Neuapostolische Forschung zum Entschlafenenwesen

Einleitung

„Um die Geschichte seines Landes zu beschreiben, muss man außer Landes sein“, glaubte Voltaire. Das gilt natürlich nur cum grano salis, denn sonst dürfte es keine Kirchengeschichte an theologischen Fakultäten geben. Trotzdem kommt einem das hinter Voltaires Bonmot stehende Misstrauen gelegentlich in den Sinn, wenn man propagandistische Selbstdarstellungen zur Geschichte von Religionsgemeinschaften liest. Die Fähigkeit, geistig „außer Landes zu gehen“, also historisch und kritisch distanziert zur eigenen Geschichte zu arbeiten, ist Grundvoraussetzung einer nach außen und innen gesprächsfähigen und mündigen Theologie. Seriöse historisch-kritische Forschung unterminiert exklusive Absolutheitsansprüche.

Innerhalb der von Naherwartung geprägten Neuapostolischen Kirche (NAK) war das Interesse an der eigenen Geschichte lange Zeit gering und trat vor allem als fromme Selbstvergewisserung in Erscheinung. Man ahnte wohl auch, dass Geschichtsforschung verunsichern und liebgewordene Gewissheiten infrage stellen kann. Tatsächlich gab es, als man in der NAK mit Geschichtsforschung einmal begonnen hatte, in den letzten Jahren heftige Auseinandersetzungen um beschönigende Geschichtsdarstellungen vonseiten der Kirchenleitung.

Seit einigen Jahren hat sich nun die Basisinitiative des „Netzwerks Apostolische Geschichte“ (vgl. MD 11/2013, 424-427) Quellensammlung und -forschung zum Ziel gesetzt. Die meisten Beteiligten sind keine studierten Historiker, sondern arbeiten autodidaktisch. Es werden auch heiße Eisen und zentrale Glaubensinhalte angepackt (z. B. die „Botschaft“ des Stammapostels Johann Gottfried Bischoff). Wenn die Hierarchie der NAK heute offiziell solche Anstrengungen der eigenen Basis fördert, und zwar ohne Kontrolle über die Inhalte und Ergebnisse der Arbeit zu haben, zeigt dies eine grundsätzlich neue Kultur im Umgang mit kritischer Reflexion und Forschung. Bemerkenswert ist demnach zunächst einmal die reine Existenz von Texten wie dem folgenden. Der Verfasser, Sebastian Müller-Bahr, ist Priester in der NAK und Mitgründer sowie zweiter Vorsitzender des Netzwerks Apostolische Geschichte.

Das sogenannte „Entschlafenenwesen“, dessen Genese Müller-Bahr hier nach den Quellen darstellt, gehört zu den strittigsten Themen in den ökumenischen Gesprächen mit der NAK. In der NAK ist es ein Pfeiler der gottesdienstlichen und seelsorgerischen Praxis, für Kritiker aus anderen Kirchen eine klassische „Sonderlehre“.

Das sorgfältige Quellenstudium zeitigt manche interessanten Einblicke. Das betrifft z. B. den Ursprung und die Grundlagen des Entschlafenenwesens. In den offiziellen Darstellungen wird als Begründung heute auf zwei Aspekte verwiesen, nämlich die Bibel (1. Kor 15,29; 1. Thess 4,15-17 u. a.) und die Einsichten bzw. Offenbarungen des Stammapostels. Müller-Bahrs Text zeigt, dass das Entschlafenenwesen seine Entstehung im 19. Jahrhundert ganz wesentlich den Totenerscheinungen und Weissagungen in den frühen Gemeinden der apostolischen Bewegung verdankt und dabei zeitlich mit dem Spiritismus zusammenfällt und auch manche seiner Motive übernimmt. Solche Erscheinungen toter Seelen waren bis ins späte 20. Jahrhundert hinein ein zentrales Motiv in der Praxis des Entschlafenenwesen. Auf äußere Kritik rea­gierend haben NAK-Vertreter mit Verweis auf diese „Gesichte“ sogar die Notwendigkeit einer biblischen Begründung rundher­aus bestritten.

Die Quellen zur Frühzeit werfen außerdem Zweifel an der späteren Absolutsetzung von Lehrinhalten auf. Anfangs war man offener, denn in den ersten Jahren waren Entschlafenensakramente nur regional verbreitet. Einige Apostel praktizierten sie, während andere sie ignorierten oder ablehnten. Und mindestens einmal scheint es breite Bedenken gegen das Handeln des Stammapostels gegeben zu haben. Als Hermann Niehaus 1916 Amtsträger für das Jenseits einsetzte, was jeder Logik der bisherigen Lehre widersprach, war das offenbar so umstritten, dass man es mit schriftlichem Stillschweigen überging. So sind hierzu kaum schriftliche Quellen erhalten.

Erst später verschwanden solche Ansätze pluraler Theologie. Wie bei vielen anderen Themen zeigt sich auch hier wieder, dass die NAK bis zum Beginn der vorsichtigen ökumenischen Öffnung vor zwanzig Jahren in Gestalt, Liturgie und Theologie extrem stark von einem Mann geprägt war: Stammapostel Johann Gottfried Bischoff (1930 – 1960). Die Quellen offenbaren eine stete Zunahme der Vollmacht des Stammapostels unter ihm. Mehrere der ökumenisch kontroversesten Lehrinhalte sind überhaupt erst nach 1945 entstanden. Erst jetzt bedurften nicht-neuapostolische Taufen der Bestätigung durch einen Apostel. Und erst Bischoff übernahm von Jesus Christus die Funktion, das Totenreich vor den Entschlafenengottesdiensten jeweils „aufzuschließen“, damit die Seelen der Toten zu den Entschlafenensakramenten hinzutreten konnten.

Es liegt auf der Hand, dass die Offenlegung solcher Zusammenhänge neue Freiheiten im Umgang mit der Lehre erschließen kann. Das Vorfindliche ist nicht ein unveränderliches Gesetz ewiger Wahrheit, sondern hat zu einem (relativ späten) bestimmten Zeitpunkt Gestalt gewonnen. Es kann daher diese Gestalt auch wieder verändern. Zugleich spürt man, dass solche historischen Einsichten die Wahrnehmung des Stammapostels verändern können – ein heikler Punkt.

Müller-Bahrs Text zeigt, wie der Reformprozess der letzten 15 Jahre durch ein neues Selbstverständnis der jeweiligen Stammapostel eingeleitet wurde. Insbesondere Stammapostel Richard Fehr begann sehr viel bescheidener von der eigenen Amtsvollmacht und Erkenntnis im Hinblick auf das Totenreich zu denken, hieraus die Konsequenzen zu ziehen und diese auch den Gläubigen zuzumuten. Vielleicht wird weitere Forschung seinen Anteil am ökumenischen Öffnungsprozess stärker gewichten müssen als bisher. Zumindest wird die lange Vorgeschichte des sogenannten „Info-Abends von Uster“ 2006 unter Stammapostel Wilhelm Leber deutlicher.

An einzelnen Stellen kommen auch bislang unbemerkte Veränderungen in den Blick. So wurde lange gelehrt, dass es für den Heilszugang einen Unterschied ausmache, ob man sich im Diesseits oder im Jenseits zum neuapostolischen Glauben bekenne. Erst der Katechismus von 2012 räumt damit offiziell auf. An anderen Stellen, so Müller-Bahr, werden heute Neuformulierungen gebraucht, denen aber bislang keine sichtbare inhaltliche Neubestimmung der Theologie entspreche. Auch so trägt Quellenforschung zum kritischen innerkirchlichen Diskurs bei. Untersuchungen wie die vorliegende lassen noch viel Raum für alternative Interpretationen, die Entdeckung von Querverbindungen. Die Untersuchung deutet auch neue Themen und Teilfragen an, die sicher einmal erschlossen werden, zum Beispiel wann und warum Frauen nicht mehr als Stellvertreterinnen für die Totensakramente zugelassen wurden. So entstehen Grundlagen für die künftigen theologischen Debatten im ökumenischen Diskurs und innerhalb der NAK.

Die Quellenlage ist durch das Archiv Brockhagen sehr gut, und die Quellen sind auch öffentlich zugänglich.


Kai Funkschmidt