Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen

Freikirchen sind zu einem Thema kritischer medialer Diskurse geworden und werden dabei häufig in einen Zusammenhang mit der Ausbreitung evangelikaler Bewegungen und mit Fundamentalisierungsprozessen der christlichen Religion gestellt. Ein nicht geringer Teil der Informationsanfragen, die an evangelische und katholische Weltanschauungsbeauftragte gerichtet werden, bezieht sich auf neue christliche Gemeinschaftsbildungen. Die etablierten Kirchen und Gemeinschaften sind mit einer neuen stilistischen Vielfalt in den Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit konfrontiert. Migration, Mission und religiöse Globalisierung verschärfen nicht nur kulturelle, weltanschauliche und religiöse Pluralisierungsprozesse. Sie verstärken auch die innerchristliche Vielfalt. Menschen distanzieren sich heute von bestehenden Gemeinden und Kirchen. Zugleich lassen sich neue Sammlungsbewegungen, Gemeinschaftsbildungen und Gemeindegründungen beobachten, und zwar in bestehenden Kirchen und Freikirchen, zum Beispiel in geistlichen Gemeinschaften oder Richtungs- und Personalgemeinden, aber auch – in den letzten Jahrzehnten zunehmend – außerhalb von ihnen. An die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), ebenso an die Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) werden von einzelnen dieser Gemeinschaften Anträge auf Gastmitgliedschaft gestellt.

Die freikirchliche Tradition

In historischer Perspektive gehört die Entstehung von Freikirchen zu den Folgeerscheinungen der Reformation, wobei die Begrifflichkeit Freikirche „eigentlich nicht isoliert für sich genommen werden kann, sondern nur auf dem Hintergrund der Existenz von ‚Großkirchen‘ zu erfassen ist“ (Hubert Kirchner). Im Gegenüber zu den Volkskirchen betonen sie die grundlegende Verschiedenheit von Christen- und Bürgergemeinde, die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft und des persönlichen Bekenntnisses jedes Einzelnen, ebenso das Prinzip Freiheit der Kirche vom Staat. „Die Freikirche verlangt eine Entscheidung zur Mitgliedschaft ... es kann in erstaunlichem Ausmaß zur Laienmitarbeit … aber auch zur Anwendung von Kirchenzucht kommen. Die stets zu vollziehende Erneuerung der Kirche findet am urchristlichen Gemeindeleben ihre Ausrichtung. Freiwilligkeit und evangelistisch-missionarische Anstrengung sind zwei Seiten einer Münze. Auf christliche Erziehungsarbeit (Sonntagsschule, Gemeindebibelschule, Vacation Bible School) und Jugendarbeit wird großer Wert gelegt“ (Erich Geldbach, EKL).

Erst seit dem 19. Jahrhundert waren die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausbreitung verschiedener Freikirchen in Deutschland gegeben. Sie konnten bis heute zahlenmäßig nur eine begrenzte Resonanz erzielen, obgleich sie sich in ihren Grundforderungen auch als Alternative zu den evangelischen Landeskirchen und zur römisch-katholischen Kirche anboten und nicht selten durch ein intensives missionarisches Engagement in Erscheinung traten. In einer „zweiten“ Pluralisierungsphase entwickeln sich seit einigen Jahrzehnten außerhalb und neben den etablierten kirchlichen und freikirchlichen Strukturen alternative Formen christlicher Frömmigkeit, die ihren Ausdruck in eigenständigen Gemeinden, Denominationen und Konfessionen suchen, insbesondere im evangelikalen und pentekostal-charismatischen Kontext. In der Insidersprache redet man davon, dass neuer Wein in neue Schläuche gehöre, dass neue Frömmigkeitsformen sich chancenreich nur in neuen Strukturen verwirklichen könnten. Dabei beruft man sich etwa auf die Gemeindewachstumsbewegung (Church Growth) und deren Grundsatz, dass Gemeindegründung eine überaus effektive Missionsmethode sei. Inzwischen sind zahlreiche solcher Initiativen gestartet worden. Etwas verspätet wird damit das nachgeholt, was in der englischsprachigen Welt bereits länger erprobt wurde. Blickt man über den deutschen Kontext hinaus, z. B. nach England, wird deutlich, dass auch in etablierten Kirchen und Freikirchen zunehmend davon ausgegangen wird, dass die Bildung neuer, z. T. zielgruppenorientierter Gemeinden in gesamtkirchlicher Einbindung ein Weg sein könnte, sich neuen missionarischen und pastoralen Herausforderungen zu stellen und die Präsenz der Kirche in entkirchlichten Bereichen zu stärken.

Phänomene

Heute bezeichnen sich als Freikirchen nicht nur Gemeindeverbände, die in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) zusammengeschlossen sind, wie die Evangelisch-methodistische Kirche, der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, der Bund Freier evangelischer Gemeinden, die Arbeitsgemeinschaft mennonitischer Gemeinden in Deutschland, die Heilsarmee in Deutschland, die Kirche des Nazareners, der Mülheimer Verband Freikirchlich-evangelischer Gemeinden, die Gemeinde Gottes (Cleveland, pfingstlerisch), der freikirchliche Bund der Gemeinde Gottes (evangelikal, aus der Heiligungsbewegung kommend), der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP), im Gaststatus der VEF: die Evangelische Brüder-Unität (Herrnhuter Brüdergemeine), die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, die Anskar-Kirche, das Freikirchliche Evangelische Gemeindewerk. Vielmehr kann beobachtet werden, dass sich mehr und mehr neue Gruppen unter der Selbstbezeichnung „evangelische Freikirche“ etablieren, die eine organisatorische Beziehung zu den klassischen Freikirchen nicht kennen und in ihrem Selbstverständnis teilweise hervorheben, dass sie konfessionsunabhängig (nondenominational) sind. Die „neuen Freikirchen“ verstehen sich dabei nicht nur im Gegenüber zu evangelischen Landeskirchen und zur katholischen Kirche, sondern auch als Alternative zu den „alten Freikirchen“. Ihre Distanz zu den freikirchlich etablierten Kirchen kann kulturelle und religiöse Gründe haben. Wenn religiöse Gründe im Vordergrund stehen, fürchtet man beispielsweise, dass durch den Anschluss an etablierte Strukturen eine Verwässerung des eigenen Profils erfolgen könnte.

• Seit den 1980er Jahren sind allein in Deutschland mehrere hundert „konfessionsunabhängige“ (nondenominational) freie pfingstlich-charismatische Gemeinden entstanden, die teils klein und unbemerkt blieben, teils sich zu großen Zentren pentekostal-charismatisch geprägter Frömmigkeit mit weit ausstrahlender Wirkung entwickelten. Dieser erste Typ freikirchlicher Gemeinschaftsbildung konkretisiert sich u. a. in zahlreichen christlichen Zentren (Christliches Zentrum Berlin, Frankfurt, Ruhrgebiet, Wiesbaden u. a.), in Vineyard-Gemeinden (Aachen, Dresden, Hamburg, München, Speyer, Nürnberg u. a.), die als Gemeindegründungsbewegung, teilweise auch als innerkirchliche Laienbewegungen auftreten, in Gruppen, die sich unter dem Einfluss der auch in der charismatischen Bewegung umstrittenen amerikanischen Wort-des-Glaubens-Bewegung gebildet haben (Gemeinde auf dem Weg, Berlin; Gospel-Forum, Stuttgart, das sich zur größten Mega-Church in Deutschland entwickelt hat), in Calvary-Chapels (Siegen, Leipzig, Hannover, Görlitz, Münster u. a.), in International Christian Fellowship-Gemeinden (Augsburg, Berlin, Bielefeld, Freiburg, Karlsruhe, München, Nürnberg, Stuttgart u. a.), deren Ausstrahlungskraft in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist.

Zwischen Einzelgemeinden können netzwerkartige und freundschaftliche Verbindungen bestehen. Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen neuen unabhängigen charismatischen Gemeinden in Lehre und Frömmigkeitspraxis lassen sich gemeinsame inhaltliche Anliegen benennen: Anbetung, Lobpreis, Seelsorge, Evangelisation, Heilungsdienste; das Erfasst- und Erneuertwerden des ganzen Menschen wie auch der Gemeinde werden hervorgehoben. Dabei wird eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (vor allem Heilung, Prophetie, Glossolalie) bezogene erfahrungsorientierte Frömmigkeit akzentuiert, die in einzelnen Gruppen auch umstrittene exorzistische Praktiken, einen unrealistischen Heilungsoptimismus und die enge Verknüpfung von Evangelium, Erfolg und Wohlstand beinhalten kann. Diakonische Dienste werden in enger Zuordnung zum Evangelisationsauftrag praktiziert. Sozialformen sind u. a. Haus- und Gebetskreise, Glaubenskurse und Einführungsseminare, Anbetungs-, Heilungs- und Segnungsgottesdienste, Kongresse.

Vor allem junge Erwachsene und junge Familien finden in solchen Gemeinden Orte, an denen sie ihrem Glauben Ausdruck verleihen und ein Frommsein mit Begeisterung leben können, das bestimmt ist durch die Suche nach erfahrungsbezogener Glaubensvergewisserung und einer evangelistischen Praxis in der Kraft des Heiligen Geistes. Ein geografischer Schwerpunkt neuer Gemeinden liegt in (groß)städtischen Kontexten, wo die Lockerung der Kirchenbindung und der Abbruch christlicher Tradition am weitesten fortgeschritten sind. Ein zweiter Schwerpunkt bezieht sich auf Regionen, die durch den Pietismus und erweckliche Frömmigkeitsformen geprägt sind, wo vor allem junge Menschen die aus ihrer Sicht traditionelle Frömmigkeit verlassen und charismatische Ausdrucksformen des Glaubens aufgreifen.

• Ein zweiter, vergleichsweise weniger einflussreicher Typ neuer freikirchlicher Gemeinschaftsbildungen repräsentiert eine konservativ geprägte, evangelikal-bibelfundamentalistisch orientierte Richtung. Sie konkretisiert sich u. a. in der Konferenz für Gemeindegründung (KfG), die lockere Kontakte zu einigen hundert kleinen Gemeinden (freie Brüdergemeinden, freie Baptisten, Biblische Missionsgemeinden etc.) unterhält. In diesen Gemeinschaften herrscht häufig eine dezidierte Ablehnung landeskirchlicher Strukturen, die, wie auch die römisch-katholische Kirche, als „unbiblische Systeme“ angesehen werden. Dieser Typ setzt sich abgrenzend und kritisch mit in Deutschland populären evangelikalen Initiativen und Trends auseinander. Problematisiert werden z. B. die Gemeindewachstumsbewegung, Alpha-Glaubenskurse oder die evangelistische Aktion „ProChrist“ mit Satellitenübertragung in zahlreiche europäische Länder. Die KfG wendet gegen diesen modernen Evangelikalismus ein, dass Marketingmethoden mehr Gewicht hätten als Inhalte. Kritisiert werden auch das Zahlen- und Wachstumsfieber, die Betonung von kulturellen Anpassungsprozessen und der Verzicht darauf, Kontrastgesellschaft zu sein. Dem „modernen“ Evangelikalismus wird eine „evangelikal-bibelfundamentalistische“ Position entgegengesetzt. Pointiert wird für die Beibehaltung patriarchalischer Autorität und die Nichtberücksichtigung von Frauen in Leitungspositionen plädiert. Zur pfingstlich-charismatischen Bewegung hat dieser Typ ein distanziertes Verhältnis. Die Rezeption von Anliegen des Darbysmus spielt eine wichtige Rolle: im Verständnis der Bibel, der Kirche, der Heilsgeschichte.

• Seit den 1980er Jahren wächst auch die Zahl von Migranten- bzw. Einwandererkirchen kontinuierlich. Unabhängige christliche Gemeinschaftsbildungen aus anderen Kontinenten sprießen vor allem in städtischen Regionen wie Pilze aus dem Boden. Religionsführer von Großstädten und wissenschaftliche Publikationen dokumentieren diese Entwicklungen und zeigen, dass ein Teil der weltweiten Christenheit im europäischen Kontext angekommen ist. In Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln, München, Leipzig, Dresden oder Halle gehören koreanische, indonesische oder afrikanische Gemeinden zum Erscheinungsbild einer zunehmenden innerchristlichen Pluralisierung, die vonseiten der etablierten Kirchen nur begrenzt zur Kenntnis genommen wird. Spätestens wenn Migrationsgemeinden eine Kirchengemeinde darum bitten, das Gemeindehaus oder die Kirche nutzen zu dürfen, wird es unausweichlich, sich mit ihnen zu befassen. Im Blick auf das religiöse Leben zahlreicher christlicher Migrantinnen und Migranten herrscht in Kirche und Gesellschaft nicht selten eine große Unwissenheit. Es ist nicht leicht, an zuverlässige Informationen im Blick auf Mitgliedschaft, Organisationsformen, Mitgliederzahlen zu kommen. Viele dieser Gemeinden praktizieren in ihren gottesdienstlichen Versammlungen pfingstlich-charismatische Ausdrucksformen ihres Glaubens und verstehen sich im Kontext der Ausbreitung pentekostaler Bewegungen. Die christliche Religion spielt für das Selbstverständnis und die Lebenspraxis vieler Migrantinnen und Migranten eine wichtige Rolle und hat deshalb auch für das, was als Integration bezeichnet wird, eine wichtige Funktion.

• Der Zusammenhang von Religion, Migration und kultureller Identität verdeutlicht sich auch in zahlreichen eigenständigen Aussiedlergemeinden. In den zurückliegenden 25 Jahren sind aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion mehr als drei Millionen Menschen zugewandert. Ihre kulturelle und religiöse Prägung mussten sie in ihrer Heimat oftmals gegen Diskriminierung behaupten. Das Ankommen in der deutschen Gesellschaft ist ein langer Prozess. Dies gilt sowohl in kultureller wie auch religiöser Hinsicht. In der Diasporasituation sind die Lebens- und Frömmigkeitsformen durch kulturellen und religiösen Traditionalismus bestimmt. Bei „älteren Russlanddeutschen trifft eine rigide ... Moral auf die liberaleren Normen der einheimischen Gemeindeglieder. Alkohol, Rauchen, der offene Umgang mit Fragen der Sexualität, mitunter auch Kosmetika und modische Kleidung werden vielfach abgelehnt; die Frauen tragen im Gottesdienst Kopftuch und sitzen von den Männern getrennt“ (Stefanie Theis). Die öffentlichen Debatten über Schulverweigerung aus religiösen Motiven bzw. die Forderung nach Homeschooling unterstreichen teilweise unerledigte gesellschaftspolitische Aufgaben im Kommunikationsprozess zwischen Aufnahmegesellschaft und einzelnen Aussiedlergemeinschaften. Obgleich diese vielfach durch eine antimodernistische Theologie und Frömmigkeit geprägt sind, tragen sie zur Pluralisierung vor allem der protestantischen Frömmigkeit bei, auch dort, wo sie eine spezifische konfessionelle Orientierung (z. B. baptistisch, mennonitisch, lutherisch, pfingstlerisch) verkörpern, denn diese wird weithin unabhängig von bestehenden volks- und freikirchlichen Strukturen entwickelt. Die Integration in bestehende freikirchliche Gemeinden ist weithin nicht gelungen. Eine Partizipation am kirchlichen Gemeindeleben findet nur begrenzt statt, trotz zahlreicher Beispiele für Gastfreundschaft, Hilfestellungen bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten und zahlreichen diakonischen Projekten.

Auch wenn einzelne der genannten Gemeinschaftsbildungen ihre Zukunftsfähigkeit noch unter Beweis stellen müssen, zeigen die skizzierten Entwicklungen, dass das freikirchliche Spektrum des Protestantismus in den letzten Jahrzehnten an Gewicht gewonnen hat, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und den Mitgliedskirchen der VEF ist nur ein Teil derjenigen Gruppen vertreten, die sich als Freikirchen verstehen und bezeichnen. Eine Nähe und Verwandtschaft der neu entstandenen Gemeinschaftsbildungen ist am ehesten zur VEF und zur Deutschen Evangelischen Allianz gegeben. Zu den Mitgliedskirchen der VEF gehören ca. 280000 erwachsene Mitglieder. Die Zahl der freikirchlich geprägten Christen in Deutschland ist jedoch deutlich größer, als bisherige Statistiken es nahelegten. Sie wird zu verdoppeln sein. Präzise Daten liegen nicht vor. Es wird jedoch deutlich, dass sich in „neuen Freikirchen“ vor allem ein evangelikaler und pfingstlich-charismatischer Frömmigkeitstyp ausbreitet, dessen weltweite Resonanz auch im deutschsprachigen Kontext Europas erkennbar wird, wenn auch im Vergleich mit Afrika, Asien und Südamerika nur in begrenzter Weise. Unabhängige Gemeinde- und Kirchenbildungen sind für diesen Frömmigkeitstyp zu einem wichtigen Verbreitungsprinzip geworden. Ansatzweise zeigt sich auch in Europa, was in globaler Perspektive vielfach beobachtet werden kann: Christliches Leben scheint gegenwärtig am augenfälligsten in von den historischen Kirchen und Denominationen mehr oder weniger unabhängigen Gemeinschaftsgruppen, Gemeinden und Kirchen zu pulsieren.

Einschätzungen

Pauschale Orientierungen wird es für den Umgang mit neuen Gemeindebildungen nicht geben können. In der Begegnung mit pentekostal geprägten Gemeindeneugründungen sind andere Fragen relevant, als dies etwa im Blick auf Gemeindeneugründungen im Kontext eines ausgeprägten anticharismatischen Bibelfundamentalismus der Fall ist. Zu unterscheiden ist ebenso zwischen Gemeinschaftsbildungen innerhalb kirchlicher und ökumenischer Strukturen und solchen außerhalb.

Neue Gemeindegründungen tragen Züge unserer Zeit und Kultur. Sie folgen den Trends der Individualisierung, der Erlebnisorientierung, der Profilierung: Individualität statt Konvention, Erfahrungsorientierung statt Verkopfung, Profil statt Beliebigkeit. Die Akzente sind dabei in den Gemeinschaftsbildungen je verschieden. In Zeiten des Abbaus von Autorität wird nach der Aufrichtung von starker Autorität gefragt. Unübersichtlichkeit provoziert die Sehnsucht nach Verlässlichkeit, nach Klarheit, nach Verbindlichkeit, auch nach Abgrenzung. Das für alle protestantischen Kirchen charakteristische Schriftprinzip wird in zahlreichen neuen freikirchlichen Gemeinschaftsbildungen zum Verbalinspirationsdogma gesteigert und gewissermaßen in den Rang des Bekenntnisses erhoben, um anfechtungsfreie Gewissheit herzustellen. Auch wegen ihrer Orientierung an modernen Entwicklungen sind neue Gemeindebildungen eine chancenreiche Organisation von Religion in unserer Zeit. Dabei zeigt sich, dass die pentekostal-charismatisch orientierten Bewegungen gegenwärtig die größere Resonanz erfahren als traditionell evangelikale.

Ob und inwiefern neue Gemeinschaftsbildungen in ein Netzwerk ökumenischer Verbindlichkeit einbezogen werden können, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Der Lernprozess, sich als Teil einer größeren, durch Vielfalt gekennzeichneten Ökumene zu verstehen, steht manchen dieser Gruppen noch bevor. Andererseits wird man auch deutlich sagen müssen, dass ein „Wohlstands- und Gesundheitsevangelium“ nicht ökumenefähig ist, ebenso wenig wie eine gesetzesethisch orientierte christliche Praxis, die stilistische Fragen zu kanonischen erhebt.

In ökumenischer Perspektive werfen Missionsaktivitäten neuer Freikirchen, die auf vorgegebene Strukturen keine Rücksicht nehmen, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Mission und Ökumene auf. Ein überzeugendes missionarisches Zeugnis kann es nur gemeinsam geben. Missionarische Berufung und ökumenische Verantwortung gehören zusammen. Hinter neuen Gemeinschaftsbildungen stehen teilweise Konflikte und klärungsbedürftige theologische Voraussetzungen, die allerdings nur unscharf unter dem Stichwort Fundamentalismus zusammengefasst werden können. Zur dialogischen Begegnung mit neuen Gemeinschaftsbildungen gibt es keine Alternative. Ökumenischer Dialog ist die einzige Möglichkeit, Tendenzen fundamentalistischer Selbstabschließung wirkungsvoll zu begegnen.

Neue freikirchliche Gemeinschaftsbildungen sind freilich auch ein Protestphänomen gegen die fehlende Flexibilität etablierter Institutionen. Sie sind ein Antwortversuch auf die zurückgehende Bedeutung konfessioneller Identitäten und werfen die Frage nach der Gestalt und Verfassung unseres gemeindlichen und kirchlichen Lebens auf. Die Kirche darf ihren heutigen Auftrag nicht mit der Festschreibung ihrer Gemeindestrukturen von gestern verwechseln. Sie hat auf Erden keine Ewigkeitsgestalt, sondern eine Werdegestalt. In ausdifferenzierten modernen Gesellschaften braucht die Kirche eine Vielzahl von Sozialgestalten.



Reinhard Hempelmann


Literatur

Freikirchenhandbuch. Informationen – Anschriften – Berichte, hg. von der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF), Wuppertal 2000
Erich Geldbach, Freikirchen. Erbe, Gestalt und Wirkung, Bensheimer Hefte 70, 2., neu bearbeitete Auflage, Göttingen 2005
Erich Geldbach, Art. Freikirche, in: EKL3, Bd. 1, 1359-1362
Handbuch der missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden. Deutschland – Österreich – Schweiz, hg. von Reinhard Hempelmann in Verbindung mit Ingrid Reimer und Ulrike Liebau, Stuttgart 1997
Reinhard Hempelmann, Evangelikale Bewegungen. Beiträge zur Resonanz des konservativen Protestantismus, EZW-Texte 206, Berlin 2009
Hubert Kirchner (Hg.), Freikirchen und konfessionelle Minderheitskirchen. Ein Handbuch, im Auftrag der Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1987
Hans-Diether Reimer, Für eine Erneuerung der Kirche. Aufsätze, Berichte, Fragmente, Gießen 1996
Stefanie Theis, Religiosität von Russlanddeutschen, Stuttgart 2006