Helmut Kuntz

Mitgefühl

Die Kraft für Heilung und inneren Frieden

In dieser MD-Ausgabe liegt der Schwerpunkt auf dem Thema „Glück“. Auf den eröffnenden Artikel mit grundsätzlichen Überlegungen zu „Glück und Glücksversprechen“ folgte ein Beitrag zu der Frage „Was fasziniert an der Esoterik?“. Menschen „erfahren dort emotionale Hochgefühle“ (S. 256) ist ein Teil der Antwort, die diesen Beitrag nahe an das Thema Glück heranrückt. Auch der nun folgende Text des Familien- und Suchttherapeuten Helmut Kuntz passt zum Thema. „Höchste Zeit für Mitgefühl“ lautet das Plädoyer des Autors, der überzeugt ist, dass der westliche Mensch auf die östliche/buddhistische Weisheit des Herzens angewiesen ist, um Glück und inneren Frieden zu finden.

Mitgefühl und liebende Güte sind keine Worte des 21. Jahrhunderts. Im vorherrschenden Welt- und Menschenbild des Westens haben unsere vornehmsten Geistes- und Humanwissenschaften bemerkenswert wenig zu Mitgefühl zu sagen. Im Diskurs über die Wirkfaktoren des medizinischen oder psychotherapeutischen Heilens spielt Mitgefühl bislang keine herausgehobene Rolle. Doch immer mehr Menschen, die in heilenden und helfenden Berufen tätig sind, scheinen intuitiv eine empfindliche Lücke in unseren Vorstellungen von Heilung zu empfinden. So bestätigte mir auf einem Psychotherapiekongress ein angesehener Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der aus Altersgründen seine Praxis aufgibt, dass er sich in der ihm verbleibenden Lebenszeit ausschließlich noch mit der für ihn rätselhaften Frage beschäftigen möchte: „Wie funktioniert eigentlich Heilung?“ Finden wir derzeit neu zu einer altvertrauten Kultur des Heilens, zu einer neu verstandenen „misericordia“? Die Zeit ist reif, und nichts ist so mächtig wie ein Gedanke, eine Idee.

West trifft Ost

Damit sind hier nicht die Aufeinandertreffen von politischen Systemen und Ideologien gemeint, die trotz globaler wirtschaftlicher wie politischer Entwicklungen von mehr Unverständnis als Gemeinsamkeit zeugen. Gemeint sind vielmehr die Begegnungen zwischen Menschen über alle Grenzen sowie Welt- und Menschenbilder hinweg, die versuchen zu verstehen, was den Menschen zum Menschen macht. In der Begegnung der größten Köpfe der westlichen Human- und Geisteswissenschaften mit den anerkanntesten Köpfen der fernöstlichen Weisheitslehren werden im Geiste von Verbundenheit neue Fragen gestellt und Antworten gesucht: Wie durchdringen sich westliche Psychotherapie und westliches Medizinverständnis mit dem buddhistischen oder hinduistischen Bild des Menschen? Wie bestätigt die Quantenphysik oder -mechanik uralte Weisheitslehren? Wie ist alles mit allem verbunden? Und vor allem: Was heilt uns als Menschen, wenn wir kranken an Leib und Seele? Als Menschen müssen wir uns lebenslang beherzt fragen: „Welches ist mein persönlicher Lebensweg, eingeschlossen Zeiten des Glücks wie Zeiten des Leidens?“ Es dient der Freiheit des Geistes aller Menschen, wenn wir uns im Lichte des Mitgefühls einander annähern, um herauszufinden, wie Mitgefühl unsere Welt zum Besseren zu wenden vermag.

Höchste Zeit für Mitgefühl

Es gibt beim Zustand der Welt tausend gute Gründe, sich selbst, den Mitmenschen und der Schöpfung gegenüber in mehr Mitgefühl zu üben. Sollten 999 dieser guten Gründe Sie persönlich nicht berühren, bleibt ein letztes überzeugendes Motiv, diese Tugend zu entwickeln: Ein höheres Maß an Mitgefühl bringt ein höheres Maß an Glück in Ihr Leben. Ein höheres Maß an Glück in Ihrem Leben steigert das Glück der Welt, also das „Bruttosozialglück“, die einzige sozial verträgliche Währung für uns Menschen. Zwar ist Glück in der Eventgesellschaft ein abgenutztes Wort. Doch jeder Mensch hat gemäß seinem Vertrag mit dem Leben ein Geburtsrecht auf Glück im Sinne von Lebensteilhabe und innerem Frieden. Der innere Friede ist vielen Menschen jedoch längst abgekauft worden. Wir kennen eher bohrende Selbstzweifel bis hin zu Selbsthass. Selbstliebe, Selbstakzeptanz, das Anerkennen des „edlen inneren Kerns“ in uns ist für viele Menschen unserer Kultur eine ungeheure Herausforderung. Viele Menschen leiden darunter, dass sie sich selbst nicht leiden mögen. Ohne ihn zu idealisieren – aber dem an Mitgefühl reichen, östlich geprägten Menschen sind derartige Zweifel am eigenen menschlichen Wert fremd. Er kennt nicht einmal ein Wort dafür.

Bevor wir den Blick des mitfühlenden Geistes auf die Mitgeschöpflichkeit richten, plädiere ich aus guten Gründen erst einmal dafür, uns selbst ausreichend Mitgefühl entgegenzubringen. Für unsere westliche Lebensrealität, die so unendlich vielen Frauen, Männern und Kindern unendliche Zweifel an sich selbst und ihrem eigenen Wert als Menschen einimpft, braucht es die ermutigende Hervorhebung, uns selbst zu lieben und uns in barmherzigem Mitgefühl für die eigene Person zu üben. Nur wenn wir uns selbst annehmen können, vermögen wir auch anderen wahrhaftes Mitgefühl zuströmen zu lassen. Das entspricht im Übrigen dem urchristlichen Gebot „Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“, das so schwierig einzulösen ist. Vielfach gelebte Realität ist stattdessen, den Nächsten abzulehnen oder zu hassen wie sich selbst, als Flüchtling, als nicht recht Gläubigen, als anders Denkenden, als Farbigen, als Homosexuellen.

Herzensqualität oder Geisteszustand

Mitgefühl lässt sich nicht als Kategorie verstehen. Es ist dem Verstand kaum greifbar, wohl aber dem Herzen fühlbar. Es ist ein umfassendes Empfinden, welches Ihr Herz, Ihren Geist, Ihr Fühlen und Denken in einen weiten Raum hinein öffnet. Mitgefühl bringt das Wertvollste im Menschen hervor, das er in sich trägt: die Liebe. Für mich ist Mitgefühl daher eine ausgeprägte Herzensqualität, die ihrem Wesen und Geist gemäß eine innere feinsinnige und liebende Haltung sich selbst, den Mitmenschen, dem Leben und der Schöpfung gegenüber zum Ausdruck bringt. Weitere treue Begleiter von Mitgefühl sind liebende Güte, Toleranz und Achtsamkeit. Mitgefühl bringt Glück, Farbe und Poesie ins Leben und beschert uns Wohlbefinden. Gelebtes Mitgefühl zieht Ruhe, Gleichmut und Gelassenheit im Leben nach sich, weil es aus sich heraus das Vertrauen darein erwachsen lässt, dass sich alle Dinge letztlich gut fügen werden. Insofern verschafft es Ihnen auch inneren Frieden. Innerer Friede beherbergt die Chance auf äußeren Frieden. Nicht zuletzt reinigt uns Mitgefühl von abträglichen Gefühlen und mindert unsere Ängste, einschließlich der existenziellen Furcht vor dem Tod.

Sich üben in Mitgefühl

„Mitgefühl, das habe ich doch sowieso. Wieso sollte ich mich darin üben?“ Diese häufig geäußerte Reaktion auf die Ermunterung, sich in Mitgefühl zu üben, enthält nur eine halbe Wahrheit und zieht leicht inneren Stillstand nach sich. Denn obwohl alle Menschen Mitgefühl als Anlage mit auf die Welt bringen, entwickelt es sich nicht von alleine. Um die Anlage auszubilden, müssen wir uns in der Tat in Gedanken, Worten und Handlungen in Mitgefühl üben. Üben wir uns in Mitgefühl, bringen wir uns ganz zur Welt. Dann ist das unfassbar Wunderbare am Mitgefühl auch, dass es die schönsten Veränderungen in unser Leben bringt, ohne dass wir uns dafür angestrengt mühen müssten. Haben wir ihm nämlich erst einmal einen Raum in unserem Geiste eingeräumt und ihm gestattet, zu einer selbstverständlichen inneren Haltung in unserem Leben zu werden, vollzieht sich alles Weitere wie von selbst. Das Gefühl von zunehmender Vertrautheit mit der Herzensqualität Mitgefühl sowie die Mühelosigkeit, sie aufrechtzuerhalten, sind nämlich auch der Tatsache zu verdanken, dass wir uns als fühlende menschliche Wesen durch Mitgefühl stetig verändern. Körper wie Geist wandeln sich um.

Wir organisieren uns ganz nebenbei sogar auf der neurobiologischen Ebene um, weil sich unser Gehirn durch die Kraft des Mitgefühls in seiner feinen Architektur verändert. Nachdem erste Untersuchungen von Mönchen im Labor dies nachgewiesen haben, erlebt die wissenschaftliche Erforschung von Mitgefühl einen regelrechten Boom. Durch Mitgefühl wandeln und transformieren wir uns, werden zu besseren, sanftmütigeren Menschen. Seien Sie nicht verwundert, wenn Sie eines schönen Tages als ein Ergebnis Ihrer Vertrautheit mit Mitgefühl die lebendige Essenz des Satzes in sich verspüren: „Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“ Sie werden mit Mitgefühl fröhlicher durchs Leben gehen. Gleichzeitig werden Sie erheblich ernster. Ein Widerspruch ist das nicht, meint doch „ernster“ nicht, dass Ihnen Ihr Lachen vergehen würde. „Ernster“ meint, dass Sie keine Selbsterkenntnis mehr scheuen und sich jedem Problem in Ihrem Leben vorbehaltlos stellen werden, um es im Geiste des Mitgefühls zu betrachten. Mitgefühl hat derart viele Vorteile im Leben, dass wir uns bloß verwundert die Augen reiben können, wie wenig es als „großes Mitgefühl“ in der Realität gelebt wird.

Mitgefühl bringt sogar eine besondere Farbe und ein Aroma in unser Leben. Die Farbe von Mitgefühl ist hell, licht, strahlend, rubinrot oder auch golden. Sein Geschmack ist pure liebende Güte. Das ist eine mächtige verändernde Kraft. Mitgefühl heißt deshalb zwar, alles zu verstehen, aber nicht für alles Verständnis zu haben und es widerspruchslos hinzunehmen. Mitfühlende Geister beziehen Position und mischen sich ein. Da Mitgefühl dabei friedfertig, lebensbejahend und lebensbewahrend über alle Grenzen geht, ist es politisch vielleicht sogar die letzte (r)evolutionäre und demokratische Kraft, welche unser Überleben als menschliche Spezies zu sichern vermag.

Mitgefühl macht uns vollends zu dem, was wir sind: zu Menschen. Und zwar zu Menschen, die eins sind mit sich und dem Universum und sich folglich seinem Puls und dem Rhythmus des Lebens anzuvertrauen in der Lage sind. Wir begeben uns auf einen goldenen, diamantenen oder urchristlichen Weg zu uns selbst. Nicht zu unserem Ego, da Mitgefühl uns herausführt aus der Blase der Ichbezogenheit in die Verbundenheit, sondern zu unserem gegenwärtigen Sein. Jede um ein Da-Sein im Geiste des Mitgefühls bemühte Lebensführung ist von der Logik des vitalen Lebensvollzugs her untrennbar verbunden mit der Frage nach dem Sinn des Lebens: Weshalb und zu welchem Zweck sind wir auf dieser Welt? Und was erwartet uns danach? Erwartet uns überhaupt etwas nach dem Leben im Hier und Jetzt, oder ist das bloße Erlösungssehnsucht?

Herzensöffnung

Ein wissenschaftlich befremdlich klingendes Wort: Herzensöffnung. Und doch wissen und spüren nicht bloß meine Klienten und Patientinnen genau, wie es sich anfühlt, wenn sie davon reden: „Es ist mir so eng ums Herz“, „Ich spüre mein Herz gar nicht mehr“, „Ich wünschte, ich würde mein Herz mehr spüren“ oder „Mein Herz kann sich endlich ausruhen und heil werden“. Wir sind uns einig, dass wir hier vom metaphorischen Herzen reden. Aber sowohl das metaphorische als auch unser schlagendes Herz können sprechen und können brechen. Unser Herz zu spüren, ist keine willentliche Entscheidung unseres Bewusstseins. Wir können nicht einfach einen inneren Schalter umlegen und unser Herz spüren. Das Herz sprechen zu lassen, seiner Stimme zu lauschen, ist an den Geist des Mitgefühls gebunden, an entwickelte feinfühlige und achtsame Innerlichkeit.

Wir können die Öffnung des Herzens aber tatkräftig unterstützen, indem wir absichtsvoll den Kontakt zum fühlenden Herzen herzustellen suchen. Wir üben uns in Mitgefühl und liebender Güte. Üben auch Sie sich in Mitgefühl – und diesem Zweck dienen alle aus der Arbeit mit Tausenden Menschen erwachsenen Übungen in „Zeit für Mitgefühl“1 –, unterschätzen Sie nicht Ihre inneren Boykotteure. Aufgescheucht werden deren innere Stimmen Ihnen einzuflüstern versuchen: „Das wirkt doch nicht. Das brauchst du doch nicht“, um Sie an Ihre altvertrauten Lebensmuster zu binden. Und so höre ich immer wieder: „Jetzt habe ich schon so viel gemacht, Therapie, meditiert, sogar Retreats, und bin noch keinen Schritt weiter. Ich sitze immer noch hier zu Hause und habe noch nicht gelernt, mir selbst zu vergeben.“ Wer das kleine Einmaleins der Achtsamkeit und des Mitgefühls gering schätzt und überspringt, wird an die hoch hängenden Trauben nicht heranreichen. Fangen wir mit den grundlegenden Übungen in Mitgefühl an, schreiten wir jedoch mit jedem Schritt voran und dürfen über die erfreulichsten Veränderungen in unserem Leben staunen. Staunen und Verwundern stehen am Beginn jeglichen spirituellen Erlebens. „Spiritualität“ ist nicht gleich „Esoterik“, sondern ein Erbe des kollektiven Unbewussten. Mitgefühl nährt unser Leben, öffnet uns das Herz. Weshalb es schon im Märchen vom „Froschkönig“ bzw. vom „Eisernen Heinrich“ heißt: „Es ist ein Band von meinem Herzen, das zerspringt …“

Mitgefühl als heilende Kraft

Der Wunsch, die Sehnsucht eines jeden Menschen, der einen Arzt, einen Therapeuten, eine Heilerin oder einen Seelsorger aufsucht, ist es, in dem, was er vorträgt, was er verschweigt, was sein Körper und seine Seele signalisieren, zutiefst verstanden zu werden. Seine größte Angst ist die Angst vor nicht enden wollendem Leid und Schmerz sowie die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit. Der Geist des Mitgefühls vermag enorme heilende Kräfte freizusetzen. Mitgefühl wirkt als „Spiritual Care“ im wahrsten Sinne des Wortes. Die Macht von mitfühlender Liebe als heilende Kraft reicht freilich längst nicht immer aus, um lebensbedrohliche Krankheiten zu kurieren. Gelingt es Patienten sowie Ärzten, Therapeuten oder Heilerinnen jedoch, den Geist des Mitgefühls aufrechtzuerhalten, gehen sie weniger in die Angst, bleiben verstärkt im Vertrauen und integrieren Leid anders in ihr Leben als ohne den Geist des Mitgefühls. Wir wissen noch längst nicht, wie Mitgefühl wirkt, wir wissen bloß zweifelsfrei, dass es wirkt. Bisweilen werden wir als Patient sogar in einem Lebensanliegen gesehen, verstanden und geheilt, ohne dass wir uns in der Begegnung mit einem verstehenden Gegenüber überhaupt als zu heilende Person gefühlt haben.

Kaum jemand hat das so bewegend beschrieben wie Paul Ekman, der wohl bekannteste Emotionsforscher unserer Zeit. Er gehört zu den westlichen Wissenschaftlern, die sich in einem regelmäßigen Turnus mit dem Dalai Lama zu den Mind-and-Life-Konferenzen treffen, um sich über alle Grenzen, Ideologien und Denkschulen hinweg über wissenschaftliche Fragen auszutauschen. Während der Konferenz, in der Mitgefühl und liebende Güte im Zentrum des Erkenntnisinteresses standen, machten die Wissenschaftler in der direkten Begegnung mit dem Dalai Lama und dem buddhistischen Welt- und Menschenbild Erfahrungen, mit denen sie in keiner Weise gerechnet hatten. Sie erfuhren leibhaftig, welche wundersam heilsamen Kräfte Mitgefühl und liebender Güte innewohnen und wie sie nebenbei ihre Kräfte zu entfalten vermögen, ausschließlich durch die Präsenz von Menschen, deren Hauptmerkmal Mitgefühl ist. Aus ähnlichen Gründen pilgern Gläubige zu den „Wunderstätten“, an denen außergewöhnliche Menschen in der Tradition der christlichen Mystik ihr Leben in den Dienst an Gott gestellt haben oder ihm heute noch dienen.

Paul Ekman wurde aus heiterem Himmel von der liebenden, mitfühlenden Güte seines Gastgebers bis ins Mark erschüttert. Sie hat sein komplettes Leben verändert. Mit gutem Grund hat Ekman sein gesamtes Leben der Erforschung der menschlichen Emotionen gewidmet. Seine eigenen Hauptemotionen, welche ihm bis zur Begegnung mit dem Dalai Lama sein Leben erschwerten, waren sein Ärger und sein Zorn. Psychologisch erklären konnte er sich die Quelle seines immerwährenden Ärgers, den er als wahrhaftige Lebensbürde empfand, durchaus. Aber alle langjährigen Versuche, sich durch Psychoanalyse und Psychotherapie seines Leidens zu entledigen, scheiterten. Ekman ging unbarmherzig und rigide mit sich um – bis die unmittelbare Erfahrung direkten Mitgefühls und liebender Güte in den Begegnungen mit „Seiner Heiligkeit“ ihn bis in seine Grundfesten erschütterte. Er fühlte sich völlig ergriffen, und all der lebenslange Ärger verschwand zu seiner größten Verwunderung und Freude aus seinem Leben. Die alte ärgerliche Lieblosigkeit war einfach wie ausgelöscht. Paul Ekman hat sich in die heilsame Kraft von Mitgefühl ergeben. Als Mensch wie als Wissenschaftler hat er seine eigene Veränderung unmittelbar erfahren, er kann sie bezeugen, seine Umwelt kann sie bezeugen. Sein Problem ist: Er kann sie wissenschaftlich nicht erklären: „Als Wissenschaftler kann ich nicht ignorieren, was ich erlebt habe … Ich glaube, die Veränderung, die in mir stattfand, begann mit dieser körperlichen Empfindung, was immer das war. Ich glaube, dass das, was ich erlebte, ‚Güte‘ war – ein nichtwissenschaftlicher Begriff. Auch die anderen acht Personen, die ich befragte, sagten alle, sie hätten Güte gespürt. Sie fühlten, wie sie ausstrahlte, und empfanden dieselbe Art von Wärme wie ich. Ich habe keine Ahnung, was es ist und wie es geschah, aber es existiert nicht nur in meiner Fantasie. Auch wenn wir nicht über Methoden verfügen, um das Phänomen zu erklären, so heißt das nicht, dass es nicht existiert.“2

Paul Ekman beschreibt mit andächtigem Erstaunen seine innere Verwandlung, seine Heilung. Erstaunen ist die Pforte zur Spiritualität, welche die Welt in einem anderen Geist erkundet. Ekman erforscht weiterhin die Emotionen, allerdings in einem anderen Geist. Er erforscht heute die Rätsel von Mitgefühl, liebender Güte und kontemplativer Praxis. Dabei ist er nicht der Einzige. Das unmittelbare Erleben von Heilungsprozessen wie kontemplativen Praktiken hat die Forschungspraxis zahlreicher Wissenschaftler und Forscherinnen neu ausgerichtet. In Deutschland hat u. a. Tania Singer vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig ihr Erkenntnisinteresse der Erforschung von Mitgefühl gewidmet. In den USA sind aus der wachsenden wissenschaftlichen Community mit Forschungsschwerpunkt Mitgefühl neben Paul Ekman vor allem Richard Davidson, Rick Hanson und Kristin Neff zu nennen.3

Erforschung von Mitgefühl

Die Wissenschaftlerinnen und Forscher, die ihr Lebenswerk der wissenschaftlichen Erforschung des Mitgefühls widmen, stehen vor einem scheinbar unlösbaren Rätsel. Mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften können sie zwar sehen, welche Regionen des menschlichen Gehirns bei Mitgefühl und liebender Güte aktiv sind. Aber niemand hat bislang eine schlüssige wissenschaftliche Erklärung dafür, wie Mitgefühl und liebende Güte als Herzensqualität oder Geisteszustand im Menschen entstehen. Alle bisherigen Bemühungen und Forschungsdesigns kreisen darum, die Entstehung des Mitgefühls aus den neurobiologischen Vorgängen im menschlichen Gehirn abzuleiten. Bisweilen wirkt es, als würden die angewandte Neurowissenschaft, Psychologie und gelebtes Mitgefühl relativ unverbunden nebeneinanderstehen, müssten aber unter allen Umständen neurobiologisch kompatibel in Einklang gebracht werden.

Gleichwohl ist längst nicht klar, wie und ob überhaupt Mitgefühl mit der ausschließlichen Aktivität unseres Gehirns erklärbar ist, sind wir als Menschen doch bedeutend mehr als unser Gehirn. Es findet sich wenig Freiheit im wissenschaftlichen Diskurs, sich Mitgefühl jenseits der Neurowissenschaften vorzustellen, wiewohl die meisten Forscherinnen und Forscher einmütig die Ebene wechseln, sobald sie von der Öffnung des Herzens sprechen, ohne die Mitgefühl nicht zu entstehen vermag. Die für den Verstand nicht schließbare Kluft zwischen Rationalität, Spiritualität und Transzendenz überbrücken diejenigen Menschen, welche jenseits beweisbarer Logik der Weisheit des Herzens folgen und die universellen Prinzipien überlieferter Weisheitslehren ergründen. Das gemeinsame Positive ist: Trotz der Verschiedenheit von nebeneinander bestehenden Welt- und Menschenbildern und trotz des Spannungsverhältnisses zwischen wissenschaftlicher Logik und Rationalität sowie Spiritualität und der Weisheit des Herzens wächst eine neue Kultur suchender Verbundenheit heran, welche die Polarität und Dualität im Denken der Menschen auf das gemeinsame Ziel von Mitgefühl hin ausrichtet.

In helfenden und heilenden Berufen

Alle charismatischen Ärzte und Heilerinnen in der uralten Tradition des Heilens hatten ein völlig anderes Bild von Gesundung als unsere westliche Schulmedizin. Alle waren sie dem Gedanken verbunden, den kranken Menschen auch spirituell zu heilen, ihm zu einem höheren Bewusstseinszustand zu verhelfen und seine Krankheit dadurch zu transzendieren. Heilung in diesem Sinne war immer ein zutiefst ideelles, spirituelles Geschehen, eingebunden in den Geist von Mitgefühl und Barmherzigkeit. Ärztinnen, Therapeuten, Heilerinnen, die ihre Heilkunde im Sinne mitfühlender Barmherzigkeit und Verbundenheit verrichten, sind Menschen, die sich dienend verbinden und darüber die wesentlichen heilsamen Wirkungen in der Tätigkeit des Heilens erwirken. Sie verbinden sich mit sich selbst, mit ihren Fähigkeiten und Gaben, mit ihrem eigenen geöffneten Herzen sowie mit ihrem Glauben und einer Kraft außerhalb ihrer selbst, was erneut eine völlig unwissenschaftliche Größe ist. Die Erfahrung elementarer Verbundenheit bewahrt Menschen in heilenden Berufen einerseits vor Leistungsdruck und magischen Größenfantasien oder auch vor dem falschen medizinischen Ego des Halbgottes in Weiß und andererseits – und noch wichtiger – vor Entmutigung und Resignation angesichts von Leid, Tod und irdischer Vergänglichkeit.

Neben äußeren Gegebenheiten wie zunehmendem Druck am Arbeitsplatz sowie der unheilvollen Verwechselung von Mitleid und Mitgefühl sind vorwiegend die unablässigen Erfahrungen von Schmerz, Leid und Tod die größten Risikofaktoren für Menschen in heilenden und helfenden Berufen für die Ausbildung weit verbreiteter Burnout-Symptome. Heilen wohnt ein Risiko inne: Das Risiko, selbst zum Patienten zu werden, sofern wir aus dem Geist von Mitgefühl und liebender Güte herausfallen und im Burn-out eine Narkotisierung aller positiven Gefühle erleiden.

Die Krebsspezialistin Rachel Naomi Remen, die sich aus Verbundenheit mit ihren Patienten von einer zu professioneller Distanz ausgebildeten Fachärztin zu einer Heilerin des Herzens wandelte, beschreibt die Schattenseiten der Berufung zum Heilen. Die von zahlreichen Hilfesuchenden in der Gesundheitsversorgung beklagte Gleichgültigkeit lässt sie mit Kollegen und Kolleginnen mitfühlen. Sie erlebt die Betäubung und Erstarrung vieler Ärzte und Therapeutinnen als eine Überdosis Anteilnahme. Sie verweist auf die Illusion, wir könnten täglich hautnah mit Leiden, Schmerz, Krankheit, Verlust oder Krisen zu tun haben, ohne davon berührt zu werden. Sich dagegen abzuschotten, hilft nicht, denn dann müssten wir unser Herz verschließen. Das wiederum hätte schnell katastrophale Selbstabwertung zur Folge, wenn Ärzte oder Therapeutinnen beginnen, an sich selbst zu zweifeln, sie sorgten sich nicht mehr um ihre Patienten und Patientinnen, es könnten vor ihren Augen die schlimmsten Dinge passieren und sie fühlten nichts mehr. Fakt ist aber: „Nur Menschen, die zur Sorge fähig sind, können diesen Betäubungszustand erreichen. Wir brennen nicht deshalb aus, weil wir uns um nichts mehr sorgen, sondern weil wir nicht trauern. Wir brennen aus, weil wir so randvoll mit Verlusterfahrungen und Enttäuschungen sind, dass für die Sorge um andere kein Platz mehr bleibt.“4 Remen verweist daher auf die präventive Notwendigkeit, Menschen in heilenden und helfenden Berufen so auszubilden, dass sie ihre Arbeit dauerhaft weit geöffneten Herzens ausführen können. Nicht bloß angesichts struktureller wie systemischer Gegebenheiten in der Arbeitswelt ist das eine ungeheure Herausforderung für „Spiritual Care“, sei es im klinischen Bereich, in privaten Praxen oder in der sozialen Arbeit.


Helmut Kuntz


Anmerkungen

  1. Vgl. Helmut Kuntz, Zeit für Mitgefühl. Die wichtigste Übung im Leben, Bielefeld 2012.

  2. Dalai Lama/Paul Ekman, Gefühl und Mitgefühl. Emotionale Achtsamkeit und der Weg zum seelischen Gleichgewicht, Heidelberg 2009.

  3. Vgl. Rick Hanson, Das Gehirn eines Buddha. Die angewandte Neurowissenschaft von Glück, Liebe und Weisheit, Freiburg i. Br. 2010; Kristin Neff, Selbstmitgefühl. Wie wir uns selbst mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden, München 2012.

  4. Rachel Naomi Remen, Dem Leben trauen. Geschichten, die gut tun, München 2001.