Freigeistige Bewegung

Neue Mitgliederzahlen

(Letzter Bericht: 11/2010, 420f) Die weitergehende Pluralisierung der religiösen Landschaft wirft die Frage auf, ob sich signifikante Veränderungen bei den Mitgliederzahlen freidenkerischer / atheistischer Organisationen ergeben haben. Die letzte Erhebung zu diesem Thema durch die EZW erfolgte vor knapp zehn Jahren im Zuge meiner Vorarbeiten zum EZW-Text 162 „Freidenker – Freigeister – Freireligiöse. Kirchenkritische Organisationen in Deutschland seit 1989“ (Berlin 2002). Ich habe nun die wichtigsten Organisationen erneut um Auskunft gebeten. Der Deutsche Freidenker-Verband (DFV) teilte mit, er habe bundesweit rund 3000 Mitglieder; der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) nennt eine Zahl von bundesweit 19 000 Mitgliedern (5200 in Berlin); der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) gibt als aktuelle Zahl 869 Personen an (größter Landesverband ist NRW mit 211, kleinster Thüringen mit lediglich 5 Mitgliedern); die Giordano Bruno Stiftung (GBS) zählt zurzeit 2400 Fördermitglieder, und der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW) teilte mit, dass er ca. 35000 Personen in Deutschland vertritt.

Diese Angaben sind erklärungsbedürftig. Beim Deutschen Freidenker-Verband gibt es seit vielen Jahren Hinweise darauf, dass der Altersdurchschnitt extrem hoch ist und es kaum gelingt, neue Mitglieder zu gewinnen. Es würde mich nicht wundern, wenn die tatsächliche Zahl der DFV-Freidenker deutlich unter den genannten 3000 liegt. Der HVD nennt eine Zahl, die sehr optimistisch erscheint; die Angabe zu Berlin würde eine nennenswerte Steigerung in den letzten acht Jahren bedeuten. Andererseits liegt die Zahl um ca. 7000 Personen unter der vor einigen Jahren selbst genannten Zahl im „Oeckl. Taschenbuch des öffentlichen Lebens“.Der IBKA berichtet, dass die Mitgliederzahl in den letzten Jahren kontinuierlich steigt, was hier durchaus plausibel erscheint. Die Giordano Bruno Stiftung spricht von einer stetigen Zunahme an Fördermitgliedern, was in Anbetracht der attraktiven und geschickten Öffentlichkeitsarbeit ebenso nachvollziehbar wäre. Man muss jedoch beachten, dass es sich sowohl bei der Giordano Bruno Stiftung als auch beim IBKA nicht um Weltanschauungsgemeinschaften, sondern um eine weltanschaulich geprägte Initiative bzw. um eine atheistische Bürgerorganisation handelt. Das Engagement in einer solchen Initiative verlangt weniger Verbindlichkeit und kommt damit der weit verbreiteten Unverbindlichkeit in der Gesellschaft entgegen. Auch kann man situationsbezogen mitarbeiten und sich dann schon bald wieder abwenden. Die Frage ist daher, welche Nachhaltigkeit dieses Engagement hat und welche Dauer die bundesweit entstehenden GBS-Regionalgruppen entwickeln werden. Schließlich teilt der DFW eine Zahl mit, die deutlich unter der im EZW-Text 162 genannten liegt. Auch das erscheint einleuchtend, zumal die (vielfach überalterten) Freireligiösen eine große Gruppe im DFW darstellen und folglich ein gewisser Mitgliederrückgang zu erwarten war. Eine Gesamtbewertung der Mitgliederzahl des DFW unter dem Aspekt des Atheismus ist nicht ganz einfach, da man die Freireligiösen dieser Gesinnung nicht einfach zurechnen kann. Die Angaben der befragten Organisationen sind aber auch interpretationsbedürftig. Zunächst ist festzuhalten: Die freidenkerischen / atheistischen Organisationen haben nach wie vor kaum Mitglieder. Selbst bei großzügiger Betrachtung wird man bundesweit höchstens ca. 20000 zählen – weniger als ein Tausendstel der Mitgliederzahl evangelischer Kirchen. Die Zahl wird noch bescheidener, wenn man berücksichtigt, dass viele engagierte Atheisten in mehreren Organisationen gezählt werden und z. B. als Mitglied des HVD die GBS unterstützen. Solche Mehrfachzählungen gibt es häufiger. Es sind also nicht die abstrakten Mitgliederzahlen säkularer Organisationen, die den Kirchen Sorgen bereiten müssten. Besorgnis könnte vielmehr hervorrufen, dass immer mehr Menschen sich innerlich von den Kirchen abwenden.

Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach bezeichnen sich nur noch 53 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder als religiös, 47 Prozent sind also unreligiös. Diese weit verbreitete Beliebigkeit in religiösen Fragen dürfte ein Grund dafür sein, dass Religion längst kein Thema mehr ist, an dem man sich reibt. Religion scheint in einigen Bereichen unserer Gesellschaft derart beliebig geworden zu sein, dass atheistische Organisationen gar kein Gegenüber mehr finden. So erklärt sich, warum die eingangs genannten Organisationen kaum Mitglieder oder Sympathisanten im Bereich der östlichen Bundesländer haben. Nirgends sind die atheistischen Organisationen so schwach wie da, wo auch die Kirchen schwach sind. Unter den atheistischen Organisationen haben im Osten Deutschlands (ohne Berlin und den sogenannten Speckgürtel) ohnehin nur die Jugendweiheverbände nennenswerte Mitgliederzahlen. Leider sah sich der Bundesverband Jugendweihe nicht in der Lage, mir genauere Auskunft über seine Mitgliedsverbände zu geben. Klar ist jedoch, dass diese weltanschaulich als blass bis beliebig beschrieben werden können. Die bescheidenen Mitgliederzahlen säkularer Verbände in Deutschland sind nur auf den ersten und zweiten Blick eine gute Nachricht für die Kirchen; bei genauer Betrachtung sind sie auch ein Spiegelbild wachsender Bedeutungslosigkeit von Kirche und Religion.


Andreas Fincke, Berlin