Claudia Dantschke

Muslimische Jugendszenen in Deutschland

Für viele Jugendliche, die unter der Bezeichnung „muslimische Jugendliche“ gefasst werden, ist die Religion zwar ein wichtiger Teil ihrer Identität, aber nur eine Minderheit definiert sich selbst primär religiös. Die Autorin zeigt, dass sich das Segment der sich primär religiös definierenden muslimischen Jugendlichen in zahlreiche Gruppen und subkulturelle Milieus aufteilt. Diese Jugendszenen sind zum Teil klar voneinander abgegrenzt, zum Teil überschneiden sie sich. Die Szene ist insgesamt sehr vielfältig und dynamisch, sie verändert sich stetig.

 

„Jetzt sprechen wir!“, titelt selbstbewusst das Blog des muslimischen Jugendmagazins „Cube-Mag“. Anfang 2010 ging die erste Ausgabe dieses deutschsprachigen Magazins online, damals noch unter dem Namen„Muslim – The Next Generation“. Inzwischen ist das fünfte Heft mit einer Druckauflage von 2500 Exemplaren erschienen. Muslimische Jugendliche zwischen 18 und 25 Jahren haben sich hier zusammengetan, um „endlich nicht mehr stumm dazusitzen und sich anhören zu müssen, wie man als Muslim denn wirklich sei, was man denke und warum man wie handeln würde“.1 Zwar finanziert sich das Projekt inzwischen durch Verkauf und Werbeanzeigen, doch wird es maßgeblich getragen von dem ehrenamtlichen Engagement seiner Autorinnen und Autoren. Es sind junge Leute, „die zumeist in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie sind hier zur Schule gegangen, machen jetzt ihr Abitur, studieren oder arbeiten bereits. Ihre Religion, der Islam, ist es, was sie vereint und dazu bewegt aktiv zu sein“2. „Was uns vielleicht herausstellt ist, dass wir jung sind, dass wir kreativ sind, dass wir uns mit der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, identifizieren und versuchen, hier auch die muslimische Identität mitzugestalten“, beschreibt der Marketingbeauftragte Nabil Chabrak in einem Interview mit Muslime-TV3 die Macher seines Heftes.

Das „Cube-Mag“ ist kein oberflächliches Lifestyle-Magazin, aber auch kein islamisch-theologisches Heft. Die Autoren wenden sich mit ihren Artikeln an Muslime wie an Nichtmuslime und bieten einen vielfältigen und auch selbstkritischen Einblick in „die Themen und Ideen, die unsere Generation bewegen, beschäftigen und aufwühlen“. So werden innerislamische Tabuthemen aufgegriffen, um einen Austausch mit den eigenen Eltern und religiösen Vorbildern voranzubringen. Selbstbewusst setzen sich die Autoren aber auch mit den Mythen auseinander, die sich um muslimische Jungen und Mädchen ranken, oder mit Projektionen, derer sie sich ständig argumentativ erwehren müssen. Analysiert werden zudem die politischen Entwicklungen in den arabischen Ländern oder die empfundenen Einschränkungen der Religionsfreiheit in europäischen Ländern, wenn es um den Islam geht.

Herausgeberin des Magazins ist die 21-jährige Studentin Yasmina Abd el Kader. Sie engagierte sich bereits in Bremen bei der muslimischen Jugendinitiative „Lifemakers“. Das Credo des „Cube-Mag“ – sich an den Diskussionen in der Gesellschaft aus muslimischem Blickwinkel zu beteiligen und der muslimischen Jugend eine Stimme zu geben – ist letztendlich die publizistische Umsetzung des „Lifemakers“-Ansatzes.

Die Idee der „Lifemakers“ stammt von dem „bekanntesten arabischen TV-Imam“, dem ägyptischen Fernsehprediger Amr Khaled. In seinen seit 2004 sowohl im arabischen Raum als auch in Europa ausgestrahlten Fernsehshows wandte sich Amr Khaled speziell an die muslimischen Jugendlichen und ermutigte sie, sich in ihren jeweiligen Gesellschaften progressiv einzubringen. Er stärkte das Selbstwertgefühl junger Muslime, indem er ihnen deutlich machte, dass sie ihren Gesellschaften etwas zu bieten haben. Überall entstanden kleine Gruppen und Netzwerke, die sogenannten „Lifemakers“. In Deutschland begann diese Bewegung im Jahr 2005 und umfasste in kürzester Zeit etwa 400 aktive muslimische Jugendliche zwischen 16 und 30 Jahren, darunter ein hoher Anteil Mädchen und junge Frauen.

Inzwischen hat die Initiative „Lifemakers“ als Struktur zwar an Bedeutung verloren. Die dahinterstehenden Ideen Amr Khaleds finden aber in vielfältiger Form ihre praktische Umsetzung.

Islamische Vielfalt

Während sich ein Teil der muslimischen Jugendlichen zu neuen Initiativen und Netzwerken zusammenfindet, versuchen andere, ihren Platz in den klassischen Islamverbänden zu finden. Im Blickfeld der Öffentlichkeit stehen dabei die vier Dachverbände Islamrat (Milli Görüş), Zentralrat der Muslime (türkische und arabische Sunniten sowie Schiiten), DITIB (türkisch-sunnitischer Staatsislam) und VIKZ (Anhänger eines türkisch-sunnitischen Ordens). Das organisatorische Spektrum ist jedoch vielfältiger und umfasst weit mehr als die klassischen Moscheevereine. Ganz unterschiedlich gestaltet sich die aktive Einbeziehung der Jugendlichen. Zum Teil haben sie die Leitung von den Älteren übernommen, zum Teil tut sich die ältere Generation aber auch schwer damit, den Stab an die Jugend zu übergeben.

Für die Komplexität muslimischer Jugendkulturen spielt neben den unterschiedlichen religiösen Interpretationen und der Anbindung an islamische Organisationen auch die soziale Schichtung eine Rolle. So werden ethnische/nationale Bezüge am stärksten in einem eher mittelständischen, sozial integrierten und bildungsnahen Milieu von religiösen Bekenntnissen verdrängt, während es in den bildungsferneren Milieus oft zu einer Mischung von Religion und nationaler Herkunft kommt. Auch politische Konflikte in den Herkunftsländern der Familien prägen nationale Orientierungen von Jugendlichen. Bei den Jugendlichen türkischer Herkunft resultiert die Kombination aus ethnischer/nationaler und religiöser Orientierung aus einem von verschiedenen islamischen Organisationen oder dem Elternhaus geprägten Religionsverständnis, das als „türkisch-islamische Synthese“ bezeichnet wird. Herkunft, türkische Sprache und Kultur erhalten dabei eine quasi religiöse Bedeutung. Eine starke Orientierung der Vereinsvorstände auf das Herkunftsland verstärkt diese Entwicklung, stößt aber vor allem bei gesellschaftlich interessierten und engagierten Jugendlichen zunehmend auf Ablehnung.

Innerhalb dieses heterogenen Spektrums gibt es auch gezielte Bestrebungen, die internen Segmentierungen zu überwinden und zu einer tatsächlichen und nicht nur nach außen dargestellten „islamischen Einheit“ zu gelangen. Die Grundlage dafür bildet eine panislamisch ausgerichtete, also von Nationalität, Sprache und Kultur losgelöste Islaminterpretation. Das Verbindende ist allein die Religion, weshalb diese Gruppen sehr pragmatisch die jeweilige Verkehrssprache, hierzulande also Deutsch, zur Kommunikation nutzen. Zwar dominieren Jugendliche türkischer oder arabischer Herkunft diese Gruppen, insgesamt sind sie aber multinational zusammengesetzt und üben auch auf junge deutsche Konvertiten beiderlei Geschlechts eine gewisse Anziehungskraft aus. Auch dieses Milieu unterteilt sich in verschiedene Szenen.

Milli-Görüş-Jugend

Die größte Jugendszene der sunnitisch-panislamischen Strömung dürfte immer noch die Milli-Görüş-Jugend sein. Die Anzahl der Mitglieder des Jugendverbandes (IGMG-Genclik) beläuft sich auf etwa 15 000 mehr oder weniger aktive Jungen und Mädchen4 in Europa (etwa 70 Prozent davon in Deutschland). Zwar ist diese Szene in der gelebten Mitgliedschaft noch stark sprachlich und kulturell türkisch geprägt, die zugrunde liegende Ideologie des 2011 mit 84 Jahren verstorbenen Milli-Görüş-Führers Necmettin Erbakan ist jedoch auf einen Panislamismus ausgerichtet und in ihrem Kern eine türkische Spielart der Ideologie der arabischen Muslimbruderschaft. Während die Mutterbewegung in der Türkei bereits im Sommer 2001 durch die Spaltung in Reformer und Traditionalisten an Bedeutung verloren hat und der traditionalistische Erbakan-Flügel, die Saadet-Partei, seit 2010 durch interne Streitereien und durch den Tod des ideologischen Kopfes wohl endgültig zu einem Fossil der Geschichte geworden ist, verzeichnete der nach wie vor mit der Saadet-Partei verbundene europäische Arm der Bewegung, die IGMG, nur einen leichten Rückgang ihrer Mitgliederzahlen. Wie lange der noch vor Erbakans Tod auserkorene IGMG-Vorsitzende Kemal Ergün die Einheit der IGMG in der jetzigen religiös-politischen Ausrichtung halten kann, bleibt abzuwarten. Vor allem in den bildungsnahen Kreisen der Milli-Görüş-Jugend treten die tradierten türkischkulturellen Elemente immer stärker zugunsten einer europäischen islamisch-konservativen Orientierung in den Hintergrund. Die Abhängigkeit von der Mutterbewegung wird von jungen IGMG-Funktionären offen infrage gestellt.

Im Gesamtkonzept der Milli Görüş für Europa kommt der jungen Generation vor allem eine Aufgabe zu: Die Jugendlichen sollen als gute Muslime aktiv werden, da sie das Bild der Muslime prägen, und dieses Bild müsse ein positives, ein perfektes sein. Mit der Ende 2006 gestarteten Jugendoffensive wendet sich die IGMG jedoch primär an die Erwachsenen, die sich stärker um die Jugendlichen kümmern sollen, denn „schließlich gibt es noch zehntausend Jugendliche, die wir noch erreichen müssen und die vielen Problemen ausgesetzt sind ... Es ist nicht genug, sie zu organisieren; wir müssen sie in unsere Gemeinschaft aufnehmen und sie für die Zukunft und für die Gesellschaft erziehen.“5 Das dazugehörige Projekt „Gesprächskreise 2000“ findet gleichzeitig überall in Europa statt. Es zielt auf Nachbarn und Bekannte ab, die zum Gespräch auf lokaler Ebene eingeladen werden. Bei den Treffen wird über verschiedene Islamthemen gesprochen, vor allem soll das „Gemeinschafts- und Brüderlichkeitsbewusstsein“ gestärkt werden. Eltern sollen Jugendliche ermutigen, an diesem Programm teilzunehmen. „Wir als Milli Görüş möchten die Jugendlichen in aller Hinsicht fördern ... Es ist unsere größte Aufgabe, sie zu fleißigen, zielstrebigen und mit gutem Benehmen ausgestatteten Menschen zu erziehen.“6

Neben dieser eher traditionellen Jugendarbeit des Verbandes laufen seit einiger Zeit Versuche, den Jugendlichen auf allen Ebenen mehr Autonomie zu gewähren und damit ihre aktive Mitbestimmung zu erhöhen. Vor allem die IGMG-Studentenabteilung kann hier einige Erfolge für sich verbuchen. Letztendlich ist es der Versuch, die Jugendlichen bei der Organisation zu halten und zu verhindern, dass sie in die immer zahlreicher werdenden alternativen muslimischen Jugendszenen abwandern, seien es die „Pop-Muslime“, salafitische Gruppen oder das Fethullah-Gülen-Bildungsnetzwerk.

Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland

Im Unterschied zu Milli Görüş verfolgen die anatolischen Aleviten eher einen kooperativen Ansatz, vergleichbar mit den Jugendorganisationen der politischen Parteien. In Deutschland gibt es mehrere alevitische Organisationen, die größte und repräsentativste ist die „Alevitische Gemeinde Deutschland e. V. (AABF)“. Sie kooperiert mit dem „Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e. V. (BDAJ)“, einer Selbstorganisation von alevitischen Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 27 Jahren.

Die ca. 500 000 anatolischen Aleviten (Türken und Kurden aus der Türkei) in Deutschland werden in den Statistiken unabhängig ihrer Selbstdefinition unter „Muslime“ subsumiert. Sie selbst definieren sich z. T. als eigene Konfession innerhalb des Islam oder als aus dem Islam hervorgegangene oder vom Islam beeinflusste eigene Religionsgemeinschaft neben den Muslimen.7 Aufgrund ihrer Erfahrungen, von der sunnitischen Mehrheit als Häretiker stigmatisiert und verfolgt zu werden, grenzen sich Jugendliche, die sich primär als alevitisch begreifen, von Jugendlichen ab, die sich primär sunnitisch oder schiitisch als Muslime definieren.

Muslimische Jugend in Deutschland

Die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) ist eine bundesweit organisierte deutschsprachige Organisation für muslimische Jugendliche zwischen 13 und 30 Jahren aus eher bildungsorientierten und sozial integrierten Schichten, darunter zahlreiche Jugendliche bikultureller Herkunft sowie Konvertiten. Sie stellt sich selbst als eigenständige und unabhängige Jugendorganisation dar. Auch wenn diese Darstellung nicht ganz der Realität entspricht, so ist die MJD immerhin die größte Organisation der sozial engagierten sunnitisch-konservativen „Pop-Muslime“.

Gegründet wurde die MJD 1994 nach dem Vorbild der britischen „Young Muslims“.8 Der erste Vorsitzende war Muhammad Siddiq (Wolfgang Borgfeldt), ein deutscher Konvertit und Leiter des Lützelbacher Vereins „Haus des Islam (HDI)“. Dieser Verein unterstützt bis heute die MJD, u. a. bei den jährlichen Meetings oder den Brüder- und Schwestern-Lagern. Personelle Verflechtungen zwischen ehemaligen MJD-Vorsitzenden und Organisationen, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden, speziell der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD)9, die Empfehlung verschiedener Autoritäten dieses Spektrums als Referenten durch das Lokalkreis-Handbuch der MJD und die von der MJD über ihren ehemaligen Buchverlag Green Palace verbreitete religiöse Literatur haben der MJD wohl nicht zu Unrecht den Ruf einer inoffiziellen Jugend- und Eliteorganisation dieses politisch-islamischen Spektrums eingebracht.10

Die MJD ist in Lokalkreise gegliedert, der Vorstand nennt sich Schura, Vorstandsvorsitzender ist der Amir. Die registrierte Mitgliederzahl der MJD soll sich zwischen 600 und 900 bewegen, zu den Jahrestreffen melden sich über 1000 muslimische Jugendliche an, darunter ein hoher Anteil junger Frauen. Auch wenn männliche und weibliche Mitglieder der MJD gemeinsam zu regionalen Treffen reisen, wird die konservativ-islamische Geschlechtertrennung grundsätzlich eingehalten und praktiziert. So gibt es für Mädchen und Jungen jeweils eigene mehrtägige Jugendlager, bei denen das Gemeinschaftsgefühl und der Gruppenzusammenhalt gestärkt werden sollen. Im Zentrum der MJD-Jugendarbeit steht das Bemühen, die religiöse Selbstdefinition als gläubiger und praktizierender Muslim mit dem Leben in Deutschland zu verbinden. Beides wird nicht im Widerspruch zueinander gesehen. Elemente urbaner, nicht religiöser Jugendkulturen, wie Hip-Hop oder Graffiti, werden adaptiert und mit den eigenen religiösen Inhalten gefüllt. Die Jugendarbeit der MJD ist hoch professionell, wie die Handbücher für die Lokalkreise mit ihren Hinweisen für eine erfolgreiche Organisation von Jugendgruppen zeigen.11

Sowohl die Milli-Görüş-Jugend als auch die MJD sind Teil eines europäischen Netzwerks, zu dem neben der Jugend- und Studentenorganisation FEMYSO auch der offiziell in Irland ansässige Europäische Fatwa-Rat (European Council for Fatwa and Research – ECFR) gehört. An dessen Spitze steht der einflussreichste Gelehrte der arabischen Muslimbruderschaft, Yusuf al-Qaradawi. In einem Interview mit „ufuq.de“ relativiert der aktuelle MJD-Vorsitzende, Hischam Abul Ola, nicht nur die Einbindung seiner Organisation in dieses Netzwerk, sondern auch dessen politisch-ideologische Ausrichtung. „Gleich wie man zum ECFR stehen mag und wie man ihn ideologisch zuordnet – unbestreitbar ist, dass er zu den wenigen gehört, die, zumindest in Teilbereichen, zufriedenstellende Antworten für religiöse Muslime in Europa liefern“, erläutert Abul Ola das Verhältnis der MJD zum ECFR. Zu den Positionen al-Qaradawis befragt, dass außerehelicher Sexualverkehr und Homosexualität als schwere Sünden auch mit drastischen Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe geahndet werden sollen und Selbstmordattentate in Israel legitim seien, erklärt der MJD-Vorsitzende, dass seine Organisation „Qaradawi nie als für uns wichtige Autorität bezeichnet“ habe. „Wir haben uns lediglich in einzelnen Fragen auf den ECFR bezogen – etwa zu Fragen des Reisens, der Musik und der Teilnahme an Wahlen. In Fragen, bei denen wir uns nicht auf ihn beziehen, haben wir eine erkennbar eigene Position. In einigen Fällen betreffen uns seine Ansichten als deutsche Jugendorganisation nicht. Das ist vor allem bei außenpolitischen Themen der Fall“, so Abul Ola.12

Salafitische Strömungen

Distanzierter zur nichtmuslimischen Umwelt und kompromissloser in ihrem Islamverständnis verhalten sich die an fundamentalistischen saudi-arabischen Gelehrten ausgerichteten salafitischen Gruppen. Sie propagieren eine absolute Souveränität Gottes in allen Lebensbereichen und orientieren sich am Vorbild der „lauteren Vorfahren“ (al-salaf al-salih) und damit an einem fiktiven „Urislam“, einem vermeintlich reinen Islam zu Zeiten des Propheten Muhammad und seiner Nachfolger im 7. und 8. Jahrhundert. Kennzeichnend für diese Strömungen ist der Missionseifer, der Muslime wie Nichtmuslime betrifft (da‘wa), die Abwertung all derjenigen, die nicht ihrer dogmatischen Islaminterpretation folgen13, sowie die extreme Ablehnung der Schiiten.

Besonderen Wert legen Salafiten auf die Einhaltung der konservativen Ethik- und Moralvorstellungen: Strenge Kleidervorschriften, Geschlechtertrennung und das Verbot von außerehelicher Sexualität sind Dogmen, mit denen die moralische Überlegenheit „des Islam“ gegenüber der als dekadent und materialistisch beschriebenen demokratischen Gesellschaft demonstriert werden soll. Nur ein „sündenfreies“ Leben im Dienste Gottes garantiere den Einzug ins Paradies. Radikale salafitische Strömungen propagieren darüber hinaus Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen die „Feinde des Islam“. Jeder Muslim sei zum Dschihad(hier „heiliger Krieg“) verpflichtet, wenn der Islam irgendwo auf der Welt aktiv unterdrückt werde.

In Deutschland tritt die salafitische Bewegung seit 2005 offensiv missionierend in Erscheinung und findet vor allem bei Jugendlichen Anklang, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ob aus muslimischem oder nichtmuslimischem Elternhaus. Man unterscheidet aktuell vier relevante Strömungen, mit fließenden Übergängen: die puristische (auf das eigene private Leben konzentriert); die politisch-missionarische mit Ablehnung von Gewalt (Mehrheit); die politisch-missionarische einschließlich der Legitimation des bewaffneten Dschihad sowie die dschihadistische.

Das Internet und die sozialen Netzwerke sind überfüllt mit deutsch- und türkischsprachigen Videos salafitischer Vorträge, Clips religiöser Propagandalieder oder ideologischen Schriften. Ob durch mehrtägige Seminare, regelmäßige Vortragsnachmittage, Infostände in Fußgängerzonen oder Großevents – die salafitischen Wanderprediger sind längst zu einer Herausforderung für alle muslimischen Gemeinden geworden, sprechen sie doch die Jugendlichen in einer Weise an, wie es die traditionellen Imame nicht vermögen. Die charismatischen Autoritäten14 mit ihrer dichotomen Weltsicht von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“ bieten den Jugendlichen eine klar abgrenzbare Identität und ein übersteigertes Selbstwertgefühl, unter anderem mit ihrem Anspruch, die „einzig richtige“ Islaminterpretation zu verkünden. Gleichzeitig sprechen sie das Gerechtigkeitsempfinden der Jugendlichen an, indem sie das Bild einer globalen Opfergemeinschaft der Muslime zeichnen. Dass Muslime sich gegen allgegenwärtige Diskriminierung und Unterdrückung wehren müssen, ist ein wesentlicher Aspekt salafitischer Propaganda.15

Knapp 5000 Anhänger sollen die salafitischen Strömungen in Deutschland derzeit haben, wobei die Zahl der Jugendlichen nicht bekannt ist. Die Zahl der dschihadistisch orientierten Salafiten beziffert der Verfassungsschutz auf etwa 200. Die Bedeutung der salafitischen Strömungen beruht jedoch nicht auf der Zahl ihrer Anhängerschaft. Es sind vor allem die Angebote im Internet, wo sie über eine klare Deutungshoheit gegenüber anderen Angeboten verfügen, die den Einfluss dieser Strömungen ausmachen. Jugendliche, die im Internet nach Informationen über den Islam suchen, landen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Seiten salafitischer Akteure.

Zwischen Ohnmacht und Aktivität

Im Unterschied zu den bildungsnahen und sozial integrierten islamistisch orientierten Jugendlichen, die ihren gesamten Lebensalltag entsprechend ihrer politisch-ideologischen oder dogmatisch-religiösen Orientierung gestalten, ihre Überzeugung leben und dafür auch aktiv werden, gestaltet sich die Affirmation gegenüber radikalen islamistischen Gruppierungen in Kreisen eher bildungsferner und sozial desintegrierter muslimischer Jugendlicher vor allem rhetorisch. Sie leiten aus dem positiven Bezug auf die radikalen und terroristisch agierenden Dschihad-Gruppen, deren Führungspersonen und „Märtyrer“ für sich selbst ein Überlegenheitsgefühl und ein übersteigertes Selbstwertgefühl ab. Es ist eher eine Kompensation erlebter eigener Ohnmacht und Perspektivlosigkeit sowie eine Flucht aus dem Alltag. Die Selbstaufwertung erfolgt größtenteils über das Internet und die dort veröffentlichten Gewaltvideos. Im Alltag äußern sich diese Bezüge bei den Jugendlichen nicht durch religiöses Verhalten oder Praktizieren der Religion, sondern eher durch einen das Männliche, Starke betonenden Habitus und in Form von Sprüchen, aggressiven verbalen Abgrenzungen entlang der Linie „Muslim“ – „Nichtmuslim“.

Eine wohl kleinere, schwer zu schätzende Anzahl von Jugendlichen geht über diese rhetorische und eher formale Identifikation hinaus. Sie beziehen über das Internet nicht nur die audiovisuellen Propagandamaterialien, sondern auch die zahlreichen religiös verbrämten ideologischen Schriften und Anweisungen und machen sie sich zu eigen. Gleichzeitig vernetzen sie sich über Diskussionsforen, und es entsteht eine virtuelle Gemeinschaft, die den Beteiligten das Gefühl gibt, einer weltweiten starken Gemeinschaft anzugehören, auch wenn sie im Alltag recht einsam sind.

Das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke und die breite Bloggerszene, ist aber auch der Raum für progressive Debatten und die Erarbeitung neuer Identitätsansätze: Patchwork-Identitäten mit Wertpositionen, die sehr stark, aber nicht ausschließlich aus der Religion abgeleitet werden. Diese jungen Muslime zeichnet ein hohes Selbstwertgefühl aus, verbunden mit einer uneigennützigen Einsatzbereitschaft – für die Gesellschaft an sich und für die Muslime im Speziellen. Diskriminierungen und Ablehnungen durch die Gesellschaft spornen sie eher an, als dass sie sich entmutigen lassen. Elemente der Popkultur, ein eher konservatives Religionsverständnis und soziales und politisches Engagement kennzeichnen diese muslimische Jugendszene. Hier entsteht eine kleine, aber recht selbstbewusste Elite, die entweder den traditionellen islamischen Verbänden neuen Schwung geben wird, so man sie denn lässt, oder „dem Islam“ in Deutschland in all seinen Ausprägungen ein eigenes Gesicht verleiht, dem sich diese Verbände werden stellen müssen.


Claudia Dantschke, Berlin


Anmerkungen

1 „Pssssst, über solche Themen redet man doch nicht!“, http://islam.de/19814. (Die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden am 6.3.2012 abgerufen.)

2 Siehe: „Über uns“ auf: www.cube-mag.de .

3http://muslime.tv/?p=1241 .

4 Bei der IGMG werden nur die Jungen ab zwölf Jahren der Jugendabteilung zugeordnet, für die Mädchen gibt es eine eigene Jugendabteilung innerhalb der Frauenabteilung.

5 24. November 2006, Freitagspredigt (Hutba): Gesprächskreise für Jugendliche, unter: www.igmg.de/islam/freitagspredigt/artikel/2006/11/24/413 .

6 Ebd.

7 Siehe dazu Friedmann Eißler (Hg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, EZW-Texte 211, Berlin 2010.

8 Jugendabteilung der Islamic Society of Britain, www.isb.org.uk/pages06/home.asp .

9 Siehe unter anderem den Verfassungsschutzbericht Berlin für das Jahr 2010, 184ff.

10 Siehe auch die aktuelle gerichtliche Auseinandersetzung der MJD mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dazu in diesem Heft S. 148-150.

11 Siehe www.lokalkreis-handbuch.de .

12 Ufuq.de, Newsletter Nr. 17/Mai 2010: „Der Is­lam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“. Ein Gespräch mit Hischam Abul Ola, Vorsitzender der Muslimischen Jugend in Deutschland.

13 Diese Abwertung kann so weit führen, dass Muslime zu Nichtmuslimen (Ungläubigen) erklärt werden: takfir – jemanden zum Nichtmuslim (kafir, Pl. kuffar) erklären.

14 Der ehemalige Profiboxer Pierre Vogel ist zwar der bekannteste Prediger, er ist aber nur einer von vielen.

15 Ausführlich zum Thema Salafismus: Claudia Dantschke/Ahmad Mansour/Jochen Müller/Yasemin Serbest, „Ich lebe nur für Allah“ – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin 2011, www.zentrum-demokratische-kultur.de .