Islam

Neue Charta des Liberal-Islamischen Bundes (LIB)

Der Liberal-Islamische Bund hat sich zum diesjährigen Tag des Grundgesetzes (23.5.2017) eine Charta gegeben. Die „LIB-Charta“ betont die Freiheitsrechte des Einzelnen, insbesondere die Freiheit der Gedanken und der Meinungsäußerung, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Entscheidungsfreiheit in Fragen der Partnerschaft sowie der Eheschließung und der Familiengründung.1 Ausgangspunkt und Grundlage des LIB sind die im Grundgesetz und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Werte, weshalb die Unantastbarkeit der Würde des Menschen an erster Stelle genannt wird. Allen Menschen stünden unabhängig von Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion und sonstigen Überzeugungen sowie Herkünften die in diesen Grundlagen verankerten Rechte zu. Zu allen Punkten werden Stellen aus Koran und Sunna zitiert, besonders prominent der Koranvers Sure 17,70, der als Beleg für die Achtung der Menschenwürde dient: „Nun haben wir tatsächlich den Menschenkindern Würde verliehen ...“2

Der umfangreichste Teil der Charta ist die Präambel, die darlegt, dass zwischen den Menschenrechten und der Scharia kein Widerspruch bestehe. Denn die Scharia sei nicht als rechtliches Regelwerk zu verstehen, sondern als individueller ethischer Leitfaden der Gläubigen. Zweck der Scharia sei „das Herstellen gemeinwohlorientierter Zustände“, was nur kontextbezogen geschehen kann und daher nicht nur die Unterscheidung von „überzeitlichen Geboten“ (wie die Achtung der Menschenwürde) und historisch bedingten juristischen Regelungen notwendig macht, sondern auch die Interpretation dieser zeitbedingten Regelungen „im Lichte der überzeitlichen Gebote“, die damit zu entscheidenden Kriterien im hermeneutischen Prozess werden. Die Verwirklichung der Scharia wird somit ethischen Leitlinien unterworfen, die unzeitgemäße und dem heutigen Kontext zuwiderlaufende rechtliche Regelungen relativieren bzw. außer Kraft setzen können und sollen – ein im Grunde in jeder Generation erforderlicher und für das hoch flexible und auslegungsoffene System „Scharia“ charakteristischer Prozess. Mit dieser Hermeneutik sind die Menschenrechte, die das Ergebnis jahrtausendelanger Menschheitserfahrung sind und der kritischen Prüfung durch die Vernunft standhalten, nicht nur mit der islamischen Tradition vereinbar, sondern „als Bestandteil der Scharia anzusehen und nicht als etwas ‚Externes‘“, so die LIB-Charta.

Aus dieser Haltung heraus werden weitere Grundsätze formuliert: Gleichheit vor dem Recht, Schutz des Privaten, Ja zur Demokratie, zur Rechtsstaatlichkeit und zur pluralistischen Gesellschaft im „religionsoffenen Säkularismus“ des Grundgesetzes, schließlich: Schutz für Gottes Schöpfung.

Der LIB legt mit der Charta ein wichtiges und zukunftsweisendes Dokument vor und stellt sich damit ausdrücklich in eine Reihe „mit zeitgenössischen Reformtheologinnen und Reformtheologen“. Im Vergleich mit einem Positionspapier des LIB zum Thema „Was ist ein liberales Islamverständnis?“ von vor ein paar Jahren (2012), das die Frage der Liberalität im Blick auf das Verständnis von Koran und Tradition ausführlich diskutiert, fällt auf, dass in der Charta das Wort „liberal“ außer im Namen des Vereins überhaupt nicht (mehr) vorkommt. Der LIB zieht es vor, seine Auffassung von „liberal“ durch den Inhalt des Dokuments selbst zum Ausdruck zu bringen, nämlich „eine kritische und freiheitliche Annäherung“ an die eigene Religion und ihre Texte, was auch bedeute, den Glauben in Einklang mit den eigenen Lebensumständen zu leben und weiterzuentwickeln, ohne dabei an Spiritualität zu verlieren.3 Mit dem Hinweis darauf, den Islam ohne Verlust an Spiritualität zu leben, wird die Offenheit hin zu Muslimen mit traditionelleren und konservativen Islamauslegungen signalisiert, deren Beitrag zur „Vielfalt des Islam“ positiv gewürdigt wird. Man bezieht sich wertschätzend auf die islamische Tradition. Zugleich distanziert sich der LIB deutlich von „Reformern“, die z. B. mit den konservativen Verbänden härter ins Gericht gehen, wie etwa Abdel-Hakim Ourghi, Saïda Keller-Messahli oder Ahmad Mansour. Dies zeigte sich zuletzt an der umgehenden ablehnenden Reaktion des LIB auf die Freiburger Deklaration der „säkularen Muslime“ vom September 2016,4 die freilich auch ohne Koranzitate auskommt und nur einmal den Philosophen Ibn Ruschd (Averroës) zitiert. Was darüber hinaus die Inhalte und die Frage des hermeneutischen Umgangs mit dem Koran angeht, sind die Unterschiede zwischen LIB und „säkularen Muslimen“ (wie auch zum Muslimischen Forum Deutschland) allerdings nicht groß. Es gibt eine zunehmend lebendige „liberale“ islamische Szene mit unterschiedlichen Akteuren, die in den nächsten Jahren Positionen, Koalitionen, aber auch Abgrenzungen und mögliche soziale Räume aushandeln werden. Der LIB steht dabei gewissermaßen zwischen den scharf traditionskritischen Reformern und den konservativ geprägten großen Islamverbänden.

Gerade deshalb wäre es natürlich besonders interessant gewesen, schon in der Charta mehr über die genauere Identifizierung der sogenannten „überzeitlichen Gebote“ zu erfahren, die als ethisches Regulativ gegenüber problematischen historisch bedingten Normen in Anschlag gebracht werden, ebenso auch über das Zustandekommen der doch auffallenden Formulierung von den Menschenrechten als „Bestandteil der Scharia“ – einer Formulierung, die im islamistischen Repertoire, wenn auch mit ganz anderen Akzenten, zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Diskurses geworden ist.

Der LIB wurde 2010 unter dem Vorsitz von Lamya Kaddor gegründet (Sitz in Köln) und macht sich für die „Akzeptanz unterschiedlicher und selbstbestimmter Lebensgestaltungen“ ebenso stark wie für eine progressive, offene und unvoreingenommene Lesart des Islam, die die historischen und sozialen Kontexte bei der Auslegung des Korans berücksichtigt. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, es gibt weibliche Vorbeterinnen wie die Imamin Rabeya Müller. Gemeinden bestehen in Köln, Frankfurt, Berlin, Stuttgart und Hamburg; im Kreis Ennepe-Ruhr ist ein Standort im Aufbau. Die Mitgliederzahlen dürften sich im eher niedrigen dreistelligen Bereich bewegen. Erste Vorsitzende ist seit April 2016 die Islamwissenschaftlerin Nushin Atmaca.


Friedmann Eißler


Anmerkungen

  1. LIB-Charta: https://lib-ev.jimdo.com .
  2. Andere Übersetzungen: „Und Wir haben ja die Kinder Adams geehrt“, „Und wahrlich, Wir zeichneten die Kinder Adams aus“, „Und Wir haben den Kindern Adams Ehre erwiesen.“
  3. Selbstvorstellungsvideo auf www.youtube.com/channel/UCgl2a1CfmX0l0iuJ0PG91lA .
  4. Siehe MD 1/2017, 24-26.