Tilman Matthias Schröder

Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie

Tilman Matthias Schröder, Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie, Contubernium, Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 67, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2008, 561 Seiten, 90,00 Euro.


Die Habilitationsschrift des Stuttgarter Hochschulpfarrers Tilman Schröder im Fach Kirchengeschichte ist eine Fundgrube für das Arbeitsfeld der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) und der evangelischen Weltanschauungsarbeit insgesamt. Allerdings ist die 2007 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene Arbeit auch umfangreich und erfordert einige Lesezeit, wobei dem Autor glücklicherweise ein flüssiger Stil eigen ist. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Reichsgründung 1871 bis zum Ersten Weltkrieg; dazu kommen die früheren Entwicklungen des 19. Jahrhunderts mit in den Blick.

Schon in der Einleitung entwirft der Autor ein Zeitbild, das merkwürdig aktuell anmutet, wenn er davon berichtet, wie der Vorsitzende der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Rektor der Universität Berlin, Emil Du Bois-Reymond, am 25. Januar 1883 das im Jahr zuvor verstorbene Akademiemitglied Charles Darwin würdigte. „Für mich ist Darwin der Kopernikus der organischen Welt“, stellte Du Bois-Reymond fest. Er löste damit eine Flut von Schmähungen der „reaktionären und klerikalen Organe“ aus, wie der Laudator danach klagte. Der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker brachte die Sache ins Preußische Abgeordnetenhaus und wurde in seiner Empörung von der katholischen Zentrumspartei unterstützt. Allerdings hatte der politische Sturm für Du Bois-Reymond keine Folgen. Kaum ein Naturwissenschaftler zweifelte damals noch ernsthaft an Darwins Abstammungstheorie. Und an seiner Selektionstheorie (der kausalen Erklärung für die Evolution) zweifelten so viele, dass man mit Angriffen auf sie wenig Aufmerksamkeit erregen konnte. Zu den Zweiflern gehörte auch Rudolf Virchow, zusammen mit Hermann von Helmholtz sicherlich der einflussreichste Naturwissenschaftler seiner Zeit. Virchow schaltete sich mit einer auch aus heutiger Sicht klugen und ausgewogenen Entgegnung an Stoecker in die Debatte ein. Er begründete die Notwendigkeit einer „mechanistischen“ Sicht für die Naturwissenschaft und führte aus, dass daraus kein Materialismus und keine Religionskritik folge, womit er sich von seinem Zeitgenossen Ernst Haeckel abgrenzte. Virchow nahm sich mit Recht heraus, den Theologen Stoecker theologisch zu belehren, indem er ihn darauf verwies, dass eine zeitgemäße Exegese des biblischen Schöpfungsberichts an Lehre und Praxis des Christentums nichts ändere.

Solche oder ähnliche Debatten werden zwar in deutschen Parlamenten 2009 nicht mehr ausgetragen, wohl aber in den USA. Das Abgeordnetenhaus des Staates Utah kam 2006 in einer Debatte um den Kreationismus zu dem Ergebnis, dass Gott kein Problem mit der Naturwissenschaft habe. Die Repräsentanten von Utah mögen damit ebenso richtig liegen wie Virchow vor mehr als 120 Jahren. Aber die protestantische Theologie der Kaiserzeit hatte sehr wohl ein Problem mit der Naturwissenschaft. Sie konnte von ihrer Ausrichtung her nicht gegen die Wissenschaftsfreiheit sein – das war aus konfessioneller Perspektive Sache der römischen Konkurrenz –, aber mit den Resultaten dieser Freiheit hatte sie einige Mühe.

Der Hintergrund des apologetischen Engagements der Theologien vor und um 1900 war ein phänomenaler Aufstieg der deutschen Naturwissenschaft aus der provinziellen Rückständigkeit des frühen 19. Jahrhunderts zu einer historisch einmaligen, weltweiten Vormachtstellung. Das „Zeitalter der Wissenschaft“, das von Du Bois-Reymond euphorisch ausgerufen wurde, sorgte einerseits für nationalen Stolz im „verspäteten“ deutschen Nationalstaat, andererseits aber auch für kulturelle und politische Spannungen. Das umfangreiche, kirchengeschichtlich zentrale Kapitel 2 schildert ab Seite 41 diese Entwicklung und ihre kulturellen Folgen anhand der jährlichen Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, einer 1822 von Lorenz Oken gegründeten Vereinigung, deren Treffen über Jahrzehnte Tausende von Teilnehmern anzogen. Die ausführliche, mit interessanten und nicht selten amüsanten Details angereicherte Schilderung dieser jährlichen Großereignisse sträubt sich gegen eine Kurzfassung, man muss sich die Zeit zum Nachlesen nehmen. Erwähnt sei nur der in der Sitzung von 1854 in Göttingen ausgetragene „Materialismusstreit“, der die ganze (gebildete) Nation beschäftigte (57ff). Der bereits erwähnte Emil Du Bois-Reymond wies demgegenüber in seiner Rede „Ueber die Grenzen des Naturerkennens“ von 1872 einen Weg der Versöhnung. Was er „methodischen Materialismus“ nannte, heißt heute „methodischer Naturalismus“ und gilt als Grundlage der Forschung, ohne dass daraus (so Du Bois-Reymond) ein naturwissenschaftlicher Weltanschauungsanspruch folgt.

Anschließend stellt Schröder die bekannten Biographien von Rudolf Virchow und Ernst Haeckel in den Zusammenhang der Sitzungen, die von der prägenden Persönlichkeit Virchows über Jahrzehnte dominiert wurden. Im Kulturkampf gegen die katholische Kirche spielte er eine wichtige Rolle, indem er die Autorität der Naturwissenschaft auf Seiten von Staat und Protestantismus gegen den Ultramontanismus mobilisierte. Auf der Versammlung von 1877 in München kam es zum Showdown zwischen dem „zahmen“ Darwinisten Virchow, und dem „wilden“ Darwinisten Haeckel, dessen Religionskritik Virchow für unbegründet und politisch gefährlich hielt. Im Nachhinein geurteilt behielt Haeckel naturwissenschaftlich schließlich mehr oder weniger Recht, aber philosophisch und politisch hatte Virchow, obwohl selbst Materialist, die besseren Argumente. Das ist ein Fazit, das vermutlich auch für Haeckels späten Nachfolger Richard Dawkins gelten dürfte.

Der Autor entfaltet die Landschaft der apologetischen Reaktionen des Protestantismus in Kapitel 3 (177ff) unter dem Titel „Die herausgeforderte Theologie“ immer wieder auch am Beispiel des Umgangs mit Charles Darwins Werk. Er macht deutlich, wie stark erkenntnistheoretisch (Albrecht Ritschl) und weltanschaulich-systematisch die damalige Theologie ausgerichtet war und wie weit die Anerkennung der Naturwissenschaft in ihrem eigenen Recht gediehen war, aber auch, wie stark diese Linie durch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgebrochen wurde. Einige Namen und Stichworte dazu: Auf den Seiten 185ff wird der „Berliner Kirchenstreit“ nach 1860 behandelt, in dem deutlich wurde, wie schwer sich weite Teile des Protestantismus damit taten, dass Wissenschaft und Technik, ebenso wie die politische Liberalisierung, eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage von Kirche und Staat nicht mehr erlaubten.

Auf den Seiten 244ff wird beschrieben, wie sehr das „Zauberwort Entwicklung“ um die Jahrhundertwende die Theologie beschäftigte, und zwar sowohl stammesgeschichtlich im Sinne Darwins als auch in Bezug auf die individuelle Entwicklung. Der Vitalismus (später Neovitalismus nach Hans Driesch) schien es zu erlauben, entgegen dem Votum Virchows und gegen Haeckel einen wesenhaften Unterschied zwischen der belebten und der unbelebten Natur zu konstruieren und „mechanistische“ Erklärungen zu verwerfen. Manche Theologen folgten dem Theosophen Hans Driesch, der auf den Darwinismus zuversichtlich „Leichenreden“ hielt – vorschnell, denn die Triumphe der Selektionstheorie standen mit dem Aufstieg der molekularen Genetik erst noch bevor. Mausetot war danach nicht der Darwinismus, sondern der Vitalismus. Das konnte allerdings vor 1914 niemand wissen.

Ernst Haeckels „Welträthsel“ (287ff) machte den Monismus selbst zu einer Art Religion und verschob die Debatte auf eine andere Ebene. Sie wird von Schröder ebenso aufgenommen wie die Beiträge von Rudolf Otto (314ff) und Karl Heim (332ff) zum Thema „Theologie und Naturwissenschaft“ im engeren Sinn. Letztere stehen unter der Überschrift „Neue Versuche der Verständigung“, die Fortschritte signalisiert, so dass das theologische Bemühen der Zeit jedenfalls nicht als vergeblich gelten kann.

Schließlich muss noch Kapitel 4 (381ff) erwähnt werden, das den „Weltanschauungskampf“ um Glaube und Naturwissenschaft anhand von Ernst Haeckels Monistenbund, der freireligiösen Bewegung und der protestantischen Apologetik zwischen 1900 und 1918 beschreibt. 1880/81 entstand aus mehreren Vorgängergruppen der Internationale bzw. Deutsche Freidenkerbund. 1906 gründete der zwei Jahre zuvor auf dem Internationalen Freidenker-Kongress in Rom zum „Gegenpapst“ ausgerufene Ernst Haeckel in Jena den Deutschen Monistenbund. Zahlenmäßig blieb der Bund auf einige Tausend Mitglieder beschränkt. Doch er provozierte apologetische Reaktionen, die mit einer heute kaum mehr vorstellbaren Leidenschaft der „Volksaufklärung“ verbunden waren.

Der von Eberhard Dennert ins Leben gerufene Keplerbund verbreitete sowohl apologetische Schriften für die Diskussion der Gebildeten als auch Material für die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung. Bernhard Bavink gelang es später, ihn zu einer Plattform des Dialogs zwischen Naturwissenschaft, Theologie und Philosophie zu machen. Die prägenden Gestalten des „Weltanschauungskampfs“ Eberhard Dennert und Bernhard Bavink sind heute vergessen, ihr Werk (und ihr Bund) überstanden die Zeit des Nationalsozialismus nicht. Dass ihr „Weltanschauungskampf“ dennoch mit den heutigen Themen der EZW viel zu tun hat, wurde bereits angemerkt und bedarf keiner näheren Begründung.

Jedenfalls wird das von Schröder selbst formulierte Ziel seiner Untersuchung, „die Gesamtentwicklung des beiderseitigen Verhältnisses im deutschen Kaiserreich darzustellen und die jeweiligen naturwissenschaftlichen und theologischen Positionen herauszuarbeiten“ (15), mehr als erreicht. Seine Wanderschaft durch die Jahrzehnte gelehrter Debatten, auf die der Autor den Leser mitnimmt, macht einerseits deutlich, wie viele der Fragestellungen und Orientierungen, mit denen die kirchliche Weltanschauungsarbeit heute noch zu tun hat, in der Kaiserzeit bereits angelegt wurden. Die Zerstückelung der Moderne in abgegrenzte Epochen von der Spät- zur Postmoderne verliert entsprechend an Plausibilität. Allerdings wird ebenso deutlich, wie offensiv, wie zukunftsgewiss, trotz der kulturellen Verunsicherung im Fin de siècle, der Wissenschaftsglaube damals noch auftrat und wie defensiv ausgerichtet der heutige „neue Atheismus“ im Vergleich daherkommt, obwohl man seine Themen und Thesen teilweise kaum von denen Ernst Haeckels und Ludwig Büchners („Kraft und Stoff“) unterscheiden könnte. Auch Richard Dawkins ruft das kommende Zeitalter der Wissenschaft aus, auch er sagt das Ende der Religion voraus. Aber er bewegt sich, im Unterschied zu Du Bois-Reymond und Ernst Haeckel, damit nicht an der Spitze der Forschung, sondern eher am Rand der Clownerie.

Nebenbei: Dass der Begriff „Weltanschauung“ in der heutigen Bedeutung – den er auch im „Firmennamen“ der EZW hat – aus der Epoche des „Weltanschauungskampfes“ stammt, wird bereits auf den Seiten 9ff erläutert. Im Unterschied zum Sprachgebrauch der Romantik setzt er nämlich Weltanschauungen im Plural voraus und weist auf eine Kultur hin, in der unterschiedliche Sinn- und Existenzdeutungen um öffentliche Geltung ringen. Erst als um 1900 eine einheitliche, christliche Sicht von Mensch und Welt nicht mehr angenommen werden konnte, wurden Weltanschauungen bedeutsam – nicht zuletzt für die protestantische Theologie. Sie sind es heute mehr denn je.


Hansjörg Hemminger, Stuttgart