Gabrielle Plesse-St. Clair

Orgodynamik, Menschen multidimensional begleiten

Gabrielle Plesse-St. Clair, Orgodynamik, Menschen multidimensional begleiten. Ein transpersonal orientierter Praxisansatz für Therapeuten, Lehrer und Berater, Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2011, 243 Seiten, 21,90 Euro.

Die 1953 geborene Pädagogin Gabrielle Plesse-St. Clair hat 1986 gemeinsam mit ihrem Mann das transpersonal orientierte Seminar- und Ausbildungsnetzwerk „Orgoville“ gegründet, in dem beide seit Langem erfolgreich tätig sind. Nun hat die Autorin in einer „Schriftenreihe zur humanistischen Pädagogik und Psychologie“ die gekürzte Version ihrer Dissertation vorgelegt, die 2010 an der Universität Kassel angenommen wurde.

Im Vorwort weist sie auf vielfältige Ausbildungen, Begegnungen und Erfahrungen hin, die Einfluss auf ihre humanistisch orientierte Körperarbeit und die eigene spirituelle Praxis genommen hätten. Spirituelle Lehrer wie Rajneesh oder Ramana Maharshi werden genannt, daneben reichianische Körperarbeit, Quantenpsychologie (S. Wolinsky), Diamond Yoga (M. Barnett), Biosynthese (D. Boadella), Neo-Tantra, schamanische Ritualarbeit, die spirituelle Praxis des ZaZen und vieles mehr. Die Verfahren werden später als Bestandteil der Ausbildung detailliert dargestellt. Die Orgodynamik-Ausbildung soll dazu befähigen, vertiefte Erfahrungen mit der mentalen, emotionalen, körperlichen, energetischen und essenziellen Dimension des Menschseins zu machen und auf dieser Grundlage andere multidimensional zu begleiten. Das Ziel des Buches besteht in der Dokumentation, theoretischen Begründung und Auswertung des in 25 Jahren entwickelten Curriculums der Bewusstseinsschulung und -weitung namens „Orgodynamik“.

Dieser markenrechtlich geschützte Begriff greift das reichianische Konzept des Orgons als Lebensenergie auf, das sich mithilfe bestimmter Techniken dynamisch entfalten soll. Die auf drei Jahre angelegte Ausbildungsmethode kombiniert dazu zahlreiche „transformative“ Methoden der Körper- und Energiearbeit, um den Körper, die Gefühle, den Geist und die seelische Energie für eine größere Lebensenergie zu „öffnen“. Das „orgodynamische Methodenrad“ unterscheidet vier Grunddimensionen des Menschseins: Körper, Geist, Gefühl, Energie. Die vier Aspekte gruppieren sich in dem kreisförmigen Modell um die Mitte, die vage als „Tao“ oder „das Größere“ bezeichnet wird. Die Mitte wird absichtlich nur andeutungsweise beschrieben, um sie nicht auf eine bestimmte weltanschauliche Deutung festzulegen. Die vier gleichwertigen Dimensionen werden in der Orgodynamik als unterschiedliche „Tore“ zur Mitte verstanden. Durch die verschiedenen Körper-, Wahrnehmungs- und Meditationsmethoden sollen Verbindungen zu dem „Größeren“ hergestellt werden. Einen wesentlichen Grundgedanken ihrer experimentellen Vorgehensweise nennt die Autorin „Dekonstruktion“. Begriffliche und konzeptuelle Identifizierungen sollen dabei aufgegeben und losgelassen werden, um eine Verbindung zu dem Größeren geschehen zu lassen. Die Autorin fordert die Bereitschaft ein, an keiner Wahrnehmung, keinem Konzept und damit letztlich auch an keiner Methode festzuhalten, um offen zu bleiben für den Moment, das Unbekannte, das Größere. Die vielfältigen und ausführlich dargestellten Methoden stellt sie alle in den Dienst der „Bewusstseinsweitung“. Nach ihrer Überzeugung verweisen alle Methoden in ihrer multidimensionalen Verschränkung auf die Mitte. Das Ziel der Bewusstseinsweite wird dabei charakterisiert durch Präsenz, fließendes Gewahrsein und bewusste Bezogenheit.

Den beiden Kapiteln über die theoretische Begründung ihres Ansatzes ist ein Kapitel über die pädagogische Praxis der Entwicklungsforschung vorangestellt. Hier referiert die Autorin hauptsächlich den Ansatz ihres Doktorvaters Heinrich Dauber. Leider werden keine Querverbindungen zu anderen Ansätzen humanistischer Pädagogik hergestellt. Das umfangreichste fünfte Kapitel des Buchs stellt die methodisch-didaktische Umsetzung der zuvor ausgearbeiteten Theorie dar. Hier kommen viele Fallbeispiele zur Sprache. Die langjährigen pädagogisch-therapeutischen Praxiserfahrungen in der persönlichen Selbsterforschung und Gruppenführung vermitteln authentische Einblicke in die transpersonale Therapieszene.

Ein eigenes Kapitel ist der differenzierten Darstellung des dreijährigen Ausbildungs-Curriculums gewidmet. Dort wird auch ein Fragebogen vorgestellt, mit dessen Hilfe diese Methode anhand wissenschaftlicher Kriterien überprüft werden könnte. Leider ist der Fragebogen nicht angewendet worden, und der Leser erfährt auch nichts über die Anzahl und das Profil der bisherigen Ausbildungsabsolventen. Schade! Im letzten Kapitel soll am Beispiel des Themas „Eros“ verdeutlicht werden, wie die Ausbildungsmethode mit der Sehnsucht nach Liebe und Sexualität umgeht. In abschließenden Thesen wird gefragt, wie es wäre, wenn Eros erwachen und sich aus den „Mythen und archaischen Strukturen der biologischen Angstprägung“ lösen würde: „Wie würde unser Leben aussehen, wenn sich Eros als vitales Lebenselixier und Liebeskraft ungehindert, laut, leise, zart, wild, leidenschaftlich entfalten könnte?“

Das Buch bietet vielfältige Innenansichten und Reflexionen über die transpersonale Seminar- und Therapieszene. Die theoretische Begründung fußt allerdings einseitig auf den spekulativen Denkmodellen Ken Wilbers und seiner Schule. Es entspricht nicht den wissenschaftlichen Gepflogenheiten, dass die seit vielen Jahren intensiv geführten kritischen Diskussionen über Ansätze humanistischer Pädagogik und Psychologie (Hutterer, Browning, Eberwein, Kriz) überhaupt nicht vorkommen. Das humanistische Menschenbild kann wichtige Beiträge für Selbsterfahrung, Beratung und Psychotherapie beisteuern. Deshalb wurde zum Beispiel 2010 die „Arbeitsgemeinschaft humanistische Psychotherapie“ gegründet, die Methoden aus dieser Tradition als ein regelgerechtes Psychotherapieverfahren in den ambulanten Versorgungsstrukturen Deutschlands etablieren möchte. Einen weiterführenden Beitrag kann dieser Ansatz jedoch nur beisteuern, wenn er sich mit der aktuellen Theoriediskussion vernetzt. Ihn allein auf transpersonale Entwicklungsmodelle zu stützen, dürfte sich als kontraproduktiv erweisen. Ohne Zweifel hat die Autorin sich intensiv mit östlichen Meditationstechniken und reichianischer Körpertherapie beschäftigt und viele Menschen durch spirituelle Krisen hindurch begleitet. In dieser Hinsicht ist das Buch eine Fundgrube. Wissenschaftliche Erwartungen werden jedoch enttäuscht.


Michael Utsch