Neurotheologie

Naturwissenschaftler versuchen, dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur zu kommen. Mittlerweile ist durch verbesserte Messmethoden bekannter, welche Hirnregionen bei Meditation oder Gebeten besonders aktiv sind. Wenn es nachweislich eine biologische Basis für die Glaubensfähigkeit gibt und Spiritualität auch evolutionäre Vorteile mit sich bringt, ist der Mensch dann von Natur aus religiös? In dem neuen Wissensgebiet der sogenannten „Neurotheologie“ wird auch gefragt, ob religiöse Erfahrungen aus Fehlfunktionen des Gehirns entstehen. Ist Gott ein Produkt menschlicher Gehirnprozesse, oder werden reale Wahrnehmungen verarbeitet? Der noch junge Forschungszweig bearbeitet Fragen mit großen theologischen Implikationen. Dabei wird in manchen Fällen die Grenze zwischen einer naturwissenschaftlichen Analyse und einer auf weltanschaulichen Voraussetzungen beruhenden Deutung verwischt.

Die Entstehung eines neuen Wissensgebiets

Schon William James hat in seinem religionspsychologischen Klassiker „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ zu Anfang des letzten Jahrhunderts auf Zusammenhänge zwischen religiöser Erfahrung und ihrer biologischen Basis hingewiesen sowie die evolutionsbiologischen Vorteile des Glaubens und die zentrale Bedeutung des Gefühls beim religiösen Erleben herausgestellt. Der Begriff „Neurotheologie“ wurde 1984 durch einen Zeitschriftenaufsatz eines evangelikalen Autors im Magazin „Zygon“ eingeführt, der sich kritisch mit den übertriebenen Ansprüchen von Neurobiologen auf religiöse Deutungen ihrer Fakten auseinandersetzte. Bis heute sind die genauen Forschungsgegenstände und -ziele dieses Ansatzes unklar und die Grenzen zu benachbarten Disziplinen unscharf. Ähnliche Fragen werden auch in der Evolutionsbiologie sowie der Bewusstseins- und Meditationsforschung untersucht.

Wie alles bewusste Erleben hängen auch spirituelle oder religiöse Erfahrungen mit Hirnfunktionen zusammen. Im alten Irland wurde die Epilepsie „Saint Paul’s disease“ genannt – Krankheit des heiligen Paulus. Diese Bezeichnung verweist auf die jahrhundertealte Vermutung, Paulus habe an einer Epilepsie gelitten. Zur Begründung wird auf seine Konversionserfahrung verwiesen, das „Damaskus-Erlebnis“ (Apg 9,3-9): Der plötzliche Sturz, die zunächst reglose Position auf dem Boden und das anschließende selbstständige Aufstehen des späteren Apostels haben Forscher schon vor Jahrhunderten vermuten lassen, Saulus habe einen epileptischen Anfall erlitten. Auch anderen religiösen Genies und Religionsgründern wurde posthum von Neuropsychologen eine Epilepsie unterstellt: zum Beispiel Mose, der angeblich vor Gottes Antlitz zu Boden stürzte, Jesus, der bei seiner Taufe im Jordan eine Lichterscheinung hatte, Mohammed, dem ein Engel den Koran diktiert haben soll, oder Ellen Gould White, Mitbegründerin der Siebenten-Tags-Adventisten.

Die wichtigsten Studien der Neurotheologie

• „Gottesmodul“ im Schläfenlappen? Epileptische Anfälle in der Hirnregion des Schläfenlappens sind für den indischstämmigen amerikanischen Neurologen Ramachandran (2002) verantwortlich für intensive religiöse Erfahrungen. Angesichts der weltweiten Verbreitung von Religionen suchte er nach ihren biologischen Grundlagen. Dass es wirklich ein „Gottesmodul“ im Gehirn gibt, hält er für (noch) nicht erwiesen, den Erweis aber nur für eine Frage der Zeit. In Studien konnte er zeigen, dass Patienten mit Schläfenlappen-Epilepsien – im Gegensatz zu Gesunden – stärker auf religiöse Bilder reagieren als auf sexuelle oder gewalttätige Darstellungen. Daraus folgerte er, dass es im menschlichen Hirn ganz offensichtlich Schaltkreise gibt, die an religiösen Erfahrungen beteiligt sind. Dabei trennt er seine Forschungsaktivitäten aber streng von seinen persönlichen Überzeugungen: „Ich möchte als Wissenschaftler herausfinden, wie und warum religiöse Gefühle im Gehirn entstehen, aber das hat nicht die geringste Auswirkung auf die Frage, ob Gott wirklich existiert“ (229).

• Induzierte „Schläfenlappen-Mystik“? Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger (1999) hat durch Fragebogenuntersuchungen festgestellt, dass zwischen Visionen, über die Patienten mit Schläfenlappen-Epilepsien berichten, und mystischen Erfahrungen ein überzufälliger Zusammenhang besteht. Auch er verknüpfte religiöse Erfahrung mit bestimmten Hirnregionen und versuchte, durch elektromagnetische Reizung mystische Zustände herzustellen. Dazu konstruierte er einen Helm, der Magnetfelder erzeugte, und befragte danach weit über 500 Probanden. Seinen Hypothesen wurde jedoch vielfältig widersprochen. Unter strengeren Versuchsbedingungen, bei doppelblind durchgeführten Studien des Schweden Pehr Granqvist, konnten die Ergebnisse Persingers nicht bestätigt werden. Diese Studien deuteten vielmehr darauf hin, dass das religiöse Erleben mit den jeweiligen Voreinstellungen zusammenhing.

• Schnappschuss vom Nirwana? Andrew Newberg (2003) hat bei acht Buddhisten, die ihre tibetische Meditation im Labor durchführten, und bei drei betenden Franzikanerinnen durch Aufnahmen mit bildgebenden Verfahren herausgefunden, dass während der Phase intensivster selbstvergessener Meditation die Durchblutung des oberen Scheitellappens meist drastisch zurückging. Dadurch sei die Gehirnaktivität in dem Bereich reduziert worden, der für die räumliche Orientierung und die Unterscheidung des eigenen Körpers von der Umwelt verantwortlich sei. Meditation unterbinde also kognitive Impulse und Sinnesreize so stark, dass subjektiv ein Gefühl der Unbegrenztheit, Zeitlosigkeit und Verschmelzung im Sinne der All-Einheit entstehe. Durch den kurzfristigen Ausfall des Orientierungsareals könne das Gehirn nicht mehr zwischen dem eigenen Selbst und der äußeren Welt unterscheiden, was zum Eindruck mystischer Verschmelzung führe. Newberg und seine Kollegen haben viel öffentliche Aufmerksamkeit, aber auch Kritik auf sich gezogen, die hier angedeutet werden soll. Der Bonner Neurophysiologe Detlev Linke (2003, 82) moniert unter anderem, dass in der Auswertung Newbergs nicht der Moment des Reflektierens berücksichtigt worden sei. Der Versuchsaufbau ermögliche keine ungestörte Meditation, weil die Probanden nahe dem Höhepunkt ihres völligen Einswerdens ein Signal auslösen sollen, auf das hin eine radioaktive Substanz injiziert wird. Dieser Markierungsstoff setzt sich in den Gehirnzellen der Probanden fest und ermöglicht bildgebende Aufzeichnungen. Die Versuche vermitteln für Linke den Eindruck, dass hier weniger authentische Meditation und ihre neurologischen Auswirkungen als vielmehr die Inszenierung von Meditation zum Gegenstand der Diagnose wurde. Der Theologe Ulrich Eibach (2010, 42) gibt zu bedenken, dass sich bei einer Versuchsreihe dieser Art schon die tiefgreifenden interpretatorischen Unterschiede der tibetisch-buddhistischen und der franziskanisch-kontemplativen Tradition nicht niederschlagen könnten. Obwohl bei allen Meditierenden ähnliche hirnphysiologische Veränderungen gemessen wurden, interpretierten sie die erlebte Einheitserfahrung unterschiedlich: Während die meditierenden Nonnen sich eins mit Gott fühlten, empfanden die Buddhisten eine tiefe innere Leere. Das bedeute, dass nicht objektiv-messbare Veränderungen, sondern subjektive Erklärungsmuster die Erfahrung zu einer religiösen machten.

• Ein Gottes-Gen? Ein umstrittener Versuch stammt von dem berühmten amerikanischen Molekularbiologen Dean Hamer (2006). Der Forscher hatte Anfang der 1990er Jahre genetische Gründe für eine homosexuelle Orientierung vorgetragen, die später widerlegt wurden. Mit seinem neuen Buch soll der Beweis erbracht werden, dass die Fähigkeit zu glauben auf biologische Ursachen zurückzuführen sei. Bei einem bestimmten Gen, das unter anderem für den Gefühlszustand eines Menschen verantwortlich ist, entdeckte Hamer nach eigenen Angaben ein klares Muster: Fand er an einer bestimmten Stelle des Gens den Stoff Cytosin, hat dieser Mensch sehr wahrscheinlich religiöse Erfahrungen, fand sich dort der Stoff Adenin, waren solche Erfahrungen eher unwahrscheinlich. Allerdings warnte Hamer selbst vor falscher Deutung seiner Ergebnisse. Keinesfalls sei Spiritualität auf ein einziges Gen zurückzuführen, sondern müsse als Zusammenspiel vieler Gene betrachtet werden. Trotzdem hält er dieses VMAT2 genannte Gen für wichtig, weil es erkläre, wie sich der Glaube im Gehirn niederschlägt. Ob aber zuerst der Glaube und dann eine hirnphysiologische Reaktion oder zuerst die Gehirnchemie und daraufhin religiöse Gefühle vorhanden sind, darauf kann diese Forschung keine Antwort geben.

• Religiöse Erfahrung durch kognitive Deutung? Weder besondere Gefühle noch ein bestimmtes Gen, sondern kognitive Bewertungsprozesse identifizierte das Düsseldorfer Forscherteam von Nina Azari (2001) als entscheidenden Faktor der neuropsychologischen Religionsforschung. Sechs Mitglieder einer evangelikalen Freikirche und sechs Atheisten sollten den Psalm 23, ein Kinderlied sowie aus einem Telefonbuch vorlesen. Die Messungen ihrer Hirnaktivitäten im Kernspintomografen ergaben, dass bei den Christen während des Vorlesens ganz andere Hirnareale aktiviert wurden als bei den Atheisten. Vor allem jene Bereiche wurden bei den Christen aktiv, die zur Steuerung von Aufmerksamkeit, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Lernen, Erinnerung und für die Bewertung sozialer Beziehungen wichtig sind. Die Autoren schlossen daraus, dass es sich bei dieser religiösen Erfahrung primär um ein kognitives und nicht um ein emotionales Phänomen handele. Kognitive Bewertungsprozesse seien entscheidend am religiösen Erleben beteiligt.

• Religiöse Erfahrung durch soziale Zuschreibung? Eine dänische Forschergruppe um Uffe Schjoedt (2011) hat Hinweise dafür gefunden, dass Hirnregionen, die Aufmerksamkeit und kritisches Denken steuern, bei hochreligiösen Menschen in der Gegenwart charismatischer Leiter deaktiviert werden. 36 Versuchspersonen, von denen die eine Hälfte überzeugte Mitglieder einer Pfingstgemeinde, die anderen nicht religiös waren, sollten vorgetragene Fürbittgebete einschätzen. Die Gebete wurden von drei Personen gesprochen, einem Nichtchristen, einem Christen und einem Christen, dem die „Gabe der Heilung“ zugeschrieben wurde. Während des Zuhörens wurden die 36 Probanden einem Gehirnscan unterzogen. In Wirklichkeit waren alle drei Personen „normale“ Christen, die nach eigener Einschätzung über keine Heilkräfte verfügten. Nach dem Anhören der Gebete sollten die Probanden das Charisma jedes Beters bewerten. Die Hochreligiösen bewerteten den Sprecher, der ihnen mit der Gabe der Heilung vorgestellt wurde, als den charismatischen, während sie den Nichtchristen als am wenigsten charismatisch einschätzten. Der Gehirnscan ergab, dass Teile des präfrontalen Cortex, des Bereichs für kritisches Denken, weniger aktiviert wurden, während der „Heiler“ sprach. Das Gegenteil, eine Zunahme der Aktivierung dieser Hirnregion, wurde beobachtet, als der Nichtchrist sprach. Daraus schlossen die Forscher, dass die christlichen Teilnehmer ihre Gehirnaktivität gemäß ihren Erwartungen gegenüber den charismatischen Qualitäten oder der Heilkraft der Redner gesteuert hätten. Die Gehirnscans der nichtreligiösen Teilnehmer des Versuchs zeigten hingegen keine Aktivität in dieser Region, während sie den drei Rednern zuhörten.

Einschätzung

Der Begriff „Neurotheologie“ führt in die Irre, weil es keine neurologische Begründung der Theologie gibt. Dennoch hat sich die Bezeichnung eingebürgert und wird selbst von vielen Neurowissenschaftlern verwendet. Präziser sollte allerdings von der Neuropsychologie der Religiosität gesprochen werden. Diese Forschungsrichtung kann wertvolle Beiträge zu einem besseren Verständnis des religiösen Erlebens und Verhaltens liefern. Dabei sollte sie allerdings aufmerksam theologische Kritik zur Kenntnis nehmen wie die, dass eine Alltagsgestaltung aus der Kraft religiösen Glaubens mehr sei als eine meditative Gipfelerfahrung. Bei ihrer Hypothesenprüfung muss sie darauf achten, die Grenzen zwischen empirischen Versuchsergebnissen und ihrer weltanschaulichen Deutung nicht zu verwischen. In der Vergangenheit haben Forscher immer wieder versucht, mit ihren neurotheologischen Untersuchungen entweder die Existenz Gottes zu widerlegen oder sie zu beweisen. Wenn behauptet wird, Gott sei Teil des Bewusstseins und bestimme neuronale Netzwerkstrukturen im Gehirn (Newberg/Waldman 2010, 12), dann sind fachliche Unterschiede zwischen der neurowissenschaftlichen und theologischen Ebene nicht beachtet worden. Der Befund, dass die Emotionen und das Gehirn durch eine regelmäßige spirituelle Praxis nachweislich positiv beeinflusst werden, sollte nicht als Selbsterlösung missverstanden werden. Er verweist aber auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Übung.

Das neue Wissensgebiet befasst sich mit Fragen von theologischer Reichweite, die grundlegende Werte berühren (Ott 2011): Welche Gehirnvorgänge bringen Menschen dazu, an die Existenz und Macht übernatürlicher Wesen zu glauben? Auf welchen neurobiologischen Grundlagen basieren religiös motivierte Verhaltensweisen wie Altruismus, aber auch Fundamentalismus und Fanatismus? Wie lassen sich religiöse Erfahrungen und Glaubensüberzeugungen von pathologischen Vorstellungen und Wahnzuständen unterscheiden? Es ist wünschenswert, wenn in der weiteren Forschung neuropsychologische und theologische Einsichten angemessen verbunden und gemeinsame Antworten gesucht werden.


Michael Utsch


Literatur

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Hamer, Dean, Das Gottes-Gen. Warum uns der Glaube im Blut liegt, München 2006
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