Werner Thiede

Mystik im Zentrum - Mystik am Rand. Zur Notwendigkeit, bei mystischer Religiosität zu unterscheiden.

Teil II: Protestantische Mystik

Das Feld der Mystik ist, phänomenologisch gesehen, eigentlich ein katholisches. Protestanten bilden im Laufe der Christentumsgeschichte hier eher Ausnahmen. Kein Wunder insofern, dass etwa der Pietist Gerhard Tersteegen nach seiner Hinwendung zur Mystik ausnahmslos katholische Biographien beschrieb! Dennoch sind die evangelischen „Ausnahmen“ alles andere als Randgestalten. Ihnen verdanken sich wichtige Impulse für die Theologie und Spiritualität in den protestantischen Kirchen. Das gilt nicht zuletzt im Blick auf Martin Luther, den Reformator selbst, mit dem hier eine Reihe einiger weniger, ausgewählter Beispiele beginnen soll.

Martin Luther

Eine erste große Blüte hatte die christliche Mystik im frühen Mönchtum der Spätantike erlebt, eine weitere im Mönchtum des späteren Mittelalters. Der Mönch Martin Luther hat wichtige Anstöße aus dieser mystischen Tradition empfangen. Noch bevor er die Schule der spätmittelalterlichen „Deutschen Mystik“ kennen und schätzen lernte, erfuhr er bereits den Reiz mystischen Erlebens: In der Rückschau heißt es bei ihm, er wäre fast „toll“ geworden, weil er die Einigung Gottes mit seiner Seele „spüren wollte“. Inzwischen aber hatte Luther längst erkannt, dass das ein schwärmerisches Verlangen gewesen war.

Als der junge Theologieprofessor die „Theologie Deutsch“ gelesen hatte, gab er ihren von Mystik gesättigten Text 1516 in Teilen und 1518 vollständig heraus. Zudem konnte er sich durchaus „mystischer Vorstellungen bedienen, um seine Auffassung über Rechtfertigung und Heil auszudrücken“, wie Bernhard Lohse in seinem Werk über „Luthers Theologie“ (1995) vermerkt. Allerdings hat die Mystik allein, die es ja bereits jahrhundertelang in der Kirche gab, den Durchbruch zur Rechtfertigungserkenntnis nicht bewirkt.

Die Rechtfertigungslehre Luthers geht von der Erfahrung der Bedingungslosigkeit der Liebe Gottes aus – gemäß der paulinischen Überzeugung: Hat Gott seinen Sohn für uns alle dahingegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? (Röm 8,32) Diese Erfahrung hat mystische Tiefe und bewirkt Glaubensgewissheit. Theologische Voraussetzung für Luthers Deutung ist die Überzeugung, dass der Heilige Geist selbst nicht nur als „äußere“ Größe im Verhältnis zu unserem Geist verstanden wird. Von daher leuchtet ein, warum das Neue Testament den Heiligen Geist immer wieder als „Geist Christi“ charakterisiert: Durch sein Wirken wird Christi Heilswerk uns personal zugeeignet; in ihm kommt der Erhöhte bei uns an. Schenkt er uns den Glauben, so bringt er uns damit unsere endgültige Identität, nämlich unsere innere Vollendung als geschöpfliche Person vor Gott – und zwar eben ungeachtet unseres anhaltenden Sünder-Seins! Christen gelten im Glauben als „Gerechte und Sünder zugleich“. Daher finden sie durch Christi Gegenwart im eigenen Geist mittels der Glaubensbeziehung zu ihm erst wirklich zu sich selbst in ihrer Wirklichkeit vor Gott: Sie dürfen sich trotz ihres Sünder-Seins ganz von Gott angenommen wissen. Das aber heißt, dass sie gegen die eigene Selbst-Erfahrung anglauben und ganz auf die Zusage durch Gottes Wort vertrauen lernen müssen. Luthers Mystik ist insofern nicht gefühls- und erfahrungsgesättigt, sondern ganz und gar Glaubensmystik. In einer Auslegung zu Psalm 45,10 (WA 40 II, 553ff) erklärt der Reformator im Jahre 1532: „Sei Sünde in mir oder nicht, mag ich den Tod fühlen oder nicht, so frage ich nicht danach. Ich muss höher hinaufsteigen, nämlich zu meinem Bräutigam durch den Glauben an sein Wort… Denn es ist mir verboten, dass ich über mich urteilen soll nach meinem Fühlen und Empfinden..., vielmehr geboten, dass ich nach dem Wort der Verheißung urteilen soll.“

Dem entspricht Luthers Reserviertheit gegenüber technischen Übungen zwecks mystischer Erfahrung. Alles kommt auf den Glauben an, der ins „himmlische Wesen“ versetzt. Und selbst dieser Glaube ist ja Geschenk des Geistes Christi in uns, weshalb es ein ungeistliches Missverständnis wäre, wiederum den Glauben zum Ziel von Übungen, Selbstbeobachtung oder Kraftanstrengung machen zu wollen. Luther rät: „Ergreifen wir nur mitten in Sünden, Tod und Kummer Christus mit einem schwachen Glauben! Dieser Glaube aber, wie schwach er auch ist, erhält er uns doch, ist Herr über den Tod und tritt den Teufel und alles mit Füßen.“ Greife also nur nach Christus, ermuntert der Reformator, und „so du ihn erwischest, es sei viel oder wenig, so hast du den Bräutigam und durch ihn das Leben und die Seligkeit“. Es sei viel oder wenig – die Gnade, die Liebe schenkt sich dir, ja Gott selbst in seinem Sohn!

Die hier gemeinte Liebesmystik bringt Luther durch das schöne Bildwort zum Ausdruck, dass Christus und der Glaubende zu einem „Kuchen“ zusammengebacken werden (WA 37, 236). Er kann sogar formulieren: „Christus wird ich und ich Christus“ (WA 17 I, 93). In diesem Sinn wolle Gott seinen Sohn zur „Person“ aller Menschen machen. Das darf aber nicht in einem substanzmystischen Sinn als Vermischung missverstanden werden – als sei Christus alles in uns und wir selbst gar nichts mehr. Vielmehr geht es der Christus-Mystik Luthers um die Betonung anhaltenden Ungetrenntseins bei Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Gott und Kreatur innerhalb dieser mystischen Verbundenheit. Mit dem ewigen Heil schenkt Christus durch seinen Geist liebesmystisch die Teilhabe am göttlichen Sein selbst, ohne dass deshalb das geschöpfliche Sein der Glaubenden enden würde.

So aber lässt er sie an der göttlichen Natur teilnehmen, wie das in 2. Petr 1,4 in Aussicht gestellt wird. Im Sinne der altkirchlichen und besonders in den östlichen Kirchen betonten Lehre von der gnadenhaften „Vergottung“ hat Luther die heilvolle Perspektive unserer Vergöttlichung entfalten und beispielsweise formulieren können, dass Gott sich selbst in uns gießt und uns in sich zeugt, so dass er ganz und gar vermenscht wird und wir „ganz und gar vergottet werden“ (WA 20, 229).

Von Gott selbst spricht Luther nicht selten in mystischen Farben – etwa wenn er sagt: „Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner, nichts ist so groß, Gott ist noch größer, nichts ist so kurz, Gott ist noch kürzer, nichts ist so lang, Gott ist noch länger, nichts ist so breit, Gott ist noch breiter, nichts ist so schmal, Gott ist noch schmäler und so fort, ist ein unaussprechliches Wesen über und außer allem, das man nennen oder denken kann“ (WA 26, 339f) – nämlich in allen und über und außer allen Kreaturen.

Im Kampf gegen die Schwärmer, die Spiritualisten seiner Zeit aber hat der Reformator ab 1522 unterstrichen, dass Gott niemandem „seinen Geist oder Gnade gibt ohne durch oder mit dem vorhergehenden äußerlichen Wort“. Es sei sektiererisch, sich auf mystische Offenbarungen abseits der Bibel zu berufen. Dieses äußerliche Wort ist in der Tat deswegen unverzichtbar, weil es den geschichtlichen Jesus verbürgt. Da Jesus der eine Sohn Gottes ist, hat dieses äußere Wort von ihm, diese neutestamentliche Kunde über das geschichtlich zu uns gekommene Heil neben der inneren Dimension eine wichtige äußere. Die innere freilich besagt, was Luthers „Mystik des Wortes“ (so Werner Kohlschmidt 1947 in seinem Buch „Luther und die Mystik“) durchaus zu betonen weiß: Die Seele ist gewissermaßen für das Wort geschaffen. „Wo sie das Wort hat, so bedarf sie auch keines anderen Dings mehr, sondern sie hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Friede, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gut überschwänglich“(WA 7, 22). Mit Recht unterstreicht Winfried Zeller, die Auseinandersetzung mit den Schwärmern, mit ihrem radikalen Spiritualismus dürfe „keinesfalls als ein Bruch Luthers mit der Mystik seiner Frühzeit interpretiert werden. Bei dem Streit mit den Schwärmern geht es im Grunde um das rechte reformatorische Verhältnis zur Mystik.“

Dabei erweist sich Luther durchgehend als Theologe des Kreuzes. Er sträubt sich gegen eine Theologie der Herrlichkeit – in dem Bewusstsein: Wer aufsteigen will zu Gottes Herrlichkeit, wird von ihr verzehrt. Zu finden ist Gott allein dort, wo er sich hinabbegeben hat zu uns: in Jesus Christus, in der Niedrigkeit von Krippe und Kreuz. Christliche Mystik, die das vergisst, verdient ihren Namen nicht. „Für eine Mystik als Methode und Spekulation bleibt da freilich aufgrund eigenen andersartigen mystischen Erlebens kein Raum mehr, an ihre Stelle tritt Luthers theologia crucis“, erklärt Rudolf Mohr treffend. Solche Kreuzestheologie ist mystische Theologie, die gegen alle Welt- und Selbsterfahrung die Erfahrung der Liebe und Gnade Gottes zu setzen weiß.

Jakob Böhme

Der Schuster Jakob Böhme wurde an der Schwelle zur Neuzeit zu einem der größten Mystiker des Protestantismus – allerdings nicht in dessen Zentrum, sondern an dessen Rand. Auf Grund seiner Bücher wurde er von Seiten der kirchlich Verantwortlichen deutlich gerügt und immer heftiger bekämpft, ohne dass dabei allerdings die von ihm ausgehenden Denkanstöße angemessen gewürdigt wurden.

Geboren im Jahre 1575 als Sohn von Jakob und Ursula Böhme in Alt-Seidenberg, erwarb Jakob Böhme am 24. April 1599 im nahen Görlitz das Bürgerrecht. Er legte sich einen eigenen Hausstand zu und kaufte eine Schuhmacherei. Einige Zeit nach einem mystischen Erlebnis – wohl infolge von reflektierenden Lichteinwirkungen auf seine Schusterkugel und unter Einfluss von Studien jüdischer Mystik-Schriften – schrieb er 1610 sein erstes Buch: „Aurora oder Morgenroethe im Aufgang / das ist: Die Wurzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae aus rechtem Grunde, oder Beschreibung der Natur“.Nach dieser Veröffentlichung aber wurde es Böhme streng verboten, weitere Schriften zu verfassen und zu veröffentlichen. Doch nach acht Jahren des Schweigens wagte es der seltsame Schuster um die Jahreswende 1618/1619, weiter zu schreiben. Zwischen 1619 und seinem Todesjahr 1624 verfasste er insgesamt 32 Bücher und Schriften – ein phänomenales Werk, dessen philosophische Substanz dem deutschen Verfasser den Ehrennamen „Philosophus Teutonicus“ eintrug. Obgleich sich Böhmes meditative, symbolreiche Texte dem Leser nicht ohne Weiteres erschließen, fanden sie in mehreren Ländern – insbesondere in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien – wohlwollende Aufnahme.

Jakob Böhmes mystisch gefärbte Philosophie wurde von ihm selbst – zum Beispiel im Titel der Schrift „Sex Puncta Theosophica“ (1620) – und von anderen als „Theosophie“ bezeichnet, was wörtlich „Gottesweisheit“ heißt und in der Sache eine verhältnismäßig weltfreundliche Mystik kennzeichnet. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie in Böhmes Lehre vom „Ungrund“. Dieser Ungrund ist das Allererste und geht dem „Urgrund“ noch voraus. Er ist das ewige Eine, der ewige Abgrund eines Nichts, dem keinerlei Existenzweise zukommt. Als göttlich-finsterem, die Existenz des Menschen und das Sein der Welt umgebenden Schreckensabgrund kommt ihm der Charakter des „ganz Anderen“ zu – dimensionslose, unbeschreibbare Leere, Stille ohne Ursache und Wesen, gleichwohl wirkungsreicher Quell allen Seienden! Böhme erläutert in der Schrift „Mysterium Magnum“ (1623): „Wenn ich betrachte, was Gott ist, so sage ich: Er ist das Eine gegenüber der Creatur, als ein ewig Nichts, Er hat weder Grund, Anfang noch Stätte; und besitzet nichts, als nur sich selber.“ Im Hintergrund stehen hier die jüdische Theosophie der sogenannten Kabbalah und die neuplatonische Auffassung.

Das Verhältnis zwischen Ungrund und Urgrund wird demgemäß von Böhme als ein allenfalls mittelbares definiert. Aber was zwischen der unfassbaren Gottheit des Ungrundes und der göttlichen Offenbarung als dem Urgrund vermittelt, das ist bei diesem neuzeitlichen Mystiker nun der Wille. In ihm gibt die „ungründige“ Gottheit sich willentlich selbst Gestalt, nämlich Eingrenzung. Böhme erklärt in der Schrift „Mysterium Pansophikum“: „Wir erkennen, dass Gott in seinem eigenen Wesen kein Wesen ist, sondern nur bloß die Kraft oder der Verstand zum Wesen als ein unergründlicher, ewiger Wille.“ Über den unauslotbaren Tiefen des göttlichen Ungrunds hat sich also der theosophischen Spekulation zufolge ein Wollen zu sich selbst geregt. Dieses Wollen bezeichnet Böhme als „Sucht“. Das göttliche „Nichts“ drängt in dunkler Sehnsucht nach einem „Etwas“: „Der Ungrund ist ein ewig Nichts, und machet aber einen ewigen Anfang, als eine Sucht; Dann das Nichts ist eine Sucht nach Etwas“, formuliert der Mystiker weiter. Diese Sucht ist der Ursprung des Urgrundes: Erst durch sie erscheint aus dem Ungrund der Wille zum Etwas, beginnt aus Gottes „Unbewusstem“ so etwas wie Gottes Selbstbewusstsein zu keimen.

Der in diesem Sinn denkende und sprechende Wille, der das „erste Prinzip“ darstellt, bringt wiederum das Gesprochene als den „gefasseten Willen“ hervor: das „zweite Prinzip“. Spricht also die Sucht des Ungrundes willentlich das Wort, den Logos, so vollendet die Bewegung zwischen dem Sprechenden und dem Gesprochenen schließlich das Selbstbewusst-Werden der Gottheit im „dritten Prinzip“. Anders ausgedrückt: Die Finsternis als das erste Prinzip steht in der Sucht, die das Licht sucht und will; dieser Wille der Finsternis zum Licht gebiert das Licht als zweites Prinzip. Das dritte Prinzip aber steht in der Anschauung der bewegenden Spannung zwischen dem abgründig Finsteren und dem seiend Lichten. So vollendet das dritte Prinzip das Werden der Gottheit.

Trinitarisch formuliert: Gott der Vater findet im „gefassten Willen“, nämlich in der Person des Sohnes zu sich selbst; der Sohn als der Logos aber wird der Urgrund und Ausgangspunkt allen Seins. Das Bewegungsmoment des göttlichen Willens nennt Böhme die immerwährende göttliche Geburt. Der Wille selbst ist laut Böhme größer als die Sucht, aus der er kommt, weil er aus der in sich ruhenden Gottheit hinüberwirkt in die sich offenbarende Gottnatur, in der alle innergöttlichen Bewegungen als die drei göttlichen Personen in Erscheinung treten. Erfasst sich der Vater im Sohn selbst, so ist der Geist das Symbol für jenen Bewegungsprozess, der sich aus der Spannung zwischen der ewigen göttlichen Person des Vaters mit der des Sohnes ergibt.

Böhme bezeichnet den Geist auch als die ewige Weisheit. Da Gott die eigene Anschauung will, verhält sich der Geist zu den „ungründigen“ Tiefen Gottes wie ein Spiegel, in dem alles Wissen um den göttlichen Ungrund und Grund reflektiert wird. Auch spiegelt sich im Geist die innergöttliche Unterscheidung als die erste Widerwärtigkeit zwischen dem Nichts und der Fülle des Seins. In der hellen Gottesschau empfängt der Geist Weisheit als eine allmächtige und allschaffende Kraft. So rundet er den Kreis des göttlichen Mysteriums, denn er schaut zugleich die Finsternis des Ungrundes und das Licht des Urgrundes.

Im Menschen aber ist das göttliche Mysterium am Wirken. Böhme interessiert, „was für ein Mensch in uns sei, der der Gottheit ähnlich und fähig sei“ (Christosophia, 1975 herausgegeben und erläutert von Gerhard Wehr, 107). Der Glaube ist laut Böhme „der eröffnete Geist Gottes in dem innern Grunde der Seelen“ (206). Indes – der „Abgrund der Natur und Kreatur ist Gott selber“; und dieser „innerste Grund ist ein Funke des ausgeflossenen Willens Gottes“ (202). Den göttlichen Seelenfunken kennt Böhme also wie seine mystischen Vorgänger, nur deutet er ihn weniger als Substanz denn vielmehr als Willen. Christus und sein Kreuz verwandeln in der Seele des Glaubenden die finstere Spiegelung des Ungrunds, die „Angst-Qual“, in die „ewige Licht-Welt, welche die ewige Freude gebieret“ (111).

Böhmes mystische Ausdeutung des christlichen Glaubens hat für sich die Erfahrungsbetontheit: Ohne existentiell-wirkliche Wiedergeburt des inneren Menschen keine Seligkeit! Doch als mystische Spekulation steht sie in der Gefahr, die subjektive Erfahrung in objektiven Prozessen des Göttlichen zu verorten und dabei den Menschen nach seinem innersten Wesen in gnostisierender Weise zu vergöttlichen. Davon zeugt nicht zuletzt seine Auffassung, „daß der Teufel hat die Welt um die Religionen zankend gemacht“ (137). Als komme es auf die Wahrheitsfrage gar nicht so sehr an, sondern vor allem auf gelebte Innerlichkeit – eine typisch mystische Auffassung, die im Drängen zur letzten Einheit das Unterscheidende zu vernachlässigen droht.

Gerhard Tersteegen

Gerhard Tersteegen (1697-1769) war einer der bedeutendsten Mystiker, die der Protestantismus hervorgebracht hat. Geboren wurde er als siebtes von acht Kindern in einem von reformierter Frömmigkeit geprägten Elternhaus in Moers, einer Stadt im heutigen Nordrhein-Westfalen. Als der Knabe sechs Jahre alt war, starb sein Vater. Gerhard besuchte die Lateinschule und erwies sich als sehr begabt. Aber ein Studium kam später aus finanziellen Gründen für ihn nicht in Betracht. Der Sechzehnjährige ging daher nach Mülheim zu seinem erfolgreichen Schwager in die Kaufmannslehre, und schließlich versuchte er zwei Jahre lang, ein eigenes Geschäft zu betreiben.

Damals machte er die Bekanntschaft Erweckter, die ihm mystische Schriften nahebrachten. Von denen war er so beeindruckt, dass er das Gelesene ins Deutsche übersetzte. Von früh bis spät war er am Werk. 1719 stieg er aus dem ungeliebten Beruf als Kaufmann aus und wurde Seidenbandweber. Das war allerdings eine Tätigkeit, die viel Arbeit bei wenig Lohn bedeutete und in gekrümmter Haltung vor dem Webstuhl zu machen war. Tersteegen lebte zurückgezogen und ärmlich, hatte aber endlich mehr Zeit, sich mit seinen Büchern zu befassen.

Nach einer Zeit intensiver geistiger und religiöser Suche machte der reformierte Laientheologe am Gründonnerstag 1724 eine pietistische Bekehrungserfahrung. Mit seinem Blut hielt er daraufhin seine „Verschreibung“ fest: „Meinem Jesus! Ich verschreibe mich dir, meinem einzigen Heiland ... zu deinem völligen und ewigen Eigentum. Ich entsage von Herzen allem Recht und aller Macht über mich selbst. Von diesem Abend an sei dir mein Herz und meine ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert. ... Befehle, herrsche und regiere in mir!“

Vier Jahre später gab Tersteegen seinen Beruf ganz auf und lebte bescheiden in einer einfachen Hütte. Der Autodidakt wirkte als pietistischer Prediger in der protestantischen Erweckungsbewegung: In Scheunen und Schuppen legte er die Bibel aus. Pastoren der evangelischen Landeskirche beschwerten sich bei der Kirchenleitung über den merkwürdigen Wanderprediger, doch das Konsistorium hatte an seiner Lehre nichts auszusetzen. Als erster Protestant gründete er eine geistliche Bruderschaft, freilich sehr wohl in dem Bewusstsein: „Die Mystiker machen keine besondere Sekte aus“.

Tersteegen verfasste alsbald Biographien großer – und zwar katholischer – Christen. In seinem „Kurzen Bericht von der Mystik“ heißt es: „Gesichte, Offenbarungen, Einsprachen, Weissagungen und manche andere außerordentlichen Dinge können zwar einem Mystiker auch ungesucht begegnen, gehören aber so gar nicht zum Wesentlichen der Mystik…“ Und weiter: „Mystiker reden wenig, sie tun und sie leiden vieles, sie verleugnen alles, sie beten ohne Unterlass, der geheime Umgang mit Gott ist ihr ganzes Geheimnis.“ Im engeren Sinn wird Mystik von Tersteegen sodann definiert als „die Erleuchtung, welche der Apostel den Gläubigen noch erbittet (weit unterschieden von der anfänglichen Erleuchtung)“.

Für ihn sind Heilig- und Selig-Sein dasselbe, „nur dass in diesem Leben die Sache stufenweise unter Kreuz und Proben fortgesetzt, in jenem Leben aber in völligem und unwandelbarem Genuss und Glanz erscheinen wird“. Beim Begriff der „Heiligung“ denkt er an nichts anderes als an „die Gleichförmigkeit mit Jesus Christus“. Wenn Mystik Ganzheitlichkeit bedeutet, dann hier: „Gott locket mich; nun länger nicht verweilet! / Gott will mich ganz; nun länger nicht geteilet! / Fleisch, Welt, Vernunft, sag immer, was du willt, / meins Gottes Stimm mir mehr als deine gilt.“

In der Schrift „Weg der Wahrheit“ (1750) bietet er seine mystische Glaubenserfahrung im Sinne von „Liebesmystik“ anderen Christen als Lebenshilfe an. Wie gefühlsbetont diese mystische Erfahrung war, zeigt beispielsweise der Liedtext „Ich bete an die Macht der Liebe“, in dem es einmal heißt: „Ich fühl’s, Du bist’s, Dich muss ich haben, / Ich fühl’s, ich muss für Dich nur sein; / Nicht im Geschöpf, nicht in den Gaben, / Mein Ruhplatz ist in Dir allein. / Hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen; / Drum folg ich Deinen selgen Zügen.“

Mit seinen Predigten gelang es Tersteegen, viele Menschen innerlich aufzubauen und aufzurichten. Die Zahl seiner oft seelsorgerlichen Briefe ging in die Tausende. 1746 erwarb er in Mühlheim ein Wohnhaus, das heute als Tersteegen-Haus in der Treinerstraße ein Heimatmuseum beherbergt. Er wirkte in ganzheitlichem Sinne auch als Laienarzt und verteilte an Bedürftige kostenlos Heilmittel, die er eigens mixte. Bereits 1729 hatte er unter dem Titel „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“ Abhandlungen und Sinnsprüche veröffentlicht, aber auch Lieder, die zum Teil noch heute Gemeingut in evangelischen Gemeinden sind. Insgesamt sind über hundert Lieder aus seiner Feder überliefert. Immer wieder kommt in ihnen seine mystische Spiritualität zum Ausdruck, etwa wenn er formuliert: „O Geist, o Strom, der uns vom Sohne / eröffnet und kristallenrein / aus Gottes und des Lammes Throne / nun quillt in stille Herzen ein: / Ich öffne meinen Mund und sinke / hin zu der Quelle, dass ich trinke!“ Bis ins Alter lebte Tersteegen seinen Glauben mit Inbrunst.

Seine Schriften fanden schon zu Lebzeiten, aber auch nach seinem Tod weite Verbreitung. So fragten russische Soldaten 1812 am Niederrhein nach Tersteegens Grab; sein Gedicht „Ich bete an die Macht der Liebe“ hatte durch die Vertonung eines russischen Komponisten die Menschen dort ergriffen – schon bevor Friedrich Wilhelm III. es zum Abendgebet des preußischen Heeres machte und es schließlich Bestandteil des Großen Zapfenstreichs deutscher Soldaten wurde.

Das Evangelische Gesangbuch enthält heute acht seiner Lieder, darunter „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165), in dem sich tiefe mystische Empfindung kundtut: „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, / aller Dinge Grund und Leben, / Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder, / ich senk mich in dich hinunter.“ Und: „Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, / Herr, berühren mein Gesichte! / Wie die zarten Blumen willig sich entfalten / und der Sonne stille halten, / lass mich so still und froh / deine Strahlen fassen / und dich wirken lassen!“ Im katholischen „Gotteslob“ findet sich das Lied „Jauchzet, ihr Himmel“ (GL 144). Mit diesem ökumenisch rezipierten Erbe bestätigt sich Tersteegens Überzeugung, dass christliche Mystik ihre Lebenswelt in allen Konfessionen hat.

Dag Hammarskjöld

Dag Hammarskjöld (1905-1961) war ein praktizierender Mystiker protestantischer Provenienz – und niemand wusste es, obwohl er als Generalsekretär der Vereinten Nationen seit 1953 im Licht der Weltöffentlichkeit stand. Dass Mystik eine Frömmigkeit betonter Innerlichkeit darstellt – hier zeigt es sich überdeutlich! Bis zu seinem Tod durch einen Flugzeugabsturz, dessen Umstände bis heute nicht ganz aufgeklärt sind und wohl doch auf einen politisch motivierten Anschlag hindeuten, mag allenfalls sein sozialethisch akzentuiertes Wirken aufgefallen sein: Es brachte dem Abkömmling einer alten schwedischen Adelsfamilie noch posthum den Friedensnobelpreis ein.

In der Hinterlassenschaft des UN-Generalsekretärs fand sich ein Manuskript mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, dazu ein undatierter Brief an einen einflussreichen Freund in Schweden, in dem diesem freigestellt war, es zu veröffentlichen. Als der Band in Stockholm erschien, hatte er einen sensationellen Erfolg. Man war allenthalben verblüfft, nun in dem kühlen, verschlossenen Politiker einem zutiefst religiösen Denker, einem Mann der Meditation und des Gebets, einem „christlichen Staatsmann“ und Dichter zu begegnen. Dag Hammarskjöld hatte seine Aufzeichnungen als „eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst – und mit Gott“ bezeichnet. Mit den Tagebüchern, auf deutsch unter dem Titel „Zeichen am Weg“ erschienen, hat er ein bewegendes Zeugnis seines intensiven mystischen Ringens hinterlassen.

Er war der jüngste von vier Söhnen des schwedischen Premierministers Hjalmar Hammarskjöld. Nach einer glänzend hinter sich gebrachten Schulzeit studierte er Rechtswissenschaft, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften und wurde an den Universitäten Uppsala und Stockholm habilitiert. Von 1936 bis 1945 war er Staatssekretär im schwedischen Finanzministerium, von 1941 bis 1948 Präsident des schwedischen Reichsbankdirektoriums. 1949 wurde er Unterstaatssekretär im Außenministerium; ab 1951 war er stellvertretender Außenminister, bevor er 1953 nach New York wechselte.

Aus dem Tagebuch ist zu erfahren, dass Hammarskjöld von Kindheit an einsam war und unter dieser Einsamkeit lebenslang litt. Ein liberaler schwedischer Publizist, der Hammarskjöld ein Leben lang bekämpft hatte, schrieb in einem Nachruf: „Trotz aller Geschicklichkeit und allem Konventionalismus erschien er mir als ein Mensch von seltener Reinheit. Er erschien mir so frei vom Simplen und Niedrigen, wie man es nur werden kann; das Leben hatte ihn nicht beschmutzt, er war frisch, keusch in des Wortes psychischer und physischer Bedeutung.“ Man konnte dem großen Mann offenkundig etwas abspüren von dem, was er in seinem Tagebuch geheimnisvoll festhielt: „Vom Jenseits her erfüllt etwas mein Wesen mit seines Ursprungs Möglichkeit.“

Als Hammarskjöld am 7. April 1953 zum Generalsekretär der Vereinten Nationen ernannt wurde, gab es manch skeptische Stimmen. Die aber waren verstummt, als er 1957 von der Generalversammlung einstimmig für eine zweite Amtszeit eingesetzt wurde. Seine friedenstiftenden Bemühungen waren von eindrucksvollen Erfolgen gekrönt. 1954 notierte er im Tagebuch: „Die Erklärung, wie ein Mensch ein Leben aktiven gesellschaftlichen Dienens in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst als Mitglied der Gemeinschaft des Geistes leben soll, habe ich in den Schriften der großen mittelalterlichen Mystiker gefunden. Für sie war ,Selbsthingabe‘ der Weg zur Selbstverwirklichung. Sie fanden in der ,Einsamkeit des Geistes‘ und in der ,Innerlichkeit‘ die Kraft, ja zu sagen, wo immer sie sich den Forderungen ihrer bedürftigen Mitmenschen gegenübergestellt sahen. Liebe – dieses oft missbrauchte und falsch verstandene Wort – bedeutete für sie nichts als das Überfließen der Kraft, von der sie sich erfüllt fühlten, wenn sie in wahrhaftem Selbstvergessen lebten.“

Maßgeblich dürfte ein inneres Ja zu Gott für ihn gewesen sein, das er nach einem langen spirituellen Anmarschweg als entscheidende Kehre in seinem Leben empfunden haben muss – und zwar zum Jahreswechsel 1952/53, also wenige Monate vor dem Antritt seines Amtes in New York. Dieses kräftige Ja hat seitdem seine Identität als Mystiker geprägt. „Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist und dass darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat“, erinnert er sich 1957. Von jener Stunde an ist es ganz personal das göttliche „Du“, auf das er mystisch ausgerichtet ist, nicht ein unverbindlich-abstraktes, pseudomystisches „Göttliches“: „Du, /den ich nicht verstehe, / der dennoch mich weihte / meinem Geschick. / Du –“ Insofern war es eindeutig Liebesmystik, die ihn prägte: „Ich bin das Gefäß. Gottes ist das Getränk. Und Gott der Dürstende.“

Was er unter der Überschrift „Das ‚mystische Erlebnis’“ notierte, bestätigt das nur: „Das Mysterium ist ständig Wirklichkeit bei dem, der inmitten der Welt frei von sich selber ist: Wirklichkeit in ruhiger Reife unter des Bejahens hinnehmender Aufmerksamkeit.“ Mit der Liebe Gottes wollte er „das Leben und die Menschen lieben – um der unendlichen Möglichkeit willen, warten wie er, beurteilen wie er, ohne zu verurteilen, dem Befehl gehorchen, wenn er ergeht, und niemals zurückschauen – dann kann er dich brauchen – dann, vielleicht, braucht er dich. Und wenn er dich nicht braucht: In seiner Hand hat jede Stunde einen Sinn, hat Hoheit und Glanz, Ruhe und Zusammenhang.“

1956 vermerkte er: „Wir handeln im Glauben – und es geschehen Wunder.“ Glaube als Vertrauen, als mystische Liebesbeziehung war für ihn getränkt mit Erfahrung. Gleichwohl konnte Glauben bei ihm heißen, dass gegen alle Erfahrung anzuglauben sei. Sein mystischer Glaube war insofern keineswegs methodisch aus auf Erfahrbarkeit. Vielmehr stand seine Mystik unübersehbar im Zeichen des Kreuzes.

Und dabei hat ihm der intensive Blick auf Jesus Christus entscheidend geholfen, den mystischen Weg zu gehen. Den Gottmenschen hat er weniger unter „metaphysischen“ Aspekten betrachtet als vielmehr unter existenziellen – und zwar so, wie die Evangelien ihn schildern: als zum Kreuz-Tragen bereit, zur Passion unterwegs, entschlossen zum bedingungslosen Selbst-Opfer. In der Karfreitagsbesinnung von 1955 denkt der UN-Generalsekretär von daher an die „Menschheit, in welcher Jesus jeden Augenblick stirbt in irgendeinem, der dem Weg der inneren Zeichen folgte bis zum Ende“. In diesem Sinn wollte der Schwede christusförmig werden.

Lebenslang hat Hammarskjöld seine Existenz „umzingelt“ gesehen von der Todesfrage – zweifellos eine Bedingung für tiefes mystisches Empfinden. Mitunter mag ihm der Gedanke an Selbsttötung zur Versuchung geworden sein, aber ihm war im Endeffekt klar: „Der Tod mag deine abschließende Gabe an das Leben sein, nicht ein Betrug.“ Und dabei umzingelte ihn der Tod immer mehr. Aus den letzten Lebensmonaten stammt der ahnungsvolle Eintrag: „Gefragt, ob ich den Mut habe, /meinen Weg zu Ende zu gehen, / gebe ich Antwort ohne / Unterlass. / Öffnen seh’ ich geblendet / das Tor zur Arena / und geh’ hinaus, um nackt / den Tod zu treffen.“ Bei dem Toten bzw. Getöteten fand man ein Exemplar der „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen. Sein Grab liegt im alten Teil des Friedhofs von Uppsala, etwa 500 Meter westlich des Doms.

Schlussgedanken

Die Reihe protestantischer Mystiker ließe sich natürlich unschwer ergänzen: Man könnte orthodoxe Theologen des Altprotestantismus daraufhin befragen, welche Rolle genau der Ort des Mystischen in ihrem Rechtfertigungsverständnis spielt; man müsste Friedrich Schleiermachers Theologie näher betrachten, sich mit Ernst Troeltschs Mystik-Verständnis auseinandersetzen, Albert Schweitzers Mystik-Thesen analysieren usw. Dafür aber reicht der Platz hier bei Weitem nicht – vielleicht bei anderer Gelegenheit!

Stattdessen sei noch kurz überlegt, warum das eigentlich so ist, dass „Mystik“ meist viel eher mit katholischer als mit protestantischer Spiritualität verknüpft wird. Im ersten Band seiner „Mystik im Abendland“ unterstreicht Bernard McGinn: „Die mächtige Tradition der deutschen protestantischen Theologie stand aufs Ganze gesehen der Mystik eher ablehnend gegenüber; sie galt in der Regel als eine wesentlich griechische Form von Religiosität, deren Akzentuierung der inneren Erfahrung Gottes letztlich unvereinbar mit der Botschaft des Evangeliums von der Erlösung durch den Glauben an das in der Kirche verkündete erlösende Wort sei.“ Das ist korrekt gesprochen im Blick auf jene kritischen Urteile über die Mystik, die einst Albrecht Ritschl (1822-1889) und dessen Schüler Adolf von Harnack (1851-1930) gefällt hatten. Aber lässt sich etwa römisch-katholische Mystik wirklich einfach auf griechisch-philosophisch geprägte Metaphysik oder Religiosität zurückführen? Kennt denn etwa die katholische Kirche nicht ebenfalls seit jeher das in ihr zu verkündende „erlösende Wort“?

Der Grund für die größere Nähe katholischer Spiritualität zur Mystik liegt meinen Analysen zufolge eher auf theologischem als auf philosophischem Gebiet, nämlich im katholischen Verständnis von „Kirche“, das in sich ein stark „mystisches“ ist. Wie zuletzt der römisch-katholische Weltkatechismus zum Ausdruck bringt, versteht sich die größte Konfession der Christenheit als ein einziger Leib, der „von einem einzigen Geist beseelt“ ist und alle Zeiten umfasst. Der Papst als Spitze der sichtbaren Hierarchie der Kirche symbolisiert demnach nicht nur deren äußere Einheit, sondern auch ihre innere infolge ihrer Leitung durch Christus selbst. Für die römische Ekklesiologie ist vor allem der Bildgedanke vom Leib in seiner nachpaulinischen Fassung prägend geworden. Das ursprüngliche Kirchenverständnis der paulinischen Briefe hatte ja die Kirche als konkrete Verwirklichung der Liebe vor Ort, als lebendigen Organismus beschrieben, in dessen Funktionen Christus selber sichtbar und wirkmächtig wird, so dass sie einen Gesamtleib bildet, ohne dass etwa das Haupt getrennt hiervon betrachtet würde. Im nachpaulinischen Kolosserbrief hingegen galt Christus als das Haupt des entsprechend von ihm unterschiedenen und doch mit ihm verbundenen Leibes. Was somit ursprünglich im Bilde gesprochen war, wurde am Ende wörtlich genommen: Die Kirche verstand sich zunehmend substanziell als „Leib Christi“, als seine unmittelbare Wirklichkeit und prozessuale Verwirklichung. So formulierte der Kirchenvater Augustin in seiner Erklärung zu Psalm 90,2: „Unser Herr Jesus Christus ist als ganzer, vollkommener Mann sowohl Haupt wie Leib... Der Leib dieses Hauptes ist die Kirche, nicht nur die, welche hier an diesem Orte ist, sondern die an diesem Ort und über den ganzen Erdkreis verbreitete; nicht nur jene, die zu dieser Zeit leben, sondern alle, von Abel her bis zu denen, die bis zum Ende geboren und an Christus glauben werden: das gesamte Volk der Heiligen...“ Noch krasser erklärt Johann Adam Möhler in seiner „Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten“ (61843), die römisch-katholische Kirche sei die fortgesetzte Fleischwerdung Gottes, der sich „ewig verjüngende Sohn Gottes“.

Solch mystisches Selbstverständnis der katholischen Kirche ist ebenso fromm wie selbstverherrlichend. Ihm entspricht weithin eine theologia gloriae im Unterschied zur theologia crucis, wie ihn einst Luther herausgearbeitet hatte. Gleichwohl trifft man kreuzes- oder passionstheologisch orientierte Mystik durchaus auch im katholischen Raum an, etwa bei Johannes vom Kreuz – und umgekehrt herrlichkeitstheologische Selbstaufblähung per Mystik auch im protestantischen Raum. Letzteres vollzieht sich freilich meist unter Aufnahme von Ansätzen nichtchristlicher Spiritualität, was wiederum ein Anzeichen dafür ist, dass in den evangelischen Kirchen ein Mangel an mystischer Stimmung vorherrscht. Tatsächlich hat sich die Betonung des Gotteswortes als des verbum externum gegenüber den spiritualistischen Auswüchsen auf dem linken Flügel der Reformation, der sich gern auf das verbum internum berief, protestantisch bis heute hemmend auf mystische Vertiefungen ausgewirkt. Und das war gut so im Blick auf mancherlei substanzmystische Ideen, die gnostischen Traditionen näher standen als kirchlichen. Es war auf der anderen Seite jedoch verheerend, dass die schon bei Luther unübersehbaren liebesmystischen Ansätze, die in der Mitte reformatorischer Theologie wurzelten, damit weitgehend verdrängt wurden; ein Restdasein konnten sie vor allem noch im Gehege pietistischer oder ins Sektierertum abgleitender Frömmigkeit führen, was mit Recht Ernst Troeltsch (1865-1923) herausgearbeitet hat – oder aber in Gestalt metaphysischer Einflüsse durch die unverkennbar neuplatonisch-monistisch inspirierten Häupter des deutschen Idealismus.

Der unbestreitbare Mangel an mystischer Denkungsart im Protestantismus ist auf dessen eigenem Boden deshalb zu beklagen, weil es im Grunde erst das liebesmystische Element ist, das in der protestantischen Theologie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium kognitiv und emotional nachvollziehbar macht. Denn „tot fürs Gesetz“ kann nur sein, wer sich mit dem Auferstandenen verbunden und so des ewigen Lebens bereits teilhaftig weiß. In der eschatologischen Radikalität dieser Erkenntnis ist reformatorische Theologie ganz entschieden katholischer Theologie voraus – und hier liegt auch eine nach wie vor (trotz der „Gemeinsamen Erklärung“ von 1999) bestehende Differenz im Verständnis der Rechtfertigungslehre. Insofern gibt es eine innere Affinität protestantischer Denkungsart zur Mystik, die sogar größer ist als die auf katholischer Seite. Dass sie kirchengeschichtlich meist nicht angemessen zum Zuge gekommen ist, liegt durchaus an einem gerüttelt Maß protestantischen Selbstmissverständnisses. Die Balance zwischen gesetzlicher Frömmigkeit und häretischem Enthusiasmus ist in der Tat schwer zu halten; und dass sie häufig durch die Flucht in eine recht unmystische, rationale Theologie erschlichen wird, macht gerade die gegenwärtige Lage des Protestantismus überaus deutlich.


Werner Thiede, Regensburg