Burkhard Guntau

Möglichkeiten und Grenzen der Religionsfreiheit

Religiöse Bindung und Verantwortung

Der Wandel der religiös-weltanschaulichen Situation in Deutschland schlägt sich auch in verfassungsrechtlichen Neubestimmungen nieder. Nach Meinung von Experten lasse sich eine Entwicklung beobachten, die vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht führt. Mit den Hintergründen und den sich daraus für die kirchliche Weltanschauungsarbeit ergebenden Folgen befasste sich die EZW-Jahrestagung für landeskirchliche Beauftragte für Weltanschauungsfragen und Referenten der Kirchenleitungen, die vom 7. bis 9. Mai 2007 in Bad Urach (Württemberg) stattfand. Im Rahmen der Tagung, die unter dem Thema „Religionsrechtliche Auseinandersetzungen“ stand, erläuterte der Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Burkhard Guntau, das Verhältnis von Staat und Religion und die Folgen, die sich daraus für die christlichen Kirchen ergeben. Wir danken dem Autor, dass er seinen Vortrag für die Veröffentlichung im MD zur Verfügung gestellt hat.


Jede Religion erhebt den Anspruch, das gesamte Verhalten an ihr auszurichten. Es gibt keine Religion, die ohne Konsequenzen für die Lebensführung wahrhaftig gelebt werden kann. Insofern hat jede Religion stets auch eine politische Dimension. Sie betrifft nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben. Die offene Gesellschaft westlicher Prägung lebt von der Vielfalt von Basisorientierungen, Meinungen, Lebensvorstellungen, Weltanschauungen und Religionen, deren Beziehungen zueinander im Prozess der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit auf der Grundlage gegenseitiger Toleranz gestaltet werden müssen.

Die Erfahrungen aus der Katastrophe der Religionskriege im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im 16. Jahrhundert haben gelehrt, Toleranz als das Komplementärprinzip zur Religionsfreiheit zu begreifen. Religionsfreiheit ist damit per se eine gebundene und nicht eine absolute Freiheit. Toleranz ist dabei nicht gleichzusetzen mit: alles für richtig halten und jedem Recht geben. Wenn alles gleich gültig ist, wird alles gleichgültig, beliebig und verliert an Bindungs- und Überzeugungskraft. Religiöse Toleranz meint das Aushalten und Austragen von Differenzen in Anerkennung der Gleichrangigkeit. Die freiheitliche, offene Gesellschaft lebt dabei nicht davon, dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt; sie braucht die wache, selbstbewusste Toleranz, die den Dialog einfordert, um Antworten auf die die Menschen bewegenden Fragen zu suchen.

Spätestens die Ereignisse des Terrors seit 2001 haben deutlich gemacht, wie unausweichlich der Dialog ist, um die religiöse Toleranz auch in unserem Lande nicht zu gefährden. Sie ist die Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft und für den Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Sie zu erhalten ist – um Gottes und der Menschen willen – Aufgabe aller Religionen. Die Gewalttaten in Amerika, Europa, der Türkei und islamischen Ländern haben der politischen Klasse klargemacht, dass die tatenlose Hinnahme der Entwicklung religiös begründeter Parallelgesellschaften – wie dies auch in unserem Lande in Bezug auf den Islam in vielen Städten zu beobachten ist – zu einem Nährboden des Fundamentalismus geführt hat. Niemand kann das Recht haben, unter Berufung auf religiöse Regeln oder auf kulturelle Traditionen aus dem jeweiligen Herkunftsland, andere Menschen zu etwas zu zwingen, sie zu töten oder zu verletzen. Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften sind heute in besonderem Maße gehalten, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen und die Rahmenbedingungen der Religionsfreiheit in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Gemeinwesens rechtlich verbindlich zu regeln, in der religiöser Fanatismus keinen Platz hat und haben kann. Das zwingt den Staat zur Wachsamkeit und notfalls zum Handeln.

Das Verhältnis von Religion und Staat, von Religion und Politik, von Religion und innerem wie äußerem Frieden ist zum großen Thema geworden, nicht nur für die Kirchen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Auf der Weltbühne treten Verbindungen zwischen Religion und politischer Macht auf, die in Westeuropa überwunden schienen. Dies gilt nicht nur für die sog. islamischen Staaten, sondern auch für die Verbindung von Nationalismus und Religion in osteuropäischen Ländern. Selbst in den USA werden religiöse Überzeugungen zur Legitimation politischer Entscheidungen herangezogen. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Religionsausübung in Deutschland wird damit zur Kernfrage, ob die Entscheidung des Grundgesetzes für die freiheitliche Demokratie, die Trennung von Staat und Kirche und der damit einhergehenden religiösen Neutralität des Staates, die Anerkennung der Religionsfreiheit für den Einzelnen (Art. 4 GG) wie für die Religionsgemeinschaft als Ganzer (Art. 4, 140 GG) tragfähig ist.

Der freiheitliche Staat ist darauf angewiesen, dass er von seinen Bürgerinnen und Bürgern getragen wird, die sich der Freiheit bewusst sind und sie in Verantwortung wahrnehmen. Die Bereitschaft, dies zu tun, ist dem Menschen nicht angeboren, sondern muss erlernt werden. Die Einstellung zum Gemeinwesen wird bei aller Pluralität maßgeblich von Elternhaus, Kindergarten, Schule und den Religionsgemeinschaften geprägt, denen Eltern und Kindern angehören. Ihnen stehen die „heimlichen Erzieher“ gegenüber, unter denen das Internet und die Massenmedien eine dominierende Rolle einnehmen. Die christlichen Kirchen stellen sich daher heute ihrem seit jeher gegebenen Bildungsauftrag in verstärkter Weise. Es kommt nicht von ungefähr, dass sie zu den größten Trägern von Kindergärten gehören und dass evangelische wie katholische Schulen sich einer größeren Nachfrage gegenübersehen, als sie an Schülerinnen und Schülern aufnehmen können. Die von ihrem christlichen Gewissen geleiteten Bürger und Bürgerinnen sind es, die in freier Entscheidung als persönliche Tugend christliche Werte in Staat und Gesellschaft vertreten und sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft stellen. Die Kirchen stehen zu ihrer öffentlichen Verantwortung und suchen „der Stadt Bestes“, wie es beim Propheten Jeremia (Kap. 29,7) heißt. Sie sehen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches an, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist. Die EKD hat sich 1985 in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ eingehend mit dem Verhältnis der evangelischen Kirche zur Bundesrepublik Deutschland befasst. Sie kommt zu der zutreffenden Feststellung, dass nur eine demokratische Verfassung und die Trennung von Staat und Religion der Menschenwürde entsprechen können. Die Kirchen träumen von keinem christlichen Gottesstaat. Sie stehen auf dem Boden der freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Diese Grundhaltung gilt nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit für alle Religionen. Ein unkritisches Sympathisieren mit der multireligiös gewordenen Gesellschaft in Deutschland ist vor diesem Hintergrund naiv und schädlich. Demokratie setzt zwar Pluralismus voraus; dieser ist jedoch an Grenzen gebunden. Dies ergibt sich schon daraus, dass in der freiheitlichen Demokratie nicht eine Wahrheit alle anderen Überzeugungen verdrängen kann. Die Freiheit des einen darf nicht zur Unfreiheit der anderen werden. Die Pluralität erfährt ihre Grenzen um der Freiheit der Menschen willen an den Menschenrechten, die den Menschen erst zum Menschen machen und ihn zur Freiheit befähigen. Die grundrechtlich geschützte Freiheit hat nicht aus sich heraus Bestand. Sie ist ein Angebot an zur Freiheit berufene und befähigte Bürgerinnen und Bürger, für das geworben und eingetreten werden muss. Hieraus ergeben sich zwangsläufig Anfragen an die Religionsgemeinschaften:

• Wie stehen sie zum Einsatz von Gewalt?

• Welche Einstellung haben sie zum Andersgläubigen?

• Wie stehen sie zur Gleichheit von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft?

• Wie stehen sie zur Wahrnehmung demokratischer Rechte und zur Übernahme von Verantwortung?

• Erkennen sie die Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit an?

Es werden Antworten erwartet und eindeutiges Handeln. Spätestens seit der Konfrontation mit dem gewaltbereiten, religiös verbrämten Fundamentalismus ist es unausweichlich, Religionen mit der Kraft zu kritischer Unterscheidung zu begegnen und zu fordern, dass sich die Religionsgemeinschaften von Hasspredigern trennen und Indoktrinationen aufgeben, die sich gegen die freiheitliche, offene Gesellschaft richten. Es ist heute an anderen Religionen – wie insbesondere dem Islam – sich in das freiheitliche System des Religionsverfassungsrechts des Grundgesetzes wie des Rechts der Europäischen Union einzubringen.

Verfassungsrechtliche Garantie der Religionsfreiheit

Die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland ist die freiheitliche, demokratische Grundordnung unseres Staatswesens, die durch Gewaltenteilung, Vergabe politischer Macht auf Zeit, die parlamentarische Verantwortung der Regierung, die Geltung der Grundrechte und die Installierung der Verfassungskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht gekennzeichnet ist. Der innere Frieden in diesem Gemeinwesen verlangt von allen Gliedern der Gesellschaft, dass die elementaren Grundlagen, auf denen das Ganze beruht, von jedermann akzeptiert werden. Im demokratischen Rechtsstaat gibt es das Recht auf Unterschiede, aber es kann kein unterschiedliches Recht geben. Die damit verbundene Problematik ist durch das Entstehen der multireligiösen Gesellschaft deutlicher hervorgetreten, was aber nichts daran ändert, dass keine Ausnahmen (etwa zugunsten der Scharia) von der für alle geltende Rechtsordnung zulässig sind. So ist das Urteil einer Familienrichterin, die ein Züchtigungsrecht eines muslimischen Ehemannes für rechtlich zulässig hielt, abwegig und zu Recht einhellig abgelehnt worden.

Religiöse Neutralität des Staates

Das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften berührt die staatliche Rechtsordnung, da es dabei auch um die Frage geht, inwieweit ihnen das staatliche Recht Raum gibt, sie fördert oder behindert. Die Grundlagen und die Einzelheiten des Verhältnisses des Staates zu allen Religionsgemeinschaften regelt das Grundgesetz in den Artikeln 1, 4, 7 und 140. Die Verfassung privilegiert dabei nicht die christlichen Kirchen, sondern behandelt alle Religionsgemeinschaften gleich. Art. 4 GG garantiert die Religionsfreiheit des Einzelnen, beinhaltet aber ein Grundrecht, das für die Religionsgemeinschaften selbst ebenso gilt, denn Religionsausübung ist auf die Gemeinschaft mit anderen angewiesen, hat also immer eine individuelle und eine kollektive Seite.

Nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV sind Staat und Kirche getrennt. Nur der religiös neutrale Staat kann die volle Religionsfreiheit verfassungsrechtlich sichern. Ein religiös gebundener Staat, der sich einer Religion gegenüber in besonderer Weise verpflichtet weiß, läuft Gefahr, gegenüber anderen Religionen in seinem Staatsgebiet allenfalls tolerant zu sein. Toleranz lässt aber die Möglichkeit offen, die gewährte Freiheit wieder zu beschränken. Die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung gehört auch heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Die Freiheit des Individuums kann aber die Freiheit des religiösen Bekenntnisses nicht ausblenden. Der Staat, der anerkennt, dass der Mensch frei und mit Rechten ausgestattet geboren wird, kann ihn nicht einer vorgegebenen Religion zuweisen oder ihn direkt oder indirekt zu bestimmen versuchen, sich für eine Religion zu entscheiden, oder die Religionsausübung ins Private abdrängen. Der moderne, freiheitliche und demokratische Staat legitimiert sich nicht von Gott her, sondern allein von den Menschen her, die in diesem Gemeinwesen miteinander verbunden sind, auch wenn diese in Verantwortung vor Gott stehen – wie es die Präambel unseres Grundgesetzes zu Recht formuliert. Daher fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, dass der Staat eine Religion zur verbindlichen Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens seiner Bürger macht.

Religiöse Neutralität setzt eine klare institutionelle Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften voraus. Die Kirchen treten für diese Trennung ein. Sie stellt für das Christentum kein theologisches Problem dar. Die Kirche entstand in der politischen Wirklichkeit des Imperium Romanum und entwickelte sich ohne realistische Aussicht auf Teilhabe an staatlicher Macht und ohne die Erwartung, die Staatsmacht binden zu können. „Gebt des Kaisers, was des Kaisers ist“, ist Ausdruck der Tatsache, dass es allein um das Verhältnis des Menschen zu Gott in der Heilsbotschaft Jesu geht und nicht um politische Herrschaft. Das Christentum begann als Kirche im Untergrund. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zum Islam vor, für den Gesellschaftsordnung (und damit Staat) und Religion im Grundsatz eine Einheit bilden: Der Staat ist organisierte Religion. Sein Recht ist religiöses Recht. Seine Quellen findet das Recht in der Religion.

Religiöse Neutralität des Staates bedeutet jedoch nicht, dass ihm die religiösen Bedürfnisse der Menschen, die seiner Staatsgewalt unterworfen sind, gleichgültig sein müssen. Religion gehört zwar nicht zu den Staatsaufgaben; dies bedeutet nach deutschem Verfassungsrecht allerdings nicht, dass das Religiöse aus dem öffentlichen Bereich verbannt ist. Vielmehr erkennt der freiheitlich-demokratische Staat die große Bedeutung der Religion im Prozess der Werte- und Überzeugungsbildung an. Er braucht bei aller Säkularität und religiösen Neutralität ein sozialethisches Fundament, er lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Jede Gesellschaft verfügt nur dann über eine innere Stabilität, wenn sie eine Wertordnung hat, der gegenüber sich die einzelnen Bürgerinnen und Bürger verpflichtet wissen. Die Verfassungsordnung erwartet von den Religionsgemeinschaften, dass sie sich in den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Die freiheitliche, demokratische Grundordnung ist auf den offenen Meinungsaustausch angewiesen. Dazu gehört die Stimme der Religionsgemeinschaften. Die christlichen Kirchen sind – und darin unterscheiden sie sich grundlegend von Parteien und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen – nicht in den Prozess gesellschaftlicher Produktion, Reproduktion und Erhaltung eingebunden. Die von Sachzwängen geprägte Lebenswirklichkeit braucht Kräfte, die in Freiheit und Unabhängigkeit am gesellschaftlichen Willensbildungsprozess mitwirken, die Sprachlosen eine Stimme verleihen können und die nicht selbst Politik machen, aber Politik möglich machen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass am Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch solche beteiligt sind, die kein Eigeninteresse haben. Daher ist das Verhältnis des Staates zu den Kirchen bei uns nicht durch Laizismus oder Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens gekennzeichnet, wie es in Frankreich mit seiner radikalen Trennung von Staat und Religion der Fall ist. (Dort dürfen z.B. muslimische Schülerinnen an staatlichen Schulen kein Kopftuch tragen.) Vielmehr gibt das Grundgesetz den Religionsgemeinschaften Raum, in der Öffentlichkeit zu wirken. Art. 4 und Art. 140 GG bedeuten für die Kirche also nicht nur, dass der Staat die ungestörte Religionsausübung gewährleistet, sondern die Verfassung enthält die Erwartung, dass sich die Religionsgemeinschaften aktiv in die Willensbildung der Gesellschaft einbringen, dass sie ihren Beitrag in den Bereichen Bildung, Medien, Wissenschaft und Kultur und im öffentlichen Diskurs leisten.

Fördernde Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaft

Um dem Anspruch seiner Bürger und Bürgerinnen auf positive Religionsausübung gerecht werden zu können, ist der Staat im Religionsunterricht an staatlichen Schulen, in der Seelsorge in Krankenanstalten, in der Bundeswehr, in Polizei und Grenzschutz, in Haftanstalten und Landeskrankenhäusern, bei theologischen Fakultäten und kommunalen Friedhöfen auf die Mitwirkung der Religionsgemeinschaften angewiesen. Religiöse Neutralität bedeutet nicht, dass der Staat sich von jeder Förderung von Religion fernzuhalten hat. Solche radikalen Forderungen gehören in die Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts. Sie betrachten Staat und Kirche als zwei in sich geschlossene Systeme, die der Gesellschaft gegenüberstehen. In der modernen pluralistischen Gesellschaft gibt es weder eine Einheitsgesellschaft noch die Möglichkeit ein Gegenüber von Institution und Gesellschaft zu bilden. Die Religionsgemeinschaften verwirklichen ihren geistlichen Auftrag an der Welt in der Welt, indem sie als ein Teil dieser Gesellschaft am demokratischen Willensbildungsprozess und damit an der Gestaltung des Gemeinwesens aktiv teilnehmen.

Die positive Förderung der Religionsausübung durch den Staat verstößt nicht gegen das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates, solange der Grundsatz der Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften gewahrt bleibt. Hierfür treten die christlichen Kirchen ein. Sie tun dies einschränkungslos, also unabhängig davon, ob in anderen Staaten Christen keine oder nur eine sehr eingeschränkte Religionsfreiheit eingeräumt wird oder Staaten tatenlos zusehen, wie Christen von Angehörigen anderer Religionen bedrängt und unterdrückt werden. Denn obwohl die Religionsfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte gehört und durch internationale Abkommen gewährleistet scheint, gehört die Unterdrückung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung heute in vielen Ländern zur politischen Realität. Die EKD hat 2003 in einer Studie zur Lage der Religionsfreiheit diese Unterdrückung im Einzelnen festgestellt. An den zum Teil bedrückenden Beispielen zeigt sich: Die Religionsfreiheit wird zur Nagelprobe für die Einstellung des Staates zur menschlichen Freiheit überhaupt. Daher würden, worauf Altbundespräsident Rau in seiner Rede zur Religionsfreiheit am 22. Januar 2004 zu Recht mit Nachdruck hingewiesen hat, sich „viele Menschen bei uns leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen können, wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen“. Gleichbehandlung bedeutet allerdings nicht, alles gleich zu behandeln. Er fordert vielmehr nur wesentlich Gleiches gleich, aber wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der Staat kann und muss daher gewaltbereiten und gewalttätigen Religionsgemeinschaften, religiösen Gruppen und religiös motivierten Personen entschlossen entgegentreten.

Religion als Rechtsbegriff

Durch die verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 4 GG ist die Religionsfreiheit als Rechtsgut geschützt. Die Bestimmung des Schutzbereiches, also die Frage danach, welches religiös bestimmte Verhalten dem verfassungsrechtlichen Schutz unterfällt, sowie die Frage nach den rechtlichen Grenzen der Religionsausübung sind Rechtsfragen. Damit bedarf der Begriff „Religion“ der juristischen Auslegung. Nach der ständigen Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, der die herrschende rechtswissenschaftliche Lehre folgt, betrifft die Religionsfreiheit nicht das Fürwahrhalten jedes beliebigen Meinungsinhalts, sondern nur den Glauben in jenem engeren Sinne, der auf eine Gottesvorstellung ausgerichtet ist. Nach der Definition des Bundesverwaltungsgerichts ist unter „Religion“ eine „mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen“. Den Schwierigkeiten bei der Definition des Religionsbegriffs und bei der Bestimmung der Reichweite der Religionsfreiheit versuchen die Rechtsprechung und große Teile der Lehre dadurch zu entgehen, dass sie dem Selbstverständnis des jeweiligen Grundrechtsträgers entscheidende Bedeutung zumessen. Der religiös neutrale Staat kann selbst den Inhalt einer Religion nicht bestimmen. Er darf den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten. Er darf auch nicht durch von ihm formulierte Vorgaben den Schutzbereich der Religionsfreiheit einengen.

Allerdings kann das Selbstverständnis auch nur in Grenzen zur Definition dessen herangezogen werden, was unter Religion zu verstehen ist. Denn würde es nur darauf ankommen, stünde die Reichweite der verfassungsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit und der sich hieraus ergebenden Konsequenzen vollständig im Belieben des Grundrechtsträgers. Dem Selbstverständnis sind daher äußere, nicht subjektiv durch den Grundrechtsträger, sondern durch den Staat bestimmte objektive Grenzen zu ziehen. Insoweit unterscheidet sich die Religionsfreiheit nicht von der juristischen Auslegung anderer Grundrechte. Zu Recht weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass „nicht allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft für diese und ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 GG rechtfertigen können. Vielmehr muss es sich auch tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um eine Religion und eine Religionsgemeinschaft handeln. Dies im Streitfall zu prüfen und zu entscheiden obliegt – als Anwendung einer Regelung der staatlichen Rechtsordnung – letztlich den Gerichten, die dabei keine freie Bestimmungsmacht ausüben, sondern den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff der Religion zu Grunde zu legen haben.“ Die Selbsteinschätzung muss also plausibel sein. In diesem Sinn sind ein hinreichend geschlossenes Gedankengebäude über die Welt als Ganzes als Gegenstand des Bekenntnisses, ein Minimum an personellem Zusammenhang durch Organisation und ein Mindestkonsens alles, was der Staat für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft fordern darf. Eine Beurteilung der Religionsgemeinschaft, ihres Glaubens, ihres Bekenntnisses und ihrer Lehre nach dem geistigen Wert oder der theologischen Qualität darf nicht stattfinden.

Die Frage, ob eine Gemeinschaft als Religionsgemeinschaft anzuerkennen ist oder nicht, gewinnt Bedeutung im Zusammenhang mit der Beurteilung von Sekten oder wirtschaftlich orientierten Unternehmen, die für sich in Anspruch nehmen, eine Religionsgemeinschaft zu sein. Wirtschaftliche Tätigkeit kann nicht dadurch den Schutz der Religionsausübung in Anspruch nehmen, dass die verfolgten Zwecke eine Religionsgemeinschaft fördern oder dass wirtschaftliches Tätigwerden mit einer religiösen Sinngebung versehen wird. Es kommt auf das objektive Erscheinungsbild an, das eine sich wirtschaftlich betätigende Vereinigung abgibt. Für die christlichen Kirchen ist die tätige Nächstenliebe in ihrem diakonischen Handeln von Anbeginn an Ausdruck ihres Glaubens. Demgegenüber verbrämt beispielsweise die sog. Scientology-Church ihr Gebaren mit einem religiösen Deckmantel und wird daher zu Recht nicht als Religionsgemeinschaft im Sinne des Artikels 4 GG anerkannt.

Individuelles Grundrecht

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Durch diese Formulierung in Art. 1 GG bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland zu den unveräußerlichen Menschenrechten und verleiht ihnen den Charakter von einklagbaren Grundrechten. Die Würde eines Menschen kann zwar mit Füßen getreten, dem Menschen aber nicht genommen werden. Er behält sie auch in der Erniedrigung. Menschenwürde setzt geistige Freiheit und Gewissensfreiheit voraus. Nur wer frei ist, sich zwischen Gut und Böse selbstverantwortlich zu entscheiden, kann sein Leben in Freiheit unter Achtung der Menschenwürde seiner Mitmenschen entfalten. Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit gehören eng zusammen. Wenn Menschen ihre Religion nicht frei ausüben und ihrem Gewissen nicht folgen können, sind sie in ihrer innersten Freiheit betroffen. Die seit dem Entstehen der Menschheit gestellte Frage nach dem Sinn des Lebens, dem Woher und Wohin, erfährt gerade durch Religion eine Antwort. Ob sie der Einzelne als für sein Leben bestimmend anerkennt und sein Leben daran ausrichtet, kann nur er in eigener Selbstbestimmung für sich entscheiden. Wahrer Glaube setzt diese freie Entscheidung voraus. Die Achtung der Menschenwürde erfordert daher die Gewährleistung der Religionsfreiheit durch den Staat.

Dies nimmt Art. 4 Abs. 2 GG auf. Danach wird „die ungestörte Religionsfreiheit ... gewährleistet“. Sie gibt dem Einzelnen positiv das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen Überzeugungen auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln. Sie schließt negativ ein, religiöse Überzeugungen abzulehnen und damit auch, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten. Die verfassungsrechtliche Garantie der Religionsfreiheit anerkennt, dass es sich dabei um ein allgemeines, universales Menschenrecht handelt. Die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG ist ein „Jedermannrecht“, das heißt, nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer können sich gegenüber der deutschen Staatsgewalt auf Artikel 4 GG berufen.

Kollektives Grundrecht

Religionsausübung ist darauf angelegt, in Gemeinschaft mit anderen zu geschehen. Sie hat also stets eine kollektive Komponente. Wirkliche Religionsfreiheit herrscht in einem Gemeinwesen nur dann, wenn nicht nur der Einzelne für sich seine Religion frei wählen und ausüben kann, sondern wenn auch eine von staatlichen Behinderungen freie öffentliche Betätigungsmöglichkeit der Religionsgemeinschaften gewährleistet ist. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit für die Religionsgemeinschaften ist unabhängig davon, in welcher rechtlichen Form die Religionsgemeinschaft als solche verfasst ist.

Lediglich aufgrund der historischen Entwicklung und der Anerkennung des Wirkens der christlichen Kirchen, die – was die evangelischen Kirchen anbelangt – seit der Reformation bis zur Trennung von Staat und Kirche durch die Weimarer Rechtsverfassung 1919 Staatskirchen waren, blieben die evangelischen Kirchen nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV Körperschaften des öffentlichen Rechts. Dabei unterliegen sie allerdings, anders als die sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts, nicht einer Staatsaufsicht, sie sind nicht Teil der Staatsverwaltung, sondern stehen dem Staat als eigenständige Größe gegenüber. Andere Religionsgemeinschaften können ebenfalls den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erwerben. Der verfassungsrechtliche Schutz der Religionsfreiheit ist hieran jedoch nicht gebunden. Der Religionsgemeinschaft fehlen lediglich die rechtlichen Möglichkeiten des Handelns als Körperschaft des öffentlichen Rechts wie das Steuererhebungs-, das öffentliche Dienstrecht, die Regelung des Mitgliedschafts- und anderen Rechts durch Gesetz. Auch die Religionsgemeinschaften, die in Form eingetragener Vereine oder sogar als nicht eingetragene Vereine bestehen, genießen den verfassungsrechtlichen Schutz der Religionsfreiheit.

Schutzbereich der Religionsfreiheit

Die Bestimmung des Schutzbereiches, also welches religiös bestimmte Verhalten dem verfassungsrechtlichen Schutz unterfällt, ist weit zu fassen. Hierzu gehören kultische Handlungen, die Beachtung religiöser Gebräuche, der Gottesdienst, die Sammlung von Kollekten, Gebete, der Empfang der Sakramente, Prozessionen und Versammlungen, das Zeigen von Fahnen, Glockengeläut, religiöse Erziehung, Mission, der Wechsel der Religion, die Abgabe öffentlicher Erklärungen, diakonische und karitative Liebestätigkeit, die Einhaltung von Kleidungs- und Speisevorschriften u.a. Art. 4 GG schützt nicht nur die positive Religionsfreiheit, sondern auch die negative als Freiheit, keinen Glauben zu haben, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten, den Glauben zu verschweigen oder die Beachtung oder Ausübung religiöser Handlungen zu verweigern.

Grenzen der Religionsfreiheit

Die abendländische Zivilisation stellt den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Gesellschaftsordnung und unterscheidet sich damit von anderen Kulturkreisen. Die Wurzeln hierfür liegen vor allem in dem durch das Christentum bestimmten Menschenbild. Nach Altem wie nach Neuem Testament ist jeder Mensch Ebenbild Gottes. Er hat sein Leben in eigener Verantwortung vor Gott zu gestalten. Verantwortung setzt Selbstbestimmung und diese Freiheit voraus. Dass diese Freiheit ein dem Menschen angeborenes Recht ist, wurde durch die geistesgeschichtlichen Erkenntnisse der Aufklärung formuliert. Dieses Recht ist dem Staat vorgelagert. Er hat es zu respektieren und zu sichern. Diese Freiheit verleiht der Staat nicht; er findet sie vor. Der Mensch ist nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. Das ist die Grundlage, auf der die offene Gesellschaft beruht. Aufgabe des Staates ist es, den inneren Frieden der Gesellschaft sicherzustellen und so zu gewährleisten, dass die Freiheit des einen nicht zur Unfreiheit des anderen wird. Diese Aufgabe darf er nicht vernachlässigen.

Die Erfahrungen der Weimarer Republik haben gelehrt, dass sich eine offene Gesellschaft dagegen wehren können muss, dass Kräfte unter dem Deckmantel von Freiheitsrechten zur Gewalt aufrufen und Gewalttaten begehen können und damit die Grundlagen, auf der die Freiheit beruht, beseitigen. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat muss um seiner selbst willen ein wehrhafter sein. Es kann keine Toleranz gegenüber Intoleranz geben. Zwar ist es dem Staat verwehrt, Glaube und Lehre zu bewerten. Dennoch muss er das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien beurteilen, auch wenn das Verhalten religiös motiviert ist oder scheint. Alle Religionsgemeinschaften haben den verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen, der auch die Grundlage ihrer eigenen religiösen Freiheit bildet, einzuhalten. Das Nebeneinander der Religionen darf das friedliche Zusammenleben in ein und demselben Gemeinwesen nicht gefährden. Das Grundgesetz fordert von allen Religionsgemeinschaften Toleranz ohne Wenn und Aber. Das schließt das Werben für die eigene Überzeugung und die Mission nicht aus. Es duldet aber keinen gewaltsamen oder gewaltbereiten Fundamentalismus. Das Gewaltmonopol liegt allein beim Staat. Er hat den inneren Frieden zu gewährleisten und muss notfalls Schranken setzen.

Aber nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft und damit auch die Religionsgesellschaften sind aufgerufen, der Gewaltbereitschaft Widerstand entgegenzusetzen. Keine Religion hat das Recht zur Gewalt. Insofern muss der Islam sich eindeutig von Extremisten distanzieren – und dies nicht nur verbal. In der offenen Gesellschaft kann es keine Kompromisse bei der Anerkennung ihrer Grundlagen geben. Um der Freiheit und des inneren Friedens willen müssen diese Grundlagen von allen Religionsgemeinschaften anerkannt werden. Wie sich die Religionen verhalten, entscheidet mit darüber, ob unsere eine Welt ihre Probleme und Ungerechtigkeiten in Frieden angehen kann oder ob Gewalt sie ins Chaos stürzt, wie wir es schmerzlich seit dem 11. September 2001 erleben mussten.

Es ist heute insbesondere Aufgabe des Islam, sich in die freiheitliche Rechtsordnung einzubringen. Die Erinnerung an unsere eigene Geschichte und der Respekt für den Lernprozess der anderen gebieten es zwar, Geduld zu haben, weil die damit verbundenen Probleme nicht unterschätzt werden können. Um der inneren Stabilität der Gesellschaft willen ist es jedoch notwendig, dass die individuelle wie die korporative Religionsfreiheit mitsamt der religiösen Neutralität des Staates und die gemeinsame Verantwortung von Staat und Religion für das Gemeinwesen geachtet werden. Denn die Bejahung der in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommenden Gesellschaftsordnung bildet die gemeinsame Basis für unsere Zukunft.

Die Freiheit des einen darf nicht zur Unfreiheit des anderen werden. Nur so kann in einer Gesellschaft Freiheit garantiert werden. Deswegen stehen die meisten Freiheitsgrundrechte auch unter einem so genannten Gesetzesvorbehalt, der es ermöglicht, in die Freiheitssphäre einzugreifen, aber eben nur auf Grund einer gesetzgeberischen Entscheidung. Dies ist kein Freibrief für den Gesetzgeber. Der Gesetzesvorbehalt erlaubt nur insoweit in die Freiheitssphäre einzugreifen, als dies zur Verfolgung eines zulässigen Zieles erforderlich ist. Soweit dem Gesetzgeber dabei mehrere Handlungsmöglichkeiten zustehen, darf er nur das Mittel wählen, das den geringstmöglichen Eingriff zur Folge hat. Und schließlich muss er Mittel und Zweck, Freiheitsraum und Beschränkung in einer nachvollziehbaren Art und Weise abwägen.

Unter einem solchen Gesetzesvorbehalt steht die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG nicht. Hier ist vielmehr die Rede davon, dass die „ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird“. Von seinem Schutzbereich her erlaubt die Religionsfreiheit, das ganze Leben nach den Geboten und Verboten der Religion auszurichten und sie im privaten wie im öffentlichen Bereich zu leben. Die Religionsfreiheit kann aber um der Einheit der Verfassung willen keine Legitimationsgrundlage für beliebige Verhaltensweisen bieten. Insoweit unterliegt die Religionsfreiheit verfassungsunmittelbaren, immanenten Schranken:

• Sie darf nicht in die von der Verfassung ebenfalls garantierten Grundrechte Dritter eingreifen. Daher ist jede Form physischer wie psychischer Gewalt von der Religionsfreiheit nicht gedeckt.

• Auch andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter können eine Begrenzung der Religionsfreiheit nach sich ziehen. Als Beispiel sei hier darauf verwiesen, dass etwa die Scharia unter Berufung auf die Religionsfreiheit nicht zur Anwendung kommen kann. Im Bereich des Schulwesens ist die staatliche Erziehungspflicht aus Artikel 7 GG zu sehen. Aus der Pflicht des Rechtsstaats zur Strafverfolgung können dem Zeugnisverweigerungsrecht aus religiöser Überzeugung ebenfalls Grenzen gesetzt werden, andererseits muss der Staat bei der Verbrechensbekämpfung und Terroristenabwehr das Beicht- und Seelsorgegeheimnis strikt wahren.

Wo die Grenzen zu ziehen sind, ist im Einzelfall sorgfältig abzuwägen, wobei der Wechselbeziehung zwischen den im Widerstreit stehenden Verfassungsgütern Rechnung getragen werden muss. Es geht darum, im Ergebnis einen „goldene Mittelweg“ um der Einheit der Verfassung willen zu finden. Es geht um eine praktische Konkordanz der in Widerstreit stehenden, ihrerseits gleichrangigen Verfassungsgüter. Danach müssen die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter in der Problemlösung so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen die größtmögliche Entfaltungsfreiheit erhält. Es darf also nicht vorschnell das eine Rechtsgut dem anderen vorgezogen werden.

Auch die Religionsfreiheit ist kein absoluter Freiraum. Eine freie Gesellschaft muss zwar dem Andersglaubenden das Zusammenleben in der Gemeinschaft ermöglichen, dies darf aber nicht dazu führen, dass das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft unmöglich gemacht wird oder der Staat seiner Aufgabe als Friedensordnung nicht gerecht werden kann. Vielmehr stellt das Prinzip der Einheit der Verfassung die Aufgabe einer Optimierung: Beiden Rechtsgütern müssen Grenzen – soweit dies nicht zwingend ausgeschlossen ist, weil natürlich das Recht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit nicht beschränkt werden darf – gezogen werden, um einen möglichst gleichen Freiraum zu erreichen. Dabei muss die Grenzziehung im konkreten Einzelfall verhältnismäßig sein. Sie darf nicht weiter gehen, als es notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen. „Verhältnismäßigkeit“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Relation zweier variabler Größen, und zwar diejenige, die der Optimierungsaufgabe am besten gerecht wird. Es müssen also zunächst die beiden Freiräume bestimmt werden. Es muss weiter die Konfliktlage genau beschrieben werden. Es ist dann abzuwägen, inwieweit die Religionsfreiheit um der Freiheit des anderen Verfassungsrechtsguts willen eingeschränkt werden muss. Dabei muss es ausgeschlossen sein, dass andere Mittel den Zweck ebenso gut erreichen können. Dies verbietet das Beharren auf Maximalpositionen.

Unter Umständen muss der Staat durch Organisationsakte Voraussetzungen schaffen, um der Religionsfreiheit dienen zu können, wie dies etwa beim Schulsport von muslimischen Schülerinnen der Fall war oder wenn es um den sogenannten Lauschangriff geht, der vor dem Dienstzimmer von Pfarrern und Pfarrerinnen Halt machen muss. Dies führt im Ergebnis zu einer am Einzelfall orientierten Lösung und verbietet generelle Aussagen.

Die Rechtsprechung bietet eine Fülle an Einzelbeispielen für die Zulässigkeit notwendiger Einschränkungen der Religionsfreiheit, aber auch dafür, wie die Religionsfreiheit vor unberechtigten Eingriffen geschützt wird. Eine Besonderheit bilden die Fälle, in denen die positive auf die negative Religionsfreiheit trifft, wie z.B. in der Schule beim Schulgebet oder dem Kruzifix im Klassenzimmer. Die negative Religionsfreiheit reicht nicht weiter als die positive, vermag diese also nicht zu verdrängen. Vielmehr ist auch hier eine ausgleichende Lösung zu finden.

Schlussbemerkung

Religionsfreiheit dient nicht nur dazu, dem Einzelnen und den Religionsgemeinschaften Freiräume zu eröffnen. Heute besteht mehr denn je auch eine Furcht vor Religion. Gewaltsamer religiöser Fundamentalismus, Sekten, die Psychodruck ausüben, Spiritismus und anderes mehr haben die Menschen verunsichert. Dies ist eine Herausforderung für den Staat wie auch für die Religionsgemeinschaften. Der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes erfüllt seine Aufgabe der Freiheitssicherung durch die notwendige Abwägung auf der Ebene der Verfassung. Die Suche nach der praktischen Konkordanz von in Widerspruch tretenden Verfassungsgütern hat in der Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts in der Regel zu zutreffenden Ergebnissen geführt – sieht man einmal von der sog. Kruzifixentscheidung oder vom Streit um LER (Unterrichtsfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“) ab.

Die evangelischen Kirchen bejahen diese Verfassungsordnung und sehen in ihr die Religionsfreiheit gewährleistet. Das Eintreten für die Religionsfreiheit als Menschenrecht gründet für die Kirche in der christlichen Glaubensgewissheit, um deretwillen der Mitmensch als Nächster geachtet und in seiner abweichenden Glaubensweise respektiert wird. Reformatorischer Glaube stützt sich auf eine göttlich zugesprochene Anerkennung der menschlichen Person, die unabhängig von ihren Taten und damit auch ihren Überzeugungen gilt. Daher entspricht es dem Kern christlichen Glaubens, die Menschenwürde und damit die Religionsfreiheit auch Menschen anderen Glaubens zuzusprechen. Damit anerkennen die Kirchen zugleich das Existenzrecht anderer Religionen, einschließlich ihres Anspruchs auf ein Wirken in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Dies war nicht immer so. Die Kirchen waren keineswegs Avantgardisten politischer Freiheit und erst recht nicht der individuellen Religionsfreiheit. Die uns heute so selbstverständlich erscheinende Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist in den christlichen Kirchen das Ergebnis eines langen historischen und theologischen, bisweilen recht schmerzhaften Entwicklungs- und Lernprozesses.

Die Verwirklichung der Religionsfreiheit als Menschenrecht weltweit ist heute eine unaufgebbare Forderung und ein Anliegen der beiden großen Kirchen in Deutschland. Die einschränkungslose Bejahung der individuellen wie der kollektiven, der negativen wie der positiven Religionsfreiheit ist ein Ergebnis des geistesgeschichtlichen Prozesses insbesondere seit der Reformation. Die Menschenrechte bilden einen Schwerpunkt der christlichen Ethik. Heute wird mehr denn je von den Religionsgemeinschaften erwartet, dass sie aktiv mithelfen, Grundstrukturen zur Sicherung der Prinzipien der Zivilgesellschaft in den Ländern zu schaffen, in denen die Menschenrechte noch nicht verwirklicht sind. Hier setzen die Kirchen auf die Zusammenarbeit mit anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere dem Islam. Dabei erwarten sie, dass andere Religionen in den Ländern, in denen die Christen in der Minderheit sind, sich ebenso für die freie Religionsausübung der christlichen Kirchen und gegen staatliche Behinderungen einsetzen, im selben Maß, wie sie in den Staaten der Europäischen Union die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Für die Kirchen wird dies auch ein Prüfstein für die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei sein.


Burkhard Guntau, Hannover