mechanismus ist, wird sie durch zahlreiche Beziehungsnormen reguliert und überformt. Der Sinnsucher möchte schlichtweg auch zur Gruppe dazugehören, Teil eines großen und wichtigen Plans für die gesamte Menschheit und den Planeten sein und verändert deshalb in kürzester Zeit seine bisherigen Erkenntnisse, Überzeugungen, Erfahrungen und Lebensthemen zugunsten der neuen Wertegemeinschaft.
  • False Memory Syndrom nach Elizabeth F. Loftus (1997): Gedächtnistäuschungen entstehen oft durch eine Kombination echter und suggerierter Erlebnisse. Ein als angenehm erinnerter Spaziergang z. B. verändert sich dann in der Erinnerung zu einer von Einsamkeit geprägten Erfahrung. Aktive Kultmitglieder empfinden und berichten aus ihrer Kindheit und Jugend, aus ihrer persönlichen Vergangenheit vor dem Kult dramatischer und negativer, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hat bzw. von ihnen auch tatsächlich erlebt wurde. Je negativer und problematischer das vergangene Leben beschrieben wird, desto größer und intensiver wird nun die eigene Errettung und das Gefühl des Auserwähltseins empfunden und kommuniziert. Die eigene Vergangenheit wird den gegenwärtigen Bedingungen einfach angepasst.
  • Kognitive Dissonanz nach Leon Festinger (1957): Kognitive Dissonanz tritt dann ein, wenn unsere Einstellungen und Überzeugungen nicht wirklich mit unserem gezeigten Verhalten, unseren Handlungen übereinstimmen. Im Buch von Festinger, Riecken und Schachter „When Prophecy Fails“ (1956) wird von einer religiösen Gruppe berichtet, die vorhersagte, dass der Weltuntergang nahe bevorstehe. Als die Prophezeiung und Erwartung nicht bestätigt wurden, steigerte sich der Bekehrungseifer der Gruppe dramatisch. Durch dieses Verhalten konnte die Gruppe ihr eigenes Glaubenssystem schützen und stützen und die durch den Widerspruch zwischen ihren Überzeugungen und den tatsächlichen Ereignissen entstandene Dissonanz reduzieren. Mitglieder immunisieren sich durch kognitive Dissonanz erfolgreich gegenüber möglicher Kritik von außen.
  • Konformität nach Solomon Asch (1956): Konformität bedeutet, sich einer Gruppe anzupassen und sich dem Gruppendruck unterzuordnen. In dem von Asch durchgeführten Konformitätsexperiment wurden einer Gruppe von Personen auf einem Bildschirm mehrere Linien gezeigt. Es sollte angegeben werden, welche der Linien von der Länge her einer Referenzlinie entsprach. Dabei war deutlich erkennbar, welche Linien gleich lang waren. Nur eine der Personen war dabei die echte Versuchsperson, die anderen waren vom Versuchsleiter instruiert, in 12 von 18 Durchgängen falsch zu antworten. Es zeigte sich, dass sich die Probanden bei etwa einem Drittel der Durchgänge trotz offensichtlicher Fehlentscheidung der Mehrheit anpassten. Nur ein Viertel der Versuchspersonen blieb unbeeinflusst. Die Verhaltensänderung erfolgt immer, um mit der Gruppe eine größere Übereinstimmung zu erreichen, und sie muss sich an den Gruppennormen orientieren. Die Mechanismen der Konformität funktionieren übrigens meist durch unmerklichen, indirekten und äußerst subtilen Druck der Gruppe. Wir sind nun einmal soziale Wesen. Viele Aspekte unseres Lebens werden durch unsere Neigung zur Konformität bestimmt, d. h. durch die Tendenz, im Einklang mit sozialen Normen und Erwartungen zu handeln und Sanktionen zu vermeiden. Sind die Normen oder auch oft Dogmen durch eine sog. Sekte/einen Kult definiert, so verhält sich das Mitglied entsprechend – oft auch wider besseres Wissen. Erwünschtes und unerwünschtes Verhalten ist in diesen Gemeinschaften überaus exakt und detailliert definiert. Nichts wird dem Zufall überlassen. Obwohl oft gehört und doziert, darf es nun eben doch keine „bedingungslose Liebe“ in diesen Gruppierungen geben. Das Maß der Kontrolle aller Lebensbereiche ist immens hoch und nur durch absoluten Gehorsam und persönliche Unterwerfung überhaupt lebbar.
  • Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten nach Stanley Milgram (1963, 1974): Die Ergebnisse des berühmten sog. Milgram-Experiments[3] bzw. des Abrahamtests, bei dem eine Versuchsperson („Lehrer“) die Fehler eines durch einen Schauspieler dargestellten „Schülers“ auf Anweisung einer Autoritätsperson (Versuchsleiter) mit immer stärkeren elektrischen Schlägen bestraft, waren und sind sehr verstörend und lösten heftige Diskussionen und Reaktionen aus – zumal auch bei den zahlreichen Replikationen dieses Experiments Milgrams Ergebnisse weitgehend belegt werden konnten: Die Mehrzahl der Versuchspersonen folgte den Anweisungen der Autoritätsperson und nicht ihrem Gewissen, obwohl sie dem „Schüler“ erkennbar große Schmerzen zufügten. Es wurde deutlich, dass Personen unter dem Druck von Bezugs- und Autoritätspersonen wesentlich eher zu aggressiven Handlungen bereit sind. Ca. 66 Prozent der Versuchspersonen („Lehrer“) waren bereit, die höchste Elektroschockstufe bei ihrem „Schüler“ anzuwenden. Das Experiment zeigte, dass die meisten Versuchspersonen durch die Situation veranlasst wurden, sich an den Anweisungen des Versuchsleiters und nicht am Schmerz der Opfer zu orientieren. Hier ging es nicht um eine absolute Wahrheit oder einen spirituellen/religiösen Glaubensaspekt, sondern schlichtweg um ein Lernexperiment. Zu welchen Handlungen wären wir bereit, wenn wir uns nun aber der einzigen und absoluten Wahrheit eines Kults verpflichtet fühlen und glauben, diese Wahrheit vertreten, leben und verteidigen zu müssen?

Erfahrungen aus der Praxis

1. Schuld und Angst: Die Begleitung zahlreicher Kultmitglieder und -aussteiger hat mir deutlich gezeigt, dass wir Menschen nicht „mit dem Kopf“ einer neuen Wertegemeinschaft beitreten, sondern „mit dem Bauch“. Nicht der Verstand und logisch-rationale Abwägungen führen in einen Kult, sondern die eigene Bedürftigkeit nach Anerkennung, Geborgenheit, essenziellen und verbindlichen Antworten, nach einer Linderung von erfahrenem Leid oder nach Orientierung, einer Lebensaufgabe und schließlich Lebenssinn. Für die interne Kultdynamik und einen reibungslosen Ablauf im Kultalltag ist das Aufrechterhalten der Emotionen von Schuld und Angst unumgänglich. Ein Kultmitglied hat permanent das Gefühl, nicht genug für die einzige Wahrheit zu tun, z. B. nicht genug zu missionieren, zu glauben oder zu lesen, zu beten, zu meditieren, zu chanten, und befindet sich dadurch in einer Art Bringschuld, kombiniert mit einem latent schlechten Gewissen der jeweiligen Autorität gegenüber. Das Mitglied ist immer bemüht, das „Richtige“ zu tun und im Sinne der Kultideologie auch „richtig“ zu handeln. Im Laufe der Zeit wächst so eine panische Angst davor, „Fehler“ zu machen. Die Person ist ständig bemüht – und das 24 Stunden am Tag –, eine andere zu sein und zu werden als die, die sie tatsächlich ist und die man tatsächlich wahrnimmt und auch empfindet. Somit bleibt das Mitglied im Kultalltag durch die Autoritäten leicht lenk- und manipulierbar. Denn es ist unmöglich, das vom Meister definierte Ziel und Heilsversprechen jemals wirklich zu erreichen.

2. Ausstiegsphobie: Dennoch fühlt sich das Mitglied als Elite, von einer höheren Macht (Gott, Fügung, Karma, Schicksal) auserwählt für z. B. ein so hohes Ziel wie die Rettung unserer Welt. Dieses Gefühl oder diese Überzeugung wird gekoppelt mit der systematischen Entwicklung einer sog. Ausstiegsphobie. Es wird immer wieder aufgezeigt, welche schlimmen Ereignisse (Krankheit, Unfall, Depressionen, Tod) eintreten würden, falls ein Mitglied die Gruppe verlässt. Der Ausstieg aus einer solchen Gemeinschaft ist immer ein dramatischer Vorgang, verbunden mit Angst, Unsicherheit, Selbstvorwürfen und Zweifeln. Auf diese Weise schwingt stets die Botschaft mit: „Verlässt du uns, dann verlässt du Gott und bist verdammt und verloren.“ Und immer wieder ertappt sich der Aussteiger dabei zu denken: „Was ist, wenn sie doch recht hatten und ich eine falsche Entscheidung getroffen habe?“

3. Mono- statt multikausal: Der Aufbruch in einen Kult resultiert häufig aus mehreren, gleichzeitig auftretenden Lebensproblemen bzw. -krisen. Der Wunsch nach einer Lösung all dieser Probleme ist ein zutiefst nachvollziehbares Bedürfnis. Der Preis dafür ist allerdings die Bereitschaft, ein hohes Maß an Kontrolle über sich ergehen zu lassen. Die Komplexität und Vielfalt unseres gesellschaftlichen Lebens und unserer Welt wird nun reduziert auf einige wenige, wesentliche Faktoren. Bald schon setzt ein verabsolutiertes, dichotomes Denken (schwarz/weiß, entweder/oder) ein und gibt dem Mitglied das Gefühl, angekommen und gerettet zu sein und die Welt bzw. das Leben nun endlich wirklich verstehen zu können. Dass das doch recht komplexe Leben und die Vorgänge in der Welt hier auf Weniges und Einfaches reduziert werden, wird erst nach einem Kultausstieg wieder sichtbar, greifbar und schließlich nachvollziehbar.

Begleitung von Kultaussteigern

Im Laufe meiner nun über 30 Jahre in der Arbeit mit Kultmitgliedern, Kultaussteigern und -aussteigerinnen und deren Familien ist es mir gelungen, verschiedene methodenübergreifende und themenzentrierte Modelle, Seminare und psychotherapeutische Methoden zu entwickeln, die ganz auf diese spezifische Klientel und die besondere Thematik abgestimmt sind. Das meiste davon habe ich – und dafür bin ich sehr dankbar – durch meine Klienten verstehen gelernt und auf dieser Basis weiterentwickelt.

Exemplarisch möchte ich dazu das Drei-Stufen-Modell darstellen (s. Abbildung). Die Bearbeitung der Themenbereiche von oben nach unten, von Stufe I bis Stufe III, hat sich bei den meisten Kultmitgliedern bzw. -aussteigern bewährt, die sich aufgrund eigener Erfahrungen, Lebensereignisse und daraus resultierender Motive einer sog. Sekte, einem Kult angeschlossen hatten. Diese Personen sind in der Regel gegenüber hineingeborenen Kultmitgliedern im Vorteil. Denn sie können bei einem Ausstieg auf viele Jahre (mindestens 18) gelebten Lebens vor dem Kult zurückblicken. Sie haben also sowohl während der Zeit im Kult als auch nach dem Kult kognitive Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungen, die während dieser Lebensphase hilfreich sein können. Den Hineingeborenen fehlen diese Vergleichsmöglichkeiten komplett, weil sie ausschließlich im Kultkontext sozialisiert wurden und mehr oder weniger behütet und isoliert aufgewachsen sind.

Für hineingeborene Kultmitglieder sind die Stufen I und II überaus relevant, um ihre eigene Kulterfahrung besser verstehen und verarbeiten zu lernen. In der Regel fehlen ihnen dazu eigene Begrifflichkeiten und Worte. Stufe III greift nicht, weil diese Klientel eben kein gelebtes Leben vor dem Kult erfahren durfte. Hier haben sich u. a. auch die von mir konzipierten Aussteigerseminare als äußerst hilfreich und stützend erwiesen.

Es gibt wohl kaum eine der als bedenklich definierten religiösen/spirituellen Wertegemeinschaften, die es ihren Kindern erlaubt, mit anderen (anders- bzw. ungläubigen) Gleichaltrigen zu spielen oder gar Freundschaften mit ihnen zu schließen und an Vereinsleben teilzunehmen. Hier stellt sich die Frage, wie diese Kinder überhaupt soziale Kompetenz erwerben können. Hineingeborene Aussteiger müssen deshalb vieles, was für uns selbstverständlich ist, von Grund auf erlernen. Sie haben im Kult z. B. nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen, können nicht streiten und wissen häufig nicht, wie man unverbindlichen Kontakt zu anderen Menschen aufnimmt oder gar Freundschaften schließt. Sie haben panische Angst davor, Fehler zu machen, scheuen das Risiko, fühlen sich oft fehl am Platz und sind permanent damit beschäftigt, wie vorher auch im Kult, „alles richtig zu machen“. Nur – wer sagt jetzt, nach dem Ausstieg, was „richtig“ und was „falsch“ ist?

Aufgrund der eingehenden Beschäftigung mit dem Thema Radikalisierung im Kontext von Islamismus, Salafismus und einer Hinwendung etwa zum sog. Islamischen Staat (IS) bin ich überzeugt, dass eine solche Vorgehensweise auch für Aussteiger aus der radikalisierten Islamistenszene hilfreich sein könnte. Allerdings wird hier für Stufe I zwingend vorausgesetzt, dass der Gesprächspartner/Berater über detaillierte und fundierte Kenntnisse des Islam und des Korans verfügt.

Ein Beispiel aus der praktischen Arbeit

Wir alle lernen viel und schnell durch Beobachtung, und oft sprechen Bilder tatsächlich mehr als Worte. Eines von vielen Materialien, die ich in meiner Arbeit mit Aussteigern einsetze, ist „ZOOM“[4], eine Bildergeschichte für Kinder von Istvan Banyai (1995), in der ein immer wieder neuer und erstaunlicher Perspektivenwechsel den Zuschauer in seinen Bann zieht. Mithilfe dieser Geschichte kann ein Perspektivenwechsel bei Aussteigern spielerisch gefördert und multikausales Denken angeregt werden. Nicht wenige der Aussteiger fühlten sich durch dieses Kinderbuch „ZOOM“ anfangs stark irritiert und empfanden die Bilderfolge als bedrohlich und zutiefst disharmonisch. Eine mögliche Folge des Lebens in einer monokausalen Welt, in der wirklich nichts dem Zufall überlassen wird? Menschen, die nicht in einem fremdbestimmten, totalitären Setting aufgewachsen sind bzw. nicht Jahre ihres Lebens darin verbracht haben, sondern die Vielfalt und die Multikausalität des Lebens und der Welt erfahren durften, können dieses Buch genießen und lassen sich gerne davon verzaubern.

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wie der Autor von „ZOOM“ meint, dass „man manchmal klarer sieht und einer Sache näher kommt, wenn man einen Schritt zurücktritt“. Es kann und darf ja vielleicht auch viele Wahrheiten/Wirklichkeiten geben? Möglicherweise ist es gar nicht so schlimm, einen „Fehler“ zu begehen? Und eventuell muss nicht immer sofort eine „richtige“ Entscheidung getroffen werden? Das sind alles Fragen, Gedanken und Überlegungen, durch die sich die meisten Aussteiger zu Beginn stark verunsichert und bedroht fühlen. Doch vielleicht hilft manchmal einfach nur etwas Mut und Neugier auf das Leben und die Welt, um endlich entschlossen und furchtlos (m)eine eigene Entscheidung treffen zu können und auch zu lernen, dieser zu vertrauen.

Zu guter Letzt: „Im Akt des Glaubens verbirgt sich auch die Offenheit zum Unbestimmten. Wenn wir lernen, das Glauben als Glauben zu erkennen, finden wir Freiheiten im Unbestimmten“ (Michael Luger 2011).


Dieter Rohmann


Literatur

Asch, Solomon, E. (1956): Studies of Independence and Conformity. I. A Minority of One Against a Unanimous Majority, Psychological Monographs 70/9

Banyai Istvan (1995): Zoom, Aarau u. a.

Brehm, Jack W. (1966): A Theory of Psychological Reactance, New York

Brehm, Jack W. (1972): Responses to Loss of Freedom. A Theory of Psychological Reactance, Morristown

Festinger, Leon / Riecken, Henry W. / Schachter, Stanley (1956): When Prophecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Group That Predicted the Destruction of the World, Minneapolis

Festinger, Leon (1957): A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford

Hassan, Steven (2000): Releasing the Bonds, Somerville

Hassan, Steven (2013): Freiheit des Geistes, Karlsruhe

Hesse, Hermann (1964): Briefe, 2. erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M.

Lifton, Robert Jay (1961): Thought Reform and the Psychology of Totalism. A Study of „Brainwashing“ in China, New York

Litt, Theodor (1926): Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, Berlin

Loftus, Elizabeth F. / Doyle, James M. (1997): Eyewitness Testimony. Civil & Criminal, 3. Aufl., Charlottesville

Luger, Michael (2011): Die Notwendigkeit zu glauben und die Begabung zu irren. Eine Psychologie des Glaubens, Books on Demand

Mead, George. H. (1973): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. (zuerst: 1934, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist)

Milgram, Stanley (1963): Behavioral Study of Obedience, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 67

Milgram, Stanley (1974): Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek

Rohmann, Dieter (2000): Darstellung der psychotherapeutischen Arbeit mit Kultmitgliedern bzw. -aussteigern anhand eines Drei-Stufen-Modells, in: Report Psychologie 5-6, 356-359

Rohmann, Dieter (2002): Von Riesen und Zwergen, in: Wege zum Menschen 2, 105-113

Schein, Edgar H. (1971, Erstauflage 1961): Coercive Persuasion, A Socio-psychological Analysis of the „Brainwashing“ of American Civilian Prisoners by the Chinese Communists, New York

Schütz, Alfred (1971): Das Problem der sozialen Wirklichkeit, in: Gesammelte Aufsätze I, Den Haag

Thaler Singer, Margaret / Lalich, Janja (1997): Sekten. Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können, Heidelberg

 

Anmerkungen

1  Hassans Buch ist seit 2013 unter dem Titel „Freiheit des Geistes“ erhältlich.

2  Video zur Konformität: www.youtube.com/watch?v=qA-gbpt7Ts8.

3  Video zum Milgram-Experiment: www.youtube.com/watch?v=98iK532OZgg.

 4  Bildergeschichte „ZOOM“: www.youtube.com/watch?v=JMhUujrN4iU.