Nahtoderfahrungen

Viele Menschen weichen der Anerkenntnis der eigenen Endlichkeit aus. Weil das Lebensende unausweichlich ist und unerwartet eintreten kann, fühlen sich manche hoch technisierten Europäer davon geradezu bedroht. Dem unabwendbaren Tod haben sich Menschen seit jeher zu widersetzen versucht, indem sie über den Tod hinausdachten und zum Teil konkrete Jenseitshoffnungen entwickelten. Die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen halten ein breites Spektrum an Bildern und Vorstellungen vom Jenseits bereit. Wer möchte nicht einmal gerne zumindest einen kurzen Blick über die letzte Grenze werfen? Kürzlich hat ein amerikanischer Neurochirurg seine Erlebnisse in Todesnähe in dem Buch „Nachweis des Himmels“ beschrieben, das prompt auf den Bestsellerlisten landete. Nach einer schweren Hirnhautentzündung befand sich der Arzt eine Woche lang im Koma. Nach seiner Erinnerung sei er auf dem Flügel eines Schmetterlings mit Millionen anderen Schmetterlingen aufgestiegen über einer Welt voller Wiesen in unbeschreiblichen Farben. Unzählige hell strahlende Engel hätten ihn auf dieser Reise begleitet. Eine junge Frau habe ihn durch neue Dimensionen geleitet. Als er im Krankenhaus aufgewacht sei, sei er wütend gewesen und habe zurück in die andere Welt gewollt. Kann die Nahtodforschung wissenschaftliche Belege für die Existenz eines „Himmels“ liefern?

Forschungsgeschichte

Schon Ende des vorletzten Jahrhunderts beschäftigten sich Parapsychologen mit Sterbeerlebnissen. Sie sammelten Erfahrungen und Visionen von Überlebenden auf dem Sterbebett und versuchten sie zu klassifizieren. Obwohl sie bemüht waren, die berichteten Phänomene wissenschaftlich zu erforschen, wurde die von ihnen vorausgesetzte Hypothese eines Weiterlebens nach dem Tode nicht transparent gemacht oder kritisch reflektiert.

Zwischen 1930 und 1960 flaute das wissenschaftliche Interesse am Thema ab. Starken Aufwind erhielt die Forschung in den 1970er Jahren durch die schweizerisch-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926 – 2004) und den amerikanischen Psychiater Raymond Moody (geb. 1944), die auf der Grundlage von Interviews unterschiedliche Sterbensphasen beschreiben konnten. Beide verfassten populärwissenschaftliche Bücher, die große Verbreitung fanden. Die Arbeit mit Sterbenden hat beide zu der Überzeugung geführt, dass es ein Leben nach dem Tode und eine Wiedergeburt im Jenseits gibt, um die Aufgaben zu erfüllen, die im Leben nicht erfüllt werden konnten.

Seit Beginn der 1980er Jahre gibt es die „International Association for Near-Death Studies“ (IANDS), die diesbezügliche Forschungen unterstützt. 2004 wurde der deutsche Ableger „Netzwerk Nahtoderfahrung“ gegründet. Zumeist sind es Akademiker mit eigenen Nahtoderfahrungen, die in solchen Netzwerken Impulse für den interdisziplinären Dialog geben und sich als Informationsquelle auf wissenschaftlicher Basis für die Öffentlichkeit vorstellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die berichteten Erfahrungen interpretationsoffen für unterschiedliche kulturelle, philosophische und religiöse Deutungen sind. Bis heute können Nahtoderfahrungen nicht eindeutig und schlüssig erklärt werden.

Mit großer Spannung werden zurzeit die Ergebnisse der dreijährigen AWARE-Studie erwartet, in der die biologischen Vorgänge hinter außerkörperlichen Erfahrungen im Mittelpunkt standen. 25 große medizinische Zentren in Europa, Kanada und den Vereinigten Staaten sind daran beteiligt, in denen 1500 Überlebende eines Herzstillstands untersucht wurden. Darüber hinaus hat die „John Templeton Foundation“ im August 2012 fünf Millionen US-Dollar für das auf drei Jahre angelegte Projekt „Unsterblichkeit der Seele“ zur Verfügung gestellt. Durch diese Studie sollen Nahtoderfahrungen unter Einbeziehung medizinischer, neurobiologischer, philosophischer, theologischer, religionswissenschaftlicher und kultureller Aspekte besser verstehbar werden. Allerdings bezweifeln Kritiker die Neutralität der Stiftung und fragen, ob der Projekttitel nicht gleichzeitig das Ergebnis vorwegnehme.

Vielfalt der Erfahrungen in Todesnähe

In der Regel werden die Erlebnisse in Todesnähe überraschend positiv geschildert. Aus psychoanalytischer Sicht wurde deshalb sogar gemutmaßt, dass die vom Gehirn produzierten Erlebnisse eine Abwehrmaßnahme darstellen, um der demütigenden Tatsache des endgültigen Verschwindens auszuweichen. Zu den am häufigsten berichteten Erlebnissen in Todesnähe gehören:
angenehme Gefühle wie Ruhe, Gelassenheit, Friede (ca. 60 Prozent),
• Außerkörper-Erfahrung mit Beobachtung des eigenen Körpers (ca. 50 Prozent),
•Fliegen durch einen Tunnel (ca. 30 Prozent),
•Lichterscheinungen (ca. 30 Prozent),
• Begegnung mit bereits verstorbenen Verwandten oder Freunden (ca. 30 Prozent),
• Lebensrückblick wie ein Lebensfilm (ca. 20 Prozent).

Nur selten wurde von negativen Gefühlen wie albtraumartigen Visionen oder dem Auftreten von bedrohlichen Wesen (Dämonen) berichtet. Häufig führten die Erlebnisse zu positiven Folgen im Leben der Betroffenen: Neubewertung des Lebens und seiner materiellen Güter, Änderungen von Einstellungen und Glaubensinhalten, Neugestaltung von Beziehungen, Neubeleben oder Erwachen von Religiosität oder Spiritualität. In der Regel nahm die Angst vor dem Sterben und dem Tod nach solchen Erfahrungen ab. Dennoch fand sich bei diesen Personen keine erhöhte, sondern eine verminderte Suizidneigung. Vaitl (2012) weist jedoch auf das Konfliktpotenzial hin, das sich trotz dieser positiven Folgen durch die Änderungen des Werte- und Glaubenssystems im Verhältnis zum psychosozialen Umfeld der Betroffenen ergeben kann.

Nahtodphänomene kommen in allen Teilen der Erde vor. Kulturhistorische und religionswissenschaftliche Studien dokumentieren dabei die große Bandbreite an Jenseitsvorstellungen und Erfahrungen in Todesnähe. Während Begegnungen mit anderen Wesen und Lebensräumen ein kulturübergreifendes Merkmal zu sein scheint, tauchen die Tunnelerfahrung und der Lebensrückblick primär in christlichen und buddhistischen Kulturen auf. Auch innerhalb eines Kulturraumes variieren die Erfahrungen stark. Vaitl (2012) bemerkte, dass die Erlebnisschilderungen der in den USA lebenden Mormonen deutlich von dem Muster abwichen, das Moody als typisch beschrieben hat. In Deutschland zeigen sich beachtliche Unterschiede, wenn man Todesnähe-Erfahrungen von West- und Ostdeutschen miteinander vergleicht (Knoblauch/Soeffner 1999). Negative Erfahrungen wurden im Osten viel häufiger (60 Prozent) als im Westen (29 Prozent) berichtet. Ostdeutsche erwähnten seltener Außerkörperlichkeits- und Lichterfahrungen oder das Gefühl, sich in einer anderen Welt zu befinden. Häufiger dagegen machten sie Tunnel-Erfahrungen. Auch in den Deutungsmustern ergaben sich Unterschiede zwischen Ost und West. Überwogen bei den Ostdeutschen agnostische und atheistische Deutungen, waren bei den Westdeutschen eher volksreligiöse und neureligiös-esoterische Interpretationen verbreitet.

Erklärungsansätze

Bei den Erklärungsansätzen lassen sich eine ontologische und eine skeptische Fraktion unterscheiden. Vertreter der ontologischen Position gehen davon aus, dass es eine jenseitige Wirklichkeit gibt, der man sich in einer Nahtoderfahrung annähern kann. Je nach religiös-weltanschaulichem Standpunkt können damit der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele oder Reinkarnationsvorstellungen verbunden sein. Demgegenüber vermuten Skeptiker die Ursache derartiger Erfahrungen allein in neurologischen Prozessen. Drei Hypothesen werden derzeit besonders intensiv diskutiert: ein Sauerstoffmangel, eine gesteigerte Temporallappen-Aktivität und Veränderungen von Gehirn-Botenstoffen. Zusammenfassend stellt Vaitl (2012) fest, dass bis heute noch kein neurobiologisches Modell existiere, das die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Nahtoderfahrungen zufriedenstellend erklären könne. Unbeantwortet bleibt bisher die Frage, was die Betroffenen wirklich erlebt haben. Die meisten Erkenntnisse der Nahtodforschung beruhen auf Nachinterpretationen körperlicher Ausnahmezustände. Dabei werden Gedächtnisinhalte mit Emotionen, mit früher Erlebtem, mit aktuellen Ereignissen, mit Wünschen und unbewussten Vorgängen abgeglichen. Könnte das, worüber berichtet wird, durch Erinnerungsprozesse nachträglich zu einer erzählbaren und konsistenten Geschichte gemacht worden sein (false memory)? Auskunft könnten hier nur hypothesengeleitete, prospektive Studien geben. Bisher endet die Sterbeforschung häufig bei der klassischen Grundsatzdebatte zwischen Glauben und Wissen.

Einschätzung

Nahtodphänomene befinden sich an der hochgradig emotionalen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Religion, weil sie die Versuchung eines Gottesbeweises enthalten. Wie schön wäre es doch, endlich einen exakten und sicheren Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu haben! Gerade in der westlichen Welt ist dieses Thema längst Objekt vielfältiger esoterischer Interpretationen geworden. Dabei steht die Nahtodforschung in ähnlicher Weise wie die Neurotheologie in Gefahr, weltanschaulich vereinnahmt zu werden. Manche versuchen, mit den Daten ihre esoterischen Reinkarnationsvorstellungen oder ihre christlichen Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele wissenschaftlich plausibel zu machen. Die skeptische Fraktion will hingegen das Außergewöhnliche der beeindruckenden Erfahrungen mit neurobiologischen Erklärungen entzaubern. Die unterschiedlichen Erklärungen machen deutlich, dass die Interpretation der außergewöhnlichen Sinnesreize in Todesnähe in hohem Maß von den kulturellen und weltanschaulichen Prägungen des Menschen bestimmt wird. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Gehirn die Zutaten für die Nahtoderlebnisse – wie auch beim Traum – aus der Erfahrungswelt des Einzelnen zusammensucht. Auch die moderne Hirnforschung kann keine Einblicke in ein angeblich kulturübergreifendes, paradiesähnliches Jenseits liefern.


Literatur

Alexander, Eben, Proof of Heaven. A Neurosurgeon’s Journey into the Afterlife, New York 2012
Engmann, Birk, Mythos Nahtoderfahrung, Stuttgart 2011
Ewald, Günter, Auf den Spuren der Nahtoderfahrungen, Kevelaer 2011
Fenwick, Peter, Gehirn, Geist und was darüber hinausgeht, in: Grof, Stanislav u. a., Wir wissen mehr als unser Gehirn, Freiburg i. Br. 2003, 37-56
Holden, Janice Miner / Greyson, Bruce / James, Debbie (Hg.), The Handbook of Near-Death Experiences: Thirty Years of Investigation, Santa Barbara (Kalifornien/USA) 2009
Knoblauch, Hubert / Soeffner, Hans-Georg (Hg.), Todesnähe. Wissenschaftliche Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen, Konstanz 1999
Lommel, Pim van, Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, Düsseldorf 2009
Schröter-Kunhardt, Michael, Nah-Todeserfahrungen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/2005, 56-65
Schulze, Christiane, Zur Phänomenologie und Bedeutung von Nahtoderfahrungen, in: Becker, Patrick/ Diewald, Ursula (Hg.), Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog, Göttingen 2011, 346-364
Thiede, Werner, Einblicke ins Jenseits? Literatur-Rückblick zur Todesnähe-Forschung, in: MD 11/2009, 410-417
Vaitl, Dieter, Nahtod-Erfahrungen, in: ders., Veränderte Bewusstseinszustände, Stuttgart 2012, 145-154


Michael Utsch