Michael Utsch

Postmaterialistische Wissenschaft?

Hinweise auf eine zunehmende Spiritualisierung der Psychotherapie

Wenn Glaube sich positiv auf die Gesundheit auswirkt, wofür etliche Studien sprechen, stellt sich die Frage, wie das Heilungspozential der Religionen in eine psychologische Behandlung einbezogen werden kann. Die spannende Diskussion um Ausschluss oder Einbeziehung spiritueller Interventionen in Beratung und Psychotherapie hat endlich auch Deutschland erreicht. Bis vor kurzem war es undenkbar, dass in Therapeutenkreisen ernsthaft darüber diskutiert würde, ob etwa in einer Behandlung auf Wunsch des Patienten mit ihm gebetet werden dürfe.

Bekannte Gestalttherapeuten haben sich kürzlich grundsätzlich und vehement gegen eine Einbeziehung spiritueller Interventionen ausgesprochen, weil dabei die Risiken eines ideologischen Machtmissbrauchs viel zu hoch seien: „Spiritualität ist keine Sache wissenschaftlicher Psychotherapie, sondern des persönlichen Glaubens, dem Respekt gebührt.“1 Als rechtlich geregelte Dienstleistung des öffentlichen Gesundheitswesens stehe Psychotherapie deshalb unter dem Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität. Das moderne Wissenschaftsverständnis habe ein materialistisches Weltbild zur Grundlage, das auf der kategorialen Trennung von Wissenschaft und Glaube beruhe. Deshalb sei für eine wissenschaftlich begründete Heilkunde „prinzipiell“ nur eine materialistisch-monistische Position vertretbar.

Allerdings gibt es inzwischen klare empirische Belege dafür, dass religiöse oder spirituelle Rituale bei gemeinsamen Glaubensüberzeugungen des Therapeuten und des Klienten Ressourcen aktivieren können, die durch herkömmliche Methoden nicht erreichbar sind (Hook et al. 20102). Als Fallbeispiele werden in der genannten Arbeit eine christliche kognitive Therapie bei einer depressiven Störung, eine buddhistische Selbst-Schema-Therapie bei einer Suchterkrankung, eine christliche Vergebungstherapie und eine muslimische kognitive Therapie bei einer Angststörung dargestellt. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass religiös-spirituelle Psychotherapien nachweislich sowohl psychologische als auch spirituelle Wirkungen zeigen. Allerdings weisen sie darauf hin, dass ein einfaches Hinzufügen religiöser bzw. spiritueller Elemente zu einer etablierten säkularen Psychotherapie keine Verbesserungen bewirken würden – die säkularen und spirituellen Maßnahmen müssten aufeinander abgestimmt sein. Die höchste Wirksamkeit religiöser und spiritueller Interventionen lässt sich bei stark religiös geprägten Patienten nachweisen.

Der klare Trend zu einer ernsthaften fachlichen Auseinandersetzung mit religiösen und spirituellen Themen beschränkt sich nicht mehr nur auf den amerikanischen Kulturkreis. Das deutsche „Psychotherapeutenjournal“, Hauspostille aller approbierten Psychotherapeuten und damit weit verbreitet und viel gelesen, hat vor einem Jahr ausführlich das Schwerpunktthema „Psychotherapie und Religion/Spiritualität“ behandelt.3 Die auch im Internet zugänglichen Aufsätze plädieren für einen transparenten und differenzierten Umgang mit dem Glauben der Patienten – von der früheren Religionsfeindlichkeit der Psychotherapie ist fast nichts mehr zu spüren. Der bekannte Religionspsychologe Bernhard Grom belegt dort die Bewältigungskraft positiver Glaubensüberzeugungen sogar mit empirischen Studien.4

Gebet als Therapiemaßnahme?

In Britannien ist der Diskussionsstand schon weiter gediehen als hierzulande – vermutlich, weil der amerikanische Trend stärker zum Tragen gekommen ist. Außerdem gibt es dort eine aktive, etwa 3000 Mitglieder starke Arbeitsgruppe „Spiritualität und Psychiatrie“ im „Royal College of Psychiatrists“, die kürzlich ein Konsenspapier zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität vorgelegt hat.5 Darin verpflichten sich die Mitglieder, den religiösen oder spirituellen Bindungen ihrer Patienten mit einfühlsamer Achtung und mit Respekt zu begegnen. Klinisch Tätige sollen keine religiösen oder spirituellen Rituale als Ersatz für professionelle Behandlungsmethoden anbieten. Es wird aber auch auf die Bewältigungskraft positiver Spiritualität hingewiesen, durch die Hoffnung und Sinn vermittelt werden könnten.

Naturgemäß treffen gerade bei der Einschätzung von Religion unterschiedliche Weltbilder aufeinander. Exemplarisch zeigt sich das an der kontroversen Diskussion um die Einbeziehung von Gebeten in die psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis, die in einer britischen Fachzeitschrift unaufgeregt und sachlich geführt wurde:6 Der eine Protagonist, ein bekennender Atheist, möchte derartige Praktiken von jeglicher fachärztlichen Behandlung fernhalten, um eine mögliche Rollenkonfusion von Psychotherapeut und Seelsorger zu vermeiden. Sein Kontrahent ist anglikanischer Priester und argumentiert, dass auf Nachfrage des Patienten hin unter bestimmten Bedingungen spirituelle Interventionen sinnvoll sein können. Bemerkenswert an diesem Fachartikel: Nach der Zusammenfassung im Kopf des Aufsatzes ist die Rubrik „Declaration of Interest“ eingefügt, in der die weltanschaulichen Grundannahmen – Atheist und Priester – offengelegt werden. Auf dem häufig noch schambesetzten Gebiet des persönlichen Glaubens ist die Transparenz der jeweiligen Überzeugungen eine wichtige Voraussetzung dafür, dass spirituelle Interventionen zu einer Behandlungsoption werden können.

Heilbehandlung vs. Heilsvermittlung

Ohne Zweifel muss die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren wissenschaftlich erwiesen sein, um bei der Krankenbehandlung eingesetzt werden zu dürfen. Wie soll das bei spirituellen Methoden funktionieren? Heil und Heilung, das haben die interdisziplinären Diskussionen der letzten Jahre ergeben, müssen klar voneinander unterschieden werden. Geht es bei der Heilung um eine reparative Wiederherstellung, die Narben hinterlässt, so zielt die Heilserwartung auf einen gänzlich neuen Menschen. Eine therapeutische Heilbehandlung ist also von einer religiösen oder spirituellen Heilsvermittlung strikt zu trennen. Während die Heilbehandlung unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen arbeitet, geht es beim Thema Heil um eine vertrauensvolle Erwartung. Ohne Zweifel kann religiöses Vertrauen gesundheitsfördernd wirken. Es aber als eine Art Wunderdroge einzusetzen, hieße, eine Religion zu missbrauchen.

Angesichts der zahlreichen korrelationsstatistischen Indizien für die heilsamen Funktionen des Glaubens wurde in einer medizinischen Fachzeitschrift tatsächlich darüber diskutiert, ob Ärzte religiöse Tätigkeiten verordnen sollten. Schlussendlich überwog jedoch die Skepsis. Der wichtigste Einwand war der Hinweis auf „eine drohende Trivia­lisierung der Religion. Religion darf nicht instrumentalisiert und getestet oder verordnet werden wie ein Antibiotikum.“7

Fließender Übergang zu einem esoterischen Weltbild

Wie aber kann der Einsatz religiöser oder spiritueller Verfahren wissenschaftlich begründet werden? Die an der renommierten New Yorker Columbia-Universität tätige Psychotherapeutin Lisa Miller hat hierzu weitreichende Überlegungen angestellt. Seit zehn Jahren bietet sie an ihrer Fakultät den fünfteiligen Trainingskurs „Spirituelle Wahrnehmung“ für angehende Psychotherapeuten an, um gemeinsam Spiritualität experimentell zu erkunden. „Spirituelle Wahrnehmung meint die Abstimmung mit einem liebenden und wegweisenden Universum, das uns umgibt, das in uns lebt und durch uns wirkt“, so beginnt ein programmatischer Übersichtsartikel.8 Miller berichtet, dass in der religiös extrem vielfältigen Teilnehmerschaft aus allen Ländern, Kulturen und Religionen gegenseitiger Respekt die Voraussetzung bilde, um eine direkte Erfahrung des spirituellen Grundes zu machen. Ihr Credo lautet: „Das Bewusstsein existiert noch in anderen als materiellen Zuständen. Dort findet ein zielgerichteter Prozess statt, der von einer kosmischen Energiequelle gesteuert wird.“ Verstehen könne man das jedoch nur aus einer „postmaterialistischen psychologischen Sicht“ heraus, die zu einer Wahrnehmung eines geheiligten Universums führe, das sich durch drei Merkmale auszeichne: „Das Universum ist lebendig, geheiligt und wegweisend ... Alles Lebendige ist aus dem Universum hervorgegangen, ist geheiligt und Teil eines evolutionären Prozesses; auch wir Menschen sind aus dem Universum hervorgegangen und dialogisch darauf bezogen.“9 Spirituelle Psychotherapie ermögliche „spirituelle Wahrnehmung: Wir schaffen einen liebenden Raum, der für geheiligte Arbeit bereitsteht, die unsere Erwartungen und Fantasien übersteigt. Spirituelle Präsenz, die wir wahrnehmen können und schätzen, bewirkt eine tiefgreifende Veränderung.“10 Diese Ausführungen machen deutlich, wie auf der Grundlage eines esoterischen Welt- und Menschenbildes spekulative Schlüsse für therapeutische Haltungen und Verfahren gezogen werden.

Lisa Miller ist ein Coup gelungen, indem sie 2012 ein umfangreiches Werk über Psychologie und Spiritualität herausgegeben hat, das ganz neue Akzente in der Religionspsychologie setzt.11 Ihr Handbuch ist in der renommierten Reihe „Oxford Library of Psychology“ erschienen, einem der ältesten und angesehensten Psychologie-Handbücher – der New Yorker Verlag blickt auf eine über 500-jährige Tradition zurück. Das von Miller herausgegebene Werk ist von seiner Anlage her umfassend ausgerichtet, zielt aber besonders auf die Bereiche Gesundheit, Beratung und Psychotherapie. Das Neuartige gegenüber anderen Werken dieser Reihe wird besonders im ersten und letzten Abschnitt deutlich, wo wissenschaftstheoretische Voraussetzungen einer spirituellen Psychologie in Geschichte und Kultur beschrieben werden und wo eine postmaterialistische spirituelle Wissenschaft beschworen wird, durch die in einem „geheiligten Bewusstseinszustand“ therapeutische Heilungsprozesse möglich gemacht werden könnten.

Die Kapitel zwischen dem ersten und dem letzten Teil behandeln ihre Themen größtenteils solide und empirisch begründet: Die Themen Persönlichkeit, Entwicklungspsychologie, Psychotherapie, Meditation, körperliche Gesundheit, Positive Psychologie und Hirnforschung werden in ihrem jeweiligen Zusammenhang zu Religion und Spiritualität beschrieben. Der Herausgeberin ist es gelungen, führende Fachwissenschaftler für die Mitarbeit zu gewinnen. Viele Kapitel liefern einen vorzüglichen Gesamtüberblick über den aktuellen Wissensstand.

Problematisch ist jedoch die Tatsache, dass die religionspsychologischen Einzelbefunde des Handbuchs in eine esoterische Wirklichkeitsdeutung eingebettet werden, die sich von der empirischen Psychologie verabschiedet hat. Diese wird als „materialistische Perspektive“ abqualifiziert. Spirituelle Psychologie fuße nämlich auf einem „postmaterialistischen Wirklichkeitsmodell“. Begründet wird das mit höchst spekulativer Quantenphysik, die bald technische Hilfsmittel bereitstellen könne, um das Bewusstsein zu verändern und dann mit der größeren spirituellen Wirklichkeit durch eine Art „Seelen-Telefon“ zu kommunizieren.

Autoren, die Lisa Miller hier zu einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung einer „postmaterialistischen spirituellen Wissenschaft“ zu Wort kommen lässt, sind William A. Tiller und Gary E. Schwartz. Schwartz ist für umstrittene Experimente mit Wunderheilern und spiritistischen Medien bekannt. In Bezug auf das amerikanische Medium Allison DuBois behauptete er beispielsweise, dass diese tatsächlich mit Verstorbenen in Kontakt treten könne. Tiller, ein ehemaliger Professor an der Stanford-Universität, untersuchte die physikalischen Raumqualitäten und liefert mit seinen Befunden angebliche Belege für „Energieheilung“. Er arbeitet eng mit Eric Pearl zusammen, dem Begründer der auch in Deutschland sich ausbreitenden Methode „Reconnection – Heilung durch Rückverbindung“.12 Tiller glaubt belegen zu können, dass die Selbstheilungstechniken von „Reconnection“ zu einem „dramatischen Anstieg von Energie, Licht und Information“ führen, die aus jedem Menschen einen Heiler machen können. Diese Anwendungen versucht er in seinem Handbuchartikel mit komplizierten mathematischen Formeln zu begründen.

Lisa Miller beendet das von ihr herausgegebene Handbuch mit einem Plädoyer für eine „spirituelle Psychologie“: „Die gegenwärtige postmaterialistische spirituelle Psychologie propagiert eine Klärung und Erweiterung der Ontologie. Eine auf Bewusstseinszustände bezogene Psychologie vereinigt das menschliche Innenleben und physikalische Ereignisse der Umgebung zu einer gemeinsamen Untersuchung, die von früher getrennten Disziplinen durchgeführt wird. Aus dieser postmaterialistischen Perspektive kann der menschliche Geist als die Erweiterung eines universalen Bewusstseins angesehen werden, mit dem er durch Wahrnehmung, Bewusstheit und Entscheidung verbunden ist. Verstanden durch eine transzendente Kosmologie und Religion, kann das sinnhaltige Universum erforscht werden. Dadurch findet eine Vermählung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften statt.“13

Fazit

Bei aller Sympathie für eine spirituell sensitive Psychologie: Sie darf ihre wissenschaftlichen Grundlagen nicht verlassen, weil sie sonst zu einer ideologischen Heilslehre mutiert. Wenn der menschliche Geist als eine Erweiterung eines universalen Bewusstseins verstanden wird, ist diese Hypothese als eine Glaubensaussage zu qualifizieren, die mit psychologisch-wissenschaftlichen Mitteln nicht überprüft werden kann. Das von Miller herausgegebene Handbuch belegt, wie weit der Prozess der Spiritualisierung in der Psychotherapie in manchen Bereichen schon fortgeschritten ist.

Mit dieser Kritik soll nicht einer streng materialistischen Position das Wort geredet werden – im Gegenteil! Eine Kernannahme des wissenschaftlichen Materialismus ist, dass das Bewusstsein ein Epiphänomen der Materie, also des Geistes, ist. Diese Überzeugung wird besonders vehement von Atheisten vertreten. In manchen Argumenten ist Rupert Sheldrake recht zu geben, wenn er einem verbreiteten positivistischen „Wissenschaftswahn“ widerspricht und behauptet, dass das materialistische Weltbild an seine Grenzen gekommen sei.14 Dennoch darf das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, wenn nun von Lisa Miller und anderen eine „postmaterialistische Wissenschaft“ herbeigewünscht wird, in der insbesondere veränderte Bewusstseinzustände „ganzheitlichere“ Zugänge zur Wirklichkeit ermöglichen würden. Jedes Bewusstsein ist auf einen funktionierenden Verstand angewiesen. Eine stärkere Aufmerksamkeit für religiöse und spirituelle Fragen in Psychologie und Medizin ist zu begrüßen. Für ein besseres Verständnis ihrer Zusammenhänge aber ist die kritische Vernunft – die um ihre Grenzen weiß – unerlässlich.


Michael Utsch


Anmerkungen

  1. Hilarion Petzold/Johanna Sieper/Ilse Orth, Psychotherapie und „spirituelle Interventionen“?, in: Psychologische Medizin 21 (2010), 13-22, hier 14.
  2. Joshua N. Hook et al., Empirically Supported Religious and Spiritual Therapies, in: Journal of Clinical Psychology 66 (2010), 46-72.
  3. Psychotherapeutenjournal 3/2012, www.psychotherapeutenjournal.de.
  4. Vgl. Bernhard Grom, Religiosität/Spiritualität – eine Ressource für Menschen mit psychischen Problemen?, in: Psychotherapeutenjournal 3/2012, 194-201.
  5. Christopher H. Cook, Recommendations for Psychiatrists on Spirituality and Religion. Position Statement PS03/2011, London: Royal College of Psychiatrists.
  6. Richard Poole/Christopher H. Cook, Praying with a patient constitutes a breach of professional boundaries in psychiatric practice, in: The British Journal of Psychiatry 199 (2011), 94-98.
  7. Richard P. Sloan, Should Physicians Prescribe Religious Activities?, in: The New England Journal of Medicine 342 (2000), 1913-1916, hier 1915.
  8. Lisa Miller, An Experimental Approach for Exploring Spirituality, in: James D. Aten et al. (Hg.), Spiritually Oriented Interventions for Counseling and Psychotherapy, Washington 2011, 325-344, hier 325, Übersetzung M.U (auch der folgenden Zitate).
  9. Ebd.
  10. Ebd., 341.
  11. Lisa Miller (Hg.), The Oxford Handbook of Psychology and Spirituality, New York 2012.
  12. Eric Pearl, The Reconnection – Heilung durch Rückverbindung, Burgrain 2011, vgl. www.reconnection-verband.de.
  13. Lisa Miller (Hg.), The Oxford Handbook of Psychology and Spirituality, a.a.O., 611.
  14. Vgl. Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn, München 2012.