Ian Reader

Pilgrimage. A Very Short Introduction

Ian Reader, Pilgrimage. A Very Short Introduction, Oxford University Press, Oxford 2015, 140 Seiten, 7,99 GBP.

Eine Schreckensvorstellung bei der Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 ist der amerikanische Tourist, der Wittenberg besucht, sich in der Stadt umschaut und enttäuscht ausruft: „Is that all? And this is the Lutheran Disneyland?“ Dabei dürften aber Tourismusmanager und Kirchen über Unterschiedliches erschrecken. Die Erwartungen an Pilgerreisen sind vielfältig und nicht nur spiritueller Art.

Seit einigen Jahren erlebt Pilgern einen Boom – Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ taucht auch in Ian Readers Büchlein gleich zu Beginn auf. Aber nicht nur das spirituelle Wandern als Reise des modernen Großstädters zu sich selbst erfreut sich derzeit großen Interesses. Auch klassische religiöse Pilgerfahrten, ob Lourdes, Mekka oder Shikoku, sind heute populärer denn je.

Der Autor, Religionswissenschaftler an der Universität Lancaster, gibt einen Überblick über das allgegenwärtige Phänomen des Pilgerns als religiöse oder als „spirituelle“ Lebensäußerung: Pilgern kommt in fast allen menschlichen Kontexten und Religionen in Vergangenheit und Gegenwart vor, wobei es bei den Formen, Themen, Praktiken, Motiven und Erfahrungen mehr Kontinuitäten und Parallelen als Unterschiede gibt, was sogar für die säkularen Varianten des Pilgerns, etwa zu Gräbern von Rockstars und zu Fußballstadien, gilt.

Schnell wird bei der Lektüre klar, dass etwa manche Kritik, die man intuitiv am modernen Pilgerboom üben mag, keineswegs neu ist. Schon in Chaucers „Canterbury Tales“ aus dem 14. Jahrhundert ist unübersehbar, dass die Pilgernden in der Rahmenerzählung des Werkes nicht nur aus Gründen der Andacht und schon gar nicht in ständiger Einkehr und Besinnung unterwegs sind, sondern dass der vordergründig religiöse Zweck durch Reise- und Abenteuerlust, jugendlichen Überschwang, Feierlaune und Prestigegewinn, kurzum durch allerlei weltliche Elemente erweitert und teilweise überlagert wird. Verändert hat sich in der Moderne neben der Zahl vor allem die Zusammensetzung der Pilger, die heute älter und weiblicher sind als je zuvor. Bevor Altersfreizeit normal sowie Reisen sicher und leicht wurde, war Pilgern eher die Domäne junger Männer.

Vielfältig sind die Motive – Buße, geistliche Verdienste, Gelübde, Reiselust, Heilungs- und Fürbittanliegen –, die Grundformen – Zielorientierung (Lourdes, Mekka), Rundwanderung (Shikoku) oder Betonung des Weges (Santiago) – und auch die zugrunde liegenden sinnstiftenden Anlässe: Pilgern als symbolische Lebensreise, als Nachfolge in den Fußspuren eines religiösen Helden, Ortsbesichtigungen göttlicher Erscheinungen oder Heiligengräber usw. Ökonomische und politische Aspekte spielten schon immer eine erhebliche Rolle. Von jeher konkurrierten Pilgerstätten um Pilger als Konsumenten. Dies war ein wesentlicher Grund, warum europäische Fürsten Reliquien kauften oder raubten.

Auch politische Interessen gehören zum Wesen des Pilgerns: Wenn Hindus heute in wachsender Zahl nach Amarnath im muslimischen Kaschmir pilgern, so soll dies auch einen Besitzanspruch ausdrücken. Friedliche Koexistenz und interreligiöse Auseinandersetzungen um die Hoheit über Pilgerstätten gibt es nicht nur zwischen monotheistischen Religionen in Jerusalem, sondern auch zwischen Buddhisten und Hindus in Kataragama oder in Sri Pada (beide Sri Lanka), wohin Christen, Buddhisten, Muslime und Hindus pilgern. Manche Pilgerziele sind menschliche Bauwerke, andere sind beeindruckende Naturerscheinungen wie der Berg Kailash, den Buddhisten, Jains, Bön und Hindus besuchen und umrunden. Bisweilen kommt es auch zu friedlichen Übernahmen, so z. B., wenn das südenglische Glastonbury heute eher ein Wallfahrtsort für New-Age-Jünger denn für Christen ist wie zuvor Jahrhunderte lang.

Pilgern schafft eine gemeinsame Erlebniswelt für die Praktizierenden, was Reader durch Menschen illustriert, die sich auf Pilgerreisen fremder religiöser Traditionen begeben und dort sofort Vertrautheitserfahrungen machen. Auch der Konflikt zwischen jenen, die mühsam zu Fuß reisen, und jenen, die im klimatisierten Reisebus oder Privatjet kommen, aber am Zielort mehr Zeit für die devotio haben, ist uralt und zeit-, kultur- und religionsunabhängig.

Reader gelingt es, ordnende Schneisen in ein riesiges Feld zu schlagen und dabei auch manche überraschenden Details anzubringen. Der Autor ist selbst ausgewiesener Experte für die Praxis des Pilgerns. Über Jahrzehnte hat er zahlreiche Pilgerreisen in Japan, Europa, Indien und darüber hinaus unternommen. Dadurch kann er seine Darstellung immer mit kleinen Beobachtungen und Gesprächen mit Pilgern verschiedener Traditionen aus der eigenen Erfahrung auflockern, Veränderungen der Rahmenbedingungen durch die Zeitläufte und des Erlebens durch das eigene Altern inbegriffen. Das gibt dem Buch eine vergnügliche Lesbarkeit und erhöht seinen Unterhaltungswert. Das lässt auch darüber hinwegsehen, dass sich manche Themen wiederholen und bestimmte wiederkehrende Motive nach Kurzem vertraut wirken. Das aber liegt in der Sache begründet und ähnelt vielleicht dem Pilgern selbst. Dieses ist eine (meist temporäre) Existenzform sui generis, deren Erscheinungsformen, Erlebniswelten, Motivationen, Ziele, Konfliktpunkte, Anhänger und Sozialformen in verschiedenen Zeiten, Ländern und Religionen bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen doch bemerkenswert viele Gemeinsamkeiten aufweisen.


Kai Funkschmidt