Matthias Petzoldt

Naturalistischer Szientismus und religiöse Indifferenz

Auf dem Hintergrund der aus den Naturwissenschaften, speziell aus der Biologie stammenden Evolutionstheorie erhebt heute ein naturalistischer Szientismus den Anspruch einer Weltanschauung, die alles erklären kann. So erleben wir in der Gegenwart etwas Ähnliches wie den Monismus2 vor hundert Jahren. Mit diesem geschichtlichen Vergleich sei zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass der Atheismus, der sich heutzutage als ein neuer in Szene setzt, gar nicht so neu ist.3

Atheistischer Bekenntnisfanatismus

In der Sache ist an jenem modernen Monismus des gegenwärtigen Atheismus unter anderem Folgendes zu beklagen:

  • Die Sinnfrage wird naturalistisch wegdiskutiert. Richard Dawkins spottet: „Einem langweiligen Klischee zufolge ... beschäftigt sich die Naturwissenschaft mit Fragen nach dem Wie, während nur die Theologie die Voraussetzungen mitbringt, Fragen nach dem Warum zu beantworten. Was um alles in der Welt ist eine Frage nach dem Warum? Nicht jeder Satz, der mit dem Wort ‚Warum’ beginnt, ist eine legitime Frage. Warum sind Einhörner innen hohl? Manche Fragen verdienen einfach keine Antwort.“4 „Warum sollen wir als Naturwissenschaftler keine Kommentare über Gott abgeben? Und warum ist Russells Teekanne oder das fliegende Spaghettimonster nicht ebenso immun gegenüber naturwissenschaftlicher Skepsis?“5
  • Zu beklagen ist weiterhin die Wissenschaftsgläubigkeit dieses sich naturwissenschaftlich ausgebenden Atheismus, die die Erkenntnisgrenzen verkennt, denen die Wissenschaften (hier: die Naturwissenschaften) durch ihren je spezifischen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand unterliegen – eine Wissenschaftsgläubigkeit, die zu einem „Wissenschaftswahn“ führt, wie ihn z. B. jüngst Rupert Sheldrake mit seinem gleichnamigen Buch kritisiert.6
  • Vor allem ist der Bekenntnisfanatismus anzusprechen, mit dem diese Wissenschaftsgläubigkeit öffentlich vertreten und gar missionarisch verbreitet wird. Mit dieser Bemerkung will ich freilich nicht das Phänomen kritisieren, dass Weltanschauungen wie Religionen bekenntnismäßig auftreten. Nur ist an dieser Stelle die Problematik festzuhalten, dass Vertreter von Wissenschaften diese als Weltanschauung ausgeben. Auch will meine Bemerkung nichts an Bekenntnissen als solchen kritisieren. Wir wissen aus der Erfahrung christlicher Glaubenstradition nur zu gut, dass zum Glauben notwendig das Bekennen gehört. Im Bekenntnis denkt der christliche Glaube auf seinen Reflexionsebenen nach, was ihn von den anderen Weltanschauungen und Religionen unterscheidet. Dabei gewinnt er bekennende Klarheit über seine spezifische Eigenart als Christusglaube. Somit führt das Bekenntnis den christlichen Glauben auf seinen Reflexionsebenen gerade zu der Einsicht, dass er sich neben anderen Religionen und Weltanschauungen vorfindet und dass er sich angesichts dieser Pluralität seiner spezifischen Eigenheit bewusst ist und sich so auch zu erkennen gibt. Ein Pluralitätsbewusstsein gehört also zum Bekennen des christlichen Glaubens! Allerdings muss eingeräumt werden, dass seit der Konstantinschen Ära und besonders mit dem mittelalterlichen Einheitsdenken dieses Pluralitätsbewusstsein über Jahrhunderte hinweg verkümmert war; mit der Neuzeit ist es aber wieder zum Durchbruch gelangt. Schon der Monismus vor hundert Jahren war ein Rückfall in altes Einheitsdenken. Und der neue Atheismus mit seinem Bekenntnisfanatismus fällt auf seine Weise hinter die kulturelle Errungenschaft des Pluralismus zurück. Auf diesen geschichtlichen Zusammenhang gilt es hier aufmerksam zu machen. Nicht nur werden naturwissenschaftliche Hypothesen zu einer Weltanschauung ideologisiert, sondern diese noch zur alternativlosen Weltanschauung monopolisiert. Neben ihr können andere Sichtweisen nicht geduldet werden. Wer heute noch an Gott glaubt, leide unter einer Art psychotischem Wahn, so der Tenor von Dawkins Buch.7 Anliegen seines Buches ist es daher, seine Leser „zu bekehren“.8 Solcher Bekenntnisfanatismus schließt den Dialog mit religiösen Sichtweisen aus und zielt nur noch darauf ab, Religionen insgesamt aus der Öffentlichkeit zum Verschwinden zu bringen.

Zu jener vorpluralistischen Denkweise gehört, dass sich solche Ideologien die politische Einheit einer Gesellschaft nur unter der Integrationskraft einer einheitlichen Weltanschauung bzw. Religion vorstellen können. Insofern kommt an dieser Stelle auch die Machtfrage ins Spiel. Dass wir es bei etlichen Vertretern des sogenannten neuen Atheismus mit einer solchen nach gesellschaftlicher Einflussnahme und politischer Macht strebenden Ideologie zu tun haben, mache ich im deutschen Raum an folgenden Beobachtungen fest: Atheistisch oder freidenkerisch orientierte Vereinigungen und Verbände9 vernetzen sich. Hier ist besonders der Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KORSO) zu nennen. Dieser erklärt sich zur Interessenvertretung von konfessionsfreien Menschen in Deutschland und will damit den Eindruck erwecken, als wären die Konfessionslosen ein fester Block. Die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) hat zur Gründung des KORSO beigetragen und ist Mitglied. Auch der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) gehört dem KORSO an. Der IBKA tritt als Gegengewicht zum Einfluss der Religionsgemeinschaften, besonders der christlichen Kirchen, auf, die in Deutschland aufgrund der Geschichte das Privileg einer Körperschaft öffentlichen Rechts genießen. Einen Schritt weiter geht es, wenn der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) an die Stelle von christlichen Feierangeboten wie Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Trauungen und Trauerfeiern am Lebensende Namensfeiern, Jugendfeiern, Hochzeitsfeiern und Trauerfeiern mit weltlichen Trauerrednern setzt. Der HVD ist nach eigener Aussage Träger vieler Kindertagesstätten in Berlin, Nürnberg, Fürth, Regensburg und Hannover, von Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit und von Schulstationen, Schülerclubs; er unterhält Sozialstationen, in Berlin ambulante und stationäre Hospize. Besonders aktiv ist die Giordano-Bruno-Stiftung. Ihr erklärtes Ziel ist die Etablierung einer „Leitkultur Humanismus und Aufklärung“10, die nicht nur den Einfluss der Großkirchen zurückzudrängen sucht, sondern auch einen Multikulturalismus für Deutschland ausschließt. Dafür muss die Verfassung geändert werden, die das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität abschafft und eine „weltanschauliche Positionierung des modernen Rechtsstaates“ verlangt, „dessen Profil aus der Orientierung an den säkularen Idealen von Humanismus und Aufklärung erwächst.11 Unter reichlichem Wortgeklingel von „Humanismus“ und „Rechtsstaat“ fordert die Programmschrift der Giordano-Bruno-Stiftung einen Weltanschauungsstaat ein. Zwar gibt der Vorsitzende, Michael Schmidt-Salomon, mit der propagierten „säkularen, evolutionär-humanistischen Ethik“ eine tolerante Zielstellung vor, die nur insoweit religionskritisch auftrete, als sie das Moralmonopol der Religion, besonders des Christentums hier in Deutschland, brechen will. Aber sein Kinderbuch unter dem Titel „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“12 verrät einen aggressiven Stil der Religionsbekämpfung. Hier werden die drei monotheistischen Religionen und der Gottesglauben überhaupt in einem für Kinder verfassten Buch so diskreditiert, dass die Kinder eine Abwehr gegen allen Gottesglauben und gegen die drei Religionsgemeinschaften entwickeln sollen.

Fungierten früher Religionen für die politische Einheit einer Gesellschaft, will heutzutage ein naturalistisches Weltbild in diese Funktion einrücken. Damit es sich aber auch durchsetzt, wird versucht, ein politischer Machtfaktor zu werden (Vernetzung) und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen, in die Lebenswelt einzudringen (Festkalender besetzen), Einfluss auf Kindererziehung zu nehmen in der Weise, dass im kindlichen Denken und Fühlen eine Abwehr gegen Religion entwickelt wird, Einfluss aber auch auf die schulische Erziehung zu gewinnen und in der Gesellschaft die Privilegien von Körperschaften öffentlichen Rechts zu erlangen und an die Stelle der weltanschaulichen Neutralität des Staates den Weltanschauungsstaat zu setzen.

International ist die Einflussnahme des neuen Atheismus oft noch nicht so weit entwickelt. Doch versucht hier das Netzwerk der „Brights“, zu denen auch Daniel Dennett und Richard Dawkins gehören, einem naturalistischen Weltbild zu einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen.13 Einen Stimmungsumschwung versuchen die Brights unter anderem dadurch herbeizureden, dass sie vorgeben, in den USA sei der Atheismus schon sehr weit verbreitet, nur würden dort viele es noch nicht wagen, sich zum Atheismus zu bekennen.

Freilich – auch das muss angesprochen werden – erleben wir in der Gegenwart Beispiele, wie Religionen die dominante Rolle in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld einnehmen wollen, die sie früher innehatten und darin die kulturelle Einheit gewährleisteten. Solche Bestrebungen von Religionen, ihre herkömmliche Macht erhalten zu wollen, führen zu den bekannten Phänomenen fundamentalistischer Aktivitäten. Wir erleben sie besonders in Ländern des Nahen Ostens, aber auch in Asien oder in den USA, wo Strömungen des christlichen Fundamentalismus die politische Macht zu übernehmen suchen.14 Umso mehr werden solche Aktivitäten dann zur Zielscheibe atheistischer Kritik, die freilich daraus einen Rundumschlag gegen die Gewalttätigkeit der Religionen führt, die angeblich den Religionen als solchen wesenseigen wäre.

Schlussfolgerung: Die vorpluralistischen Denkschemata im sogenannten neuen Atheismus wie in fundamentalistischen Strömungen von Religionen müssen aufgedeckt werden; sie müssen als Ideologien entlarvt werden, die nach politischer Macht streben und die zur Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Position Feindbilder gebrauchen.

Religiöse Indifferenz

Wenngleich der neue Atheismus die Diskussionslage zu bestimmen sucht, gibt es heute noch ganz andere Faktoren, die in den größeren Themenkreis neuer Herausforderungen durch den Atheismus fallen. So möchte ich als nächstes in gebotener Kürze auf die Rede von der „Wiederkehr der Religion“ und auf die Fokussierung der Theologie auf das Phänomen Religion zu sprechen kommen.

Die Aktivitäten fundamentalistischer Bewegungen der letzten Jahrzehnte sind gern als ein Symptom der Wiederkehr der Religion angesehen worden. Zutreffender ist es aber, die fundamentalistischen Aktivitäten als Nährboden für atheistische Gegenreaktionen zu kritisieren. Nun steht hinter der These von der Wiederkehr der Religion allerdings die Beobachtung noch weiterer religiöser Aufbrüche und neuer Aufmerksamkeiten für Religion. Und zu begrüßen ist, wie in den letzten Jahrzehnten gerade auch in der protestantischen Theologie Deutschlands eine Ausweitung theologischer Suchbewegungen auf die Vielfalt gelebter Religion in Gang gekommen ist, in Abkehr von manchen Engführungen der Dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert. Problematisch wird aber die These von der Wiederkehr der Religion, wenn man daraus eine empirische Bestätigung für die Auffassung machen will, dass doch alle Menschen religiös seien, und wenn diese Auffassung als Begründungsrahmen der Theologie dienen soll.

Abgesehen davon, dass eine solche Auffassung allzu durchsichtig die Ratlosigkeit gegenüber dem Minorisierungsprozess des Christlichen in der Gesellschaft zu kompensieren versucht, sehe ich hier vor allem drei Probleme:

1. In Form einer Frage möchte ich zunächst das Problem so zuspitzen: Handelt es sich bei jener Auffassung am Ende um eine theologische Vereinnahmung aller Menschen für Religion und Religiosität, sodass auch in dieser These eine vorpluralistische Denkweise zum Vorschein kommt? Darf es nicht sein, dass es neben religiösen Menschen auch noch nichtreligiöse gibt?

2. Zwar mag es unter den gegenwärtigen Umständen sehr sympathisch erscheinen, wenn alle Menschen religiös sind. Dennoch sollten wir uns davor hüten, alle religiösen Phänomene ungesehen zu begrüßen. Vielmehr hat das Christentum im Nachgang zu Jesu Kritik an religiösen Missbräuchen und auf dem Hintergrund prophetischer Kultkritik aus dem Glauben heraus unter der Wahrheitsfrage ein religionskritisches Potenzial entwickelt, das sich immer wieder auch gegen Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen gerichtet hat. Die Reformation ist ein herausragendes Beispiel solcher Kirchen- und Religionskritik aus den Wurzeln des Glaubens. Ebenso erfolgt die in diesem Beitrag geübte Kritik an fundamentalistischen Strömungen im Christentum aus der theologischen Prüfung religiöser Phänomene unter der Wahrheitsfrage.

3. Schließlich gilt es, unsere Wahrnehmung auch für Phänomene zu schärfen, die auf Religionslosigkeit und religiöse Indifferenz hinweisen, um die Konsequenzen für die theologische Klärung solcher Entwicklungen in den Blick zu bekommen. Es gibt nicht nur Transzendierungsverweigerung wie unter den sogenannten neuen Atheisten, an die mit Tillich zurückgefragt werden könnte, ob sie mit ihrer Verweigerung nicht doch ein unbedingtes und damit letztlich religiöses Anliegen erkennen lassen; sondern es muss daneben auch mit Transzendierungsgleichgültigkeit und -vergessenheit gerechnet werden. Ich meine, in der Theologie sollte man sich bei aller notwendigen Ausschau nach gelebter Religion auch auf Anzeichen gelebten Ausfalls von Religion einstellen.15

Anhand der drei StichworteReligionslosigkeit, religiöse Indifferenz undTraditionsabbruch christlicher Kultur möchte ich Anzeichen des zuletzt angesprochenen Phänomens näher besehen. Ich greife damit auch auf Beobachtungen aus dem ostdeutschen Raum zurück.

Der Begriff Religionslosigkeit kennzeichnet das Problem auf der Ebene von Religion als geschichtlich gewachsener Orientierung und Strukturierung einer Menschengemeinschaft: Das Teilsystem Religion wird (zumindest regional) in der ausdifferenzierten Gesellschaft abendländischer Kultur bedeutungslos16, weil seine Leistungen für die Gesellschaft (Kontingenzbewältigung, gesellschaftliche Integration, Bildung von Werten und Normen usw.) von anderen Teilsystemen wie etwa von Wirtschaft oder Wissenschaft übernommen werden.17

Religiöse Indifferenz hingegen thematisiert den Tatbestand auf der Ebene von Religiosität als subjektivem Vollzug von Religion. Auf den Begriff gebracht wird hiermit der Ausfall des Vollzugs von Religion auf dem Hintergrund des Ausfalls von Transzendierung. Damit ist nicht eine Transzendierungsverweigerung gemeint, sondern eine Uninteressiertheit am Über-sich-Hinausfragen.Empirisch ist dabei zum Beispiel auf die sich ausbreitende Gewohnheit zu verweisen, auf Passageriten zu verzichten. Damit meine ich weniger das Umgehen des standesamtlichen Aktes einer Eheschließung (bzw. einer kirchlichen Trauung), wo noch andere Beweggründe mitspielen; sondern ich meine beispielsweise den Verzicht auf eine Feier am Übergang zum Erwachsenenalter (Konfirmation oder Jugendweihe) wie auch das Auslassen einer Trauerfeier (ganz gleich welcher Art) am Lebensende. Auch hier können natürlich andere Gründe mitspielen, etwa dass sich Personen bzw. Familien derartige Feiern nicht leisten können. Aber ich beobachte, dass der Sinn für solche Orientierung bietende Symbolhandlungen schwindet. Oder eine andere Beobachtung: Passanten wurden zum Jahreswechsel von 1999 zu 2000 auf dem Leipziger Hauptbahnhof nach ihren Erwartungen für das neue Jahrtausend befragt. Am Ende des Interviews wurde ihnen noch die Frage gestellt: „Sind Sie religiös oder atheistisch?“ Verdutzt über diese Frage gaben Jugendliche zur Antwort: „Weder noch, normal halt.“18 Die Frage, was Religion ist und was Atheismus, wissen die Jugendlichen offensichtlich nicht zu beantworten. So verschwommen ihre Vorstellungen hierzu auch sind, es ist ihnen doch eines klar: Sie wollen weder mit dem einen noch mit dem anderen zu tun haben. Der „bei Jugendlichen sich ausbreitende Agnostizismus“ wurde in einem Heft von Una Sancta mit der Bemerkung wiedergegeben: „Ich glaub nix, da is nix, mir fehlt nix!“19 Im Religionsmonitor der Bertelsmannstiftung (2008)20 handelt es sich bei den Beispielen religiöser Indifferenz um jenen Personenkreis in Ostdeutschland, der sich selbst als „nicht religiös“ einschätzt, der nicht an religiösen Fragen interessiert ist und der keinerlei intellektuelle Offenheit für religiöse Fragen zeigt. Nahezu die Hälfte der vom Religionsmonitor Befragten aus den neuen Bundesländern gehörte zu diesem Personenkreis.

Den Traditionsabbruch christlicher Kultur im Osten Deutschlands hat der Berliner Systematiker Wolf Krötke eindrücklich beschreiben: Er „bewirkte eine Verarmung kultureller Substanz in der Gesellschaft und schnitt von den Quellen des europäischen Geistes ab. Der viel beredete Provinzialismus des geistigen und gesellschaftlichen Lebens [in der DDR, M.P.] geriet in Konflikt mit den großen universalen Ansprüchen der Ideologie des Marxismus ... D. h. es war eine spezifisch ostdeutsche Nichtchristlichkeit entstanden. Und die fällt vor allem dadurch ins Gewicht, dass es sich um eine Massenerscheinung handelt; eine Massenerscheinung, die zu dem, von dem sie geschieden ist, nämlich vom Glauben an Gott, so gut wie kein Verhältnis mehr hat. Das Maß der Unkenntnis des christlichen Glaubens, das hier herrscht, ist gravierend. Damit kommen für das durchschnittliche Allgemeinbewusstsein aber auch wesentliche Zugangsmöglichkeiten zu den Zeugnissen der Kunst, der Sprache, des Werdens von Landschaften, der Städte, der Bräuche und vor allem ein schöpferischer Umgang mit ihnen in Wegfall.“21 Ein kulturelles und ethisches „Vakuum“ ist hier „entstanden, das um so mehr ins Auge fällt, als es sich nach dem Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse gewissermaßen in sich selbst hält“.22 Der Atheismus, der hier zu einem weitverbreiteten Ressentiment gegen Religion, Christentum und Kirchen geworden ist, braucht in der Gesellschaft keine Begründungen. Er versteht sich einfach von selbst. Er gilt unter den Menschen als selbstverständlich. „Die Sprachlosigkeit und Ausdrucksarmut, in die jener Kulturabbruch hineingeführt hat, sind trostlose Wohnstätten atheistischer Stagnation.“23

Die personale Struktur des Glaubens

Wie kann sich die Theologie auf die eben genannten Herausforderungen einstellen? Ich meine: in der Besinnung auf das eigentlich Christliche.

Das Evangelium selbst ist ein Kommunikationsgeschehen von Gott zu Mensch und von Mensch zu Mensch, das sich vornehmlich (aber nicht ausschließlich) im Medium der Sprache vollzieht. Als solches stellt es einen Überlieferungsprozess dar, der verkürzt und darin missverstanden wäre, als würden in diesem Überlieferungsprozess Informationen über Gott und sein Heil von einem zum anderen weitergeben. Das Eigentliche am christlichen Überlieferungsprozess ist vielmehr, dass in dem Wortgeschehen Gottes Heil geschieht, dass z. B. im Wort der Vergebung nicht nur etwas über den barmherzigen Gott gesagt wird, sondern dass in der Zusage der Vergebung Gottes Heil am Menschen geschieht.24 Es handelt sich um ein komplexes Geschehen: Die Begegnung des Jesus von Nazareth damals mit Gleichzeitigen, die von seiner Anrede getroffen wurden, die Vergebung erfuhren, welche er ihnen zusprach; die über sein heilendes Wort gesund wurden; die durch seine Zusage der Gottesherrschaft selig waren, die über die Begegnung mit ihm an ihrem Tisch glücklich wurden. Es sind die gewesen, die seine Zusage weitgegeben haben an Spätere, bis zu uns heute und über uns hinaus; sodass durch dieses Überlieferungsgeschehen die Person Jesu Christi selbst in Beziehung tritt mit Späteren und in ihnen Vertrauen weckt. Solches Christus-Vertrauen ist Glaube auf seiner personalen Grundebene (ich glaube dir), aus der heraus das Reflektieren des Glaubens (ich glaube, dass) und sein Bekennen (ich glauben an) erwächst. Das, was das Christliche ausmacht, ist also in sich wesentlich ein Überlieferungsprozess: ein von Jesus von Nazareth ausgelöstes und sich ausbreitendes Anerkennungsgeschehen.

In Besinnung auf diesen Zusammenhang muss das ganze Ausmaß dessen, was mit dem Stichwort „Traditionsabbruch“ gemeint sein kann, überdacht werden. Das verlangt, überdie bisher in den Blick genommenen Dimensionen desselben hinaus zu erkennen, dass Traditionsabbruch im christlichen Sinne an seiner gravierendsten Stelle ein menschliches Abreißenlassen des Heilshandelns Gottes in Christus durch Vernachlässigung des „äußeren Wortes“ bedeutet: ein Abbrechen des christlichen Überlieferungsgeschehens als des von Jesus als dem Christus ausgelösten und sich ausbreitenden Anerkennungsgeschehens. Zur Wahrnehmung der Situation und Umstände, die besonders die Lage im Osten Deutschlands kennzeichnen, gehört aber nicht nur die Beobachtung, dass viele Menschen die Kette dieses Anerkennungsgeschehens haben abreißen lassen, sondern dass dieser Überlieferungsprozess auch fortgeführt wurde. Aus diesen Beobachtungen ziehe ich folgende Schlussfolgerungen und stelle sie zur Diskussion:

1. So sehr das grundlegende christliche Überlieferungsgeschehen nach seinen Anfängen sich in, mit und unter den wachsenden Formen kirchlichen Brauchtums und christlicher Bildungskultur vollzieht, kann dennoch das eigentlich Christliche von seinen kulturellen und religiösen Institutionen unterschieden werden; es ist nicht von seinen Ausdrucksweisen abhängig. Das heißt zum einen: Das grundlegende christliche Überlieferungsgeschehen kann auch trotz des Tradierens kirchlichen Brauchtums und christlicher Kultur abreißen. Und das heißt zum anderen: Das grundlegende christliche Überlieferungsgeschehen kann auch außerhalb der kirchlichen Tradierungen und des religiösen Brauchtums seinen Weg nehmen.

2. Wo christliches Brauchtum und von Kirchen getragene Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit vorhanden sind (ganz gleich, auf welchem Niveau), muss kirchliche Initiative darauf gerichtet sein, diese Institutionen zu fördern und zu intensivieren.

3. Aber selbst wo christliches Brauchtum und von kirchlichen Aktivitäten getragene Kultur am Boden liegen, wo Religionslosigkeit und religiöse Indifferenz sich ausbreiten, findet Christus seinen Weg zu den Menschen; da weckt die Begegnung der Person Jesu von Nazareth mit Menschen Glauben, setzt Bildung frei, verleiht Sprache und weckt Religiosität.

4. Notwendig bleibt aber immer der Zusammenhang von äußerem Wort – dass von der Anrede Jesu betroffene Menschen seine zuvorkommende Achtung an andere weitergeben, und unverfügbarem Wirken des Heiligen Geistes – dass diese Achtung unter den angesprochenen Menschen Aufnahme findet.

Solche aus dem christlichen Anerkennungsgeschehen hervorgehende Religiosität und darauf gegründete Religion finden sich vor in einem Kontext unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen, auch atheistischer Weltanschauungen und religiösen Desinteresses.

Christliche Religiosität und Religion im beschriebenen Sinne sind nicht auf eine gesellschaftsdominierende Kultur ausgerichtet, sondern darauf, dass in der personalen Begegnung mit Christus Vertrauen wächst. Wo auf diese Weise Glaube auf seiner personalen Grundebene geweckt wird, werden sich die Reflexionen dieses Glaubens in seinen Verstehensbemühungen konstruktiv und kritisch immer wieder neu auf die Verstehensbedingungen der jeweiligen Zeit einlassen.


Matthias Petzoldt, Leipzig


Anmerkungen

1 Gekürzte Fassung eines Vortrags vor dem Arbeitskreis für interkonfessionelle Fragen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am 30.11.2012 in Frankfurt am Main.

2 Auf Initiative Ernst Haeckels wurde 1906 der Deutsche Monistenbund gegründet, der in seinem Gründungsaufruf erklärte, im Sinne von Tausenden und Abertausenden „nach einer neuen, auf naturwissenschaftlicher Grundlage ruhenden einheitlichen Weltanschauung“ zu suchen.

3 Schon Ernst Haeckel und ähnlich der Chemiker Wilhelm Ostwald, der von 1911 bis 1915 Vorsitzender des Deutschen Monistenbundes war, spekulierten über eine sozialdarwinistische Ausweitung der biologischen Evolutionstheorie auf die Bereiche von Kultur und Gesellschaft. Heutzutage suchen Richard Dawkins und Daniel Dennett mit einer Mem-Theorie das Paradigma Evolution als Erklärungsmuster auf Kultur und Gesellschaft zu übertragen. Und wenn in der Gegenwart Neurowissenschaftler wie Daniel Dennett, Patricia Churchland, Gerhard Roth und Wolf Singer die Wirklichkeit des Geistes auf Gehirnaktivitäten zu reduzieren suchen, so haben auch solche Erklärungsversuche schon ihre Vorläufer etwa in Haeckels Bemühen, die Assoziationsgebiete der Großhirnrinde als die eigentlichen Geistesorgane hinzustellen. Gemeinsam ist den Mitgliedern des einstigen Monistenbundes wie den Vertretern des neuen Atheismus, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Aura einer Weltanschauung zu umgeben. In dem Ausmaß, in dem diese Verklärung auch religiöse Züge annehmen kann, unterscheidet sich vielleicht der neue Atheismus von dem einstigen Monismus. Bei Ernst Haeckel laufen die Ausführungen seiner „Welträtsel“ noch auf „theologische“ Erörterungen über eine „monistische Religion“ hinaus. Dort wurde der Kampf einer Naturreligion gegen eine Kirchenreligion ausgetragen. Wenn das „Manifest des evolutionären Humanismus“ (2006) der Giordano-Bruno-Stiftung mit „Zehn Angebote[n] des evolutionären Humanismus“ endet, ist dies eher als ein Spiel mit religiösen Versatzstücken zu werten.

4 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 92007, 81.

5 Ebd., 79. – Vgl. auch den Kampf des Biologen Ulrich Kutschera gegen die Geisteswissenschaften.

6 Rupert Sheldrake, Der Wissenschaftswahn. Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012.

7 Dawkins, Der Gotteswahn, a.a.O., vgl. bes. 17f.

8 Ebd., 160.

9 Zu den im Folgenden genannten Organisationen vgl. deren Internetpräsentationen.

10 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006, 131-144.

11 Ebd., 140.

12 Michael Schmidt-Salomon/Helge Nyncke, Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel. Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen, Aschaffenburg 2007.

13 Die Brights haben sich vor allem drei Ziele gesetzt: 1. Das Verständnis und die gesellschaftliche Anerkennung des naturalistischen Weltbildes zu fördern, das frei ist von übernatürlichen und mystischen Elementen. 2. Die öffentliche Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass Personen mit einem solchen Weltbild wichtige gesellschaftliche Entscheidungen mit positiven Aktionen beeinflussen können. 3. Die Gesellschaft dazu zu bewegen, die vollständige und gleichberechtigte Teilhabe der Brights am gesellschaftlichen Leben zu akzeptieren (www.brights-deutschland.de).

14 Zum Phänomen Fundamentalismus vgl. Matthias Petzoldt, Fundamentalismus – Reaktion auf Säkularisierung, in: ders., Christsein angefragt. Fundamentaltheologische Beiträge, Leipzig 1998, 175-193. Fundamentalismus ist vor allem als ein sozialpsychologisches Phänomen zu verstehen. Dabei handelt es sich um die angstbesetzte Reaktion von bislang dominierenden Kulturen, die im Zuge des unterschiedlich greifenden Säkularisierungsprozesses ihren Einfluss auf die Gesellschaft schwinden sehen, in eine Identitätskrise geraten und in mehr oder weniger gewaltsamer Weise ihre dominante Rolle unter selektivem Rückgriff auf spezifische Vorstellungen, Normen und Prinzipien ihrer Tradition wiederherzustellen bzw. zu erhalten suchen.

15 Paul Tillich, Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie Bd. II, in: ders., Gesammelte Werke Bd. VIII, Stuttgart 1970, 142, hat diese Möglichkeit zumindest theoretisch in Betracht gezogen: „Gleichgültigkeit gegenüber dieser dringlichsten Frage ist die einzig denkbare Form des Atheismus.“

16 Inwieweit mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass das Teilsystem Religion ganz verschwindet, bleibt offen, weil solch ein Fall bisher nicht nachweisbar ist.

17 Vgl. das soziologische Theorem der funktionalen Äquivalenz. Hierbei liegt zwar die Schlussfolgerung nahe, welche die funktionale Äquivalenz als eine Bestätigung für das Vorhandensein und die Wirksamkeit von Religion interpretiert, nur dass die religiösen Funktionen in andere Teilbereiche der Gesellschaft auswandern würden (verbunden mit einer Kritik an solcher Tendenz als gesellschaftlicher Fehlentwicklung – in der die religiösen Funktionen segmental entfremdet und die gesellschaftlichen Teilsysteme funktional verfremdet würden –, die es zu korrigieren gelte). Diese Sicht verkennt aber das Gewicht der Entwicklung, welche sich darin zeigt, dass die anderen Teilsysteme die ehemals religiösen Funktionen übernehmen, auf diese Weise das Teilsystem Religion überflüssig machen und jene Funktionen ihres spezifisch religiösen Charakters (z. B. des Codes Immanenz/Transzendenz) entleeren.

18 Monika Wohlrab-Sahr, Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, in: Pastoraltheologie 90 (2001), 152-167, hier: 152.

19 Albrecht Haizmann, Atheismus in Baden-Württemberg?, in: Una Sancta 2/2012, 147-150, hier: 149.

20 Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, bes. 125-203.

21 Wolf Krötke, Wie weit kann Entchristlichung gehen? Deutemuster eines ostdeutschen Phänomens, in: BThZ 18 (2001), 285-299, hier: 288.

22 Ebd., 289.

23 Wolf Krötke, Religion und Weltanschauung im postsozialistischen Kontext, in: MD 11/2000, 379-384, hier: 383.

24 Dementsprechend stellt der Glaube auch nicht nur ein Fürwahrhalten Gottes und seines Heils dar. Auch ist er „nicht eine zu leistende Vorbedingung, sondern ist selbst das Eintreten der Erfüllung“ (Gerhard Ebeling, Was heißt Glauben?, in: ders., Wort und Glaube Bd. 3, Tübingen1975, 225-235, hier: 234). Zu Ebelings Theologie des Wortes Gottes als Wortgeschehen vgl. Matthias Petzoldt, Die Theologie des Wortes im Zeitalter der neuen Medien, in: Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Hermeneutik und Ästhetik. Die Theologie des Wortes im multimedialen Zeitalter, Neukirchen-Vluyn 2001, 57-97.