Gesellschaft

Neue Umfrage bestätigt Einsichten der EKD-Perspektivkommission

Die „Identity Foundation“ ist eine gemeinnützige Stiftung, die 1998 von dem Leiterehepaar einer Düsseldorfer Kommunikationsagentur ins Leben gerufen wurde. Seit ihrer Gründung hat die Stiftung einige Studien und Projekte umgesetzt, die aktuelle Identitätsprozesse in Deutschland und Europa auf gesellschaftlicher Ebene beleuchtet sowie Entwicklungen in den Gebieten Wirtschaft, Management und Politik aufgezeigt haben. Im April 2006 hat sie nun die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung über „Spiritualität und Religiosität in Deutschland“ vorgelegt. In Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Hohenheim wurden auf einer repräsentativen Basis von eintausend Interviews untersucht, welche Bedeutung der Religion und Spiritualität gegenwärtig in Deutschland zugemessen wird. Dabei traten einige Ergebnisse zutage, die sich auf überraschende Weise mit den Einsichten der EKD-Perspektivkommission decken, obwohl beide Projekte völlig unabhängig voneinander durchgeführt wurden.

Fast zwei Drittel der Deutschen lassen sich demnach von religiösen und spirituellen Fragen ansprechen, als wirklich atheistisch bezeichnen sich nur gut 20 Prozent. Allerdings wird das Thema Religion sehr kontrovers diskutiert, was verschiedene gegensätzliche Standpunkte dokumentieren:

• Einerseits meint eine deutliche Mehrheit von fast 57 Prozent der Deutschen, dass eine religiöse Erziehung der Kinder für deren Entwicklung ausgesprochen förderlich ist und dass man mit Kindern ein „Gute-Nacht-Gebet“ einüben sollte. Auf der anderen Seite interessiert sich fast jeder zweite Deutsche für esoterische Fragen.

• Die Sinnsuche beschäftigt immer mehr Menschen. Schon ungefähr 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sind aktiv auf der Suche nach ihrer inneren Mitte. Damit zählen mehr als sechs Millionen Deutsche zur Gruppe „spiritueller Sinnsucher“, die besonders aus christlicher und anderer Mystik und Esoterik schöpfen, aber sich auch humanistischer Ansätze bedienen. Andererseits wurde die größte Gruppe mit 40 Prozent als „unbekümmerte Alltagspragmatiker“ beschrieben, die fast nur an ihrer eigenen Zufriedenheit und der wirtschaftlichen Lage interessiert sind.

• Die „Identity Foundation“ bezeichnet 10 Prozent der Deutschen als „Traditionschristen“, die sich eng mit einer Kirche und deren Lehren verbunden fühlen, während sie 35 Prozent den „religiös Kreativen“ zurechnet. Diese Gruppe sei nur noch locker mit dem christlichen Glauben verbunden und wenig konfessionell festgelegt. Der Glaube werde mit Hilfe zusätzlicher Erkenntnisse aus anderen Philosophien und/oder Religionen angereichert.

• Eine spirituelle Praxis ist für 30 Prozent wichtiger Bestandteil des Alltags, variiert in der konkreten Umsetzung jedoch sehr nach Altersgruppen. Während die jüngere Generation neuen spirituellen Strömungen gegenüber besonders aufgeschlossen ist und beispielsweise bereits jeder Zehnte meditiert (20- bis 29-Jährige) oder Yoga macht (40- bis 49-Jährige), ist für die ältere Generation das Gebet oder der Kirchenbesuch wichtiger.

Kaum überraschend ist der Befund, dass die große Mehrheit der Deutschen die wissenschaftliche Weltdeutung nicht befriedigt. Vielmehr glaubt jeder zweite, dass der Kosmos von einer geistigen Macht zusammengehalten wird und es nicht schaden kann, auf Holz zu klopfen oder einen Talisman bei sich zu tragen. 7,6 Prozent der Deutschen wünschen sich gar ein mystisches oder übersinnliches Erlebnis. Insgesamt unterstreichen die Untersuchungsergebnisse das Bedürfnis und die Sehnsucht nach persönlicher religiöser Erfahrung.

Ohne die Ergebnisse der referierten Studie kennen zu können – sie wurden erst später veröffentlicht, hat eine EKD-Perspektivkommission unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ Vorschläge zur Neugestaltung der Kirche vorgelegt (vgl. http://www.ekd.de/download/kirche-der-freiheit.pdf). Eindeutig fordert die Kommission die Kirche zu einschneidenden Veränderungen auf – es soll keinesfalls alles so bleiben wie es ist. Auch sollen nicht alle Aktivitäten gleichmäßig abgebaut werden – eine inhaltliche Neuausrichtung wird gefordert. Ein Kommentar im Berliner „Tagesspiegel“ appellierte kürzlich sogar an die politischen Entscheidungsträger, den radikalen Reformkurs der EKD zum Vorbild zu nehmen (6. Juli, 10). Im Gegensatz zur Regierung habe die evangelische Kirche nämlich „eine Vision, wo es hingehen soll – und sie hat den Mut dafür zu streiten: zurück zum Eigentlichen, zur Verkündigung des Evangeliums“.

Das Impulspapier ist durchdrungen von dem Willen, wieder klarer, kräftiger und hörbarer zum christlichen Glauben einzuladen. Dazu nehmen die Autoren interessanterweise besonders die Diakonie in den Blick: „Diakonisches Handeln muss stärker als bisher mit katechetischen Elementen verbunden werden, damit deutlich wird, wessen Geistes Kind es ist“. Und für das Jahr 2030 wird als Ziel formuliert, dass alle diakonischen Einrichtungen und Dienste in einer definierten Partnerschaft zu den Kirchengemeinden ihrer Region stehen sollen. Regelmäßige Fortbildungen sollen die Mitarbeitenden in Fragen des christlichen Zeugnisses schulen, und sofern nichtchristliche Mitarbeiter beschäftigt sind, sollen diese für eine bewusste Zuwendung zum Glauben geworben werden.

Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade die Diakonie mit ihrem medizinischen und pflegerischen Angebotsschwerpunkt auf ihr geistliches Profil hin angeschaut wird. Denn auf dem Gesundheitsmarkt ist seit einigen Jahren ein Wiederentdecken spiritueller Pflegehaltungen und Heilweisen zu beobachten. Ein traditioneller Ort, die „spirituellen“ Aspekte einer Erkrankung zu thematisieren, war traditionell die Klinikseelsorge. Mit dem Konzept „spiritual care“ hat hier ein bedeutsamer Perspektivwechsel stattgefunden. Nicht mehr die Kirchen bieten etwas an, sondern Patientenbedürfnisse fordern etwas ein! Schon 2002 stellte die Weltgesundheitsorganisation fest, dass eine Verbesserung der Lebensqualität Schwerkranker nur mittels frühzeitiger Erkennung und Behandlung von Schmerzen und anderer Probleme physischer, psychosozialer und spiritueller Natur möglich sei. In Zeiten qualitätszertifizierter Behandlung bildet nun auf einmal „spirtual care“ – man könnte das auch weltanschaulich neutrale Seelsorge nennen – eine wichtige Säule der Krankenbehandlung. Mit der weltanschaulichen Neutralität ist das natürlich in menschlichen Grenzsituationen so eine Sache: Kann man ohne Hoffnung zufrieden sterben? Auf diesem Gebiet sind nach wie vor buddhistische Angebote am meisten gefragt: Unter dem Label „Spirituelle Begleitung“ wird bundesweit ein umfangreiches und hochqualifiziertes Fortbildungsprogramm zur Sterbebegleitung aus buddhistischer Sicht durchgeführt (www.spcare.org/de). Ein Heidelberger Forschungsprojekt konnte für eine wissenschaftliche Überprüfung dieser Behandlungsmethode sogar eine viertel Mio. Euro bei der deutschen Krebshilfe einwerben. Dieses Beispiel verdeutlicht, warum eine christliche Profilierung diakonischer Angebote dringend nötig ist.

Man wundert oder ärgert sich, aber auch für Spirituelles wird heute schlicht ökonomisches Kalkül ins Feld geführt: Die Einbeziehung spiritueller Themen in die Krankenbehandlung könnte sich nämlich als ein Wettbewerbsvorteil herausstellen. Während bei öffentlichen Krankenhausträgern eher „Dienst nach Vorschrift“ zu erwarten sei, soll das christliche Profil konfessioneller Häuser durch ihre Pflegequalität und die Einfühlsamkeit des Personals überzeugen, meinte kürzlich ein Krankenhausmanager. Spiritualität als das Kapital der Diakonie – so soll christliche Pflege wieder zu einem „Markenprodukt“ werden.

In den Gedankenanstößen der Kommission ist viel von geistlicher Profilierung und dem Mut des Glaubens, Hoffens und Liebens die Rede. Der von manchen als altbacken empfundene Begriff „Frömmigkeit“ taucht in dem gut 100 Seiten starken Text 19 Mal auf und unterstreicht die Bedeutung der persönlichen Gottesbeziehung im Sinne eines biographisch-charakterlich adaptierten Glaubensstils, der in den Räumen der Kirche entdeckt, entwickelt und entfaltet werden soll.

Ein Umbau der Institution Kirche erscheint dringend angezeigt. Aktuelle Befragungsergebnisse wie die der „Sinus-Studie“ im Auftrag der katholischen Kirche sowie die Ergebnisse der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD bestätigen den sinkenden Einfluss der großen Kirchen mit ihren Angeboten. Die Rückschlüsse der Religionsforschung auf diesen Trend fallen sehr unterschiedlich aus. Während manche Forscher in Hinblick auf den ungebrochenen Esoterik-Boom mit dem Begriff „Respiritualisierung“ einen angeblichen Megatrend in der Gesellschaft identifiziert haben wollen (Hermann Denz [Hg.], Die europäische Seele, Wien 2002; Regina Polak, Religion kehrt wieder, Ostfildern 2006), halten andere die Wiederkehr der Religion für einen Mythos und bescheinigen der Gesellschaft ein relativ stabiles Grundbedürfnis nach religiöser Orientierung (Detlev Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos? München 2003; Ulrich Körtner, Wiederkehr der Religion? Gütersloh 2006).

Die enormen Umwälzungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich betreffen alle, auch die Kirchen. Das Impulspapier sieht darin die Chance, die Antworten des Glaubens in neuer Weise als persönlichen Halt und Trost zu verdeutlichen. Dabei sehen die Autoren weniger andere große Religionen oder Sekten als Konkurrenten für die christlichen Kirchen an, sondern vielmehr die Anbieter „kleiner Transzendenzen“ wie Wellness, Sport oder Meditation. Auch wenn hierzu andere Einschätzungen vorliegen – gerade für die Profilierung der christlichen Identität in einer multireligiösen Gesellschaft bietet die Weltanschauungsarbeit unverzichtbare Hilfsmittel an. Die Methoden des Dialogs und der Unterscheidung helfen dazu, sich seines eigenen Glaubens (wieder) zu vergewissern. Der Weg von einer postmodernen Patchwork-Religiosität zu authentischer Frömmigkeit ist nicht einfach, aber möglich – und sehr anzuempfehlen!


Michael Utsch