Schamanismus

Michael Harner, Erfinder des „Core Shamanism“, verstorben

Am 3. Februar 2018 verstarb in Kalifornien der Gründer der „Foundation for Shamanic Studies“ (FSS) Michael J. Harner (geb. 1929).

Harner studierte Ethnologie (engl. anthropology) in Berkeley und lehrte von 1965 bis 1987 als Professor an mehreren amerikanischen Universitäten.

Schon während der Feldforschungsreisen für seine Doktorarbeit und im Auftrag des American Museum of Natural History kam er zwischen 1957 und 1961 mit Schamanismus in Berührung und machte 1961 bei den Conibo in Peru unter Verwendung der halluzinogenen Droge Ayahuasca erstmals schamanische Erfahrungen, die sein Leben veränderten. Fortan verfolgte er parallel eine akademische und eine praktisch-schamanische Laufbahn, wobei letztere zunehmend die Oberhand gewann.

Harners Hauptwerk „The Way of the Shaman“ (1980, dt. Der Weg des Schamanen, 1981) wurde ähnlich einflussreich wie Mircea Eliades „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ (frz. 1951, dt. 1975), von dem es stark beeinflusst ist. Während Eliade im Schamanismus die Urform aller Religion erblickte, schritt Harner zur Praxis und beanspruchte, aufgrund seiner Forschungen an schamanischen Phänomenen verschiedener Kulturen eine Quintessenz des Schamanismus schlechthin, die (fast) universal verbreitet war und sich von jeweiligen lokalen Besonderheiten trennen und in Reinform extrahieren ließ. So rekonstruierte (Kritiker sagen: erfand oder projizierte) er den sogenannten core shamanism (Kernschamanismus). Damit traf er einen Nerv der vom entstehenden New Age geprägten Epoche. Etwa zur gleichen Zeit wie der amerikanische Dichter Carlos Castaneda, der seine schamanistischen Kenntnisse angeblich bei einem mexikanischen Weisen gelernt hatte, begann Harner ab den frühen 1970er Jahren auf Bitten seiner Studenten, schamanistische Techniken zur Bewusstseinsveränderung, also die Erlangung eines sogenannten „Shamanic State of Consciousness“ zu lehren. 1972 veröffentlichte er das auf seiner Doktorarbeit beruhende, aber schon zwischen Populärwissenschaft und Esoterik angesiedelte Buch „The Jivaro. People of the Sacred Waterfalls“. Inzwischen war er durch seine transkulturellen Forschungen zu dem Schluss gekommen, dass Trommeln und Drogen zwei gleichwertige Türen zur schamanischen Anderswelt waren, wobei Trommeltechniken weiter verbreitet seien und fortan für ihn ins Zentrum rückten. Der Drogenverzicht erleichterte sicher die spätere internationale Ausbreitung seines Ansatzes.

1979 gründete er in Connecticut die bis heute bestehende Foundation (anfangs: Center) for Shamanic Studies (FSS), um sich mehr der Lehre des praktischen Schamanismus widmen zu können (seit 1994 in Mill Valley, Kalifornien). Spätestens seit der Gründung dieser Einrichtung wurde Harner von den meisten Fachkollegen als akademischer Ethnologe kaum noch ernst genommen, was ihn allerdings wenig bekümmerte. Seine angebliche „Rekonstruktion“ eines Kernschamanismus gilt unter Fachkollegen eher als westliche Projektion und Ausfluss exotistischer Sehnsüchte. Durch die Reduktion auf Bewusstseinszustände, welche den Schamanismus als Technik propagierte, sei eine lebendige Tradition ihres eigentlichen religiös-spirituellen Wesens entkleidet worden. So kritisierte sein Schüler Jonathan Horwitz, ebenfalls Ethnologe, Harners Konzentration auf das kognitive Bewusstsein und rückte 1986 bei der Gründung seiner eigenen Schule, des „Scandinavian Center for Shamanic Studies“ in Kopenhagen, die spirituelle, animistische Dimension in den Vordergrund. Aber insgesamt blieb Harner in den Jahrzehnten seines Wirkens und trotz eines rigoros standardisierten Lehrprogramms, dem auch die von ihm ausgebildeten Lehrer verpflichtet waren, erstaunlich frei von persönlichen Auseinandersetzungen und Richtungskonflikten.

Obwohl „Der Weg des Schamanen“ bis heute ein Verkaufsschlager ist, wirkte Harner in den Jahrzehnten nach dem Erscheinen des Buches weniger durch Publizistik – sein nächstes Buch erschien erst 2013 –, sondern vielmehr als Ausbilder in den international angebotenen Seminaren der FSS. Hier lernten jährlich Tausende die Techniken des Core Shamanism. Manche wurden ihrerseits Dozenten an der FSS, andere praktizierten privat weiter oder etablierten sich als unabhängige Schamanen bzw. als „schamanisch Praktizierende“. 1987 eröffnete unter Leitung des Ehepaars Paul und Roswitha Uccusic eine europäische Dependance in Wartberg nahe Linz (Foundation for Shamanic Studies Europe).

Heute hat die FSS in Europa sogar mehr Dozenten als in Amerika. Selbst in der Sowjetunion kam es in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium zum Einsatz schamanischer Trommeltechniken bei der Behandlung von Alkoholismus und anderen Süchten. Für Harner waren all diese Aktivitäten ein „Zurückholen“ der zentralen religiösen Urtechnik und ihrer Heilungskraft in die westliche Kultur, die diese vergessen habe.

Neben dem modernen Europa und Amerika versuchte Harner auch, die bedrohte schamanische Praxis indigener Völker vor dem Aussterben zu retten. Zu diesem Zweck wurden Hilfsprogramme aufgelegt, in deren Rahmen die FSS kanadische Eskimos, skandinavische Samen (Lappen), zentralasiatische Tuva, diverse US-amerikanische Indianervölker und sibirische Burjaten, Tungusen und andere im Schamanismus unterrichtete (Urgent Indigenous Assistance Programm, UIA). Damit sollte diesen Völkern ein Zugang zur Geisterwelt (wieder)eröffnet und die Bewahrung oder Neuerweckung ihrer indigenen Kulturen ermöglicht werden. Außerdem vergab man Stipendien an einzelne traditionelle Schamanen in prekären Umständen, um ihnen die Weitergabe ihres Wissens zu ermöglichen (Living Treasures of Shamanism Program).

Neben alldem versuchte Harner nicht ganz erfolglos, durch die Ausbildung von Ärzten und Psychotherapeuten schamanische Heilungstechniken im westlichen Medizinbetrieb zu etablieren.

Aus Sicht der ethnologischen Fachwissenschaft war weniger der Kernschamanismus als vielmehr die Ablehnung Harners universal. Anders als Eliade wird Harner nach seinem Tod wohl eher keine ernsthafte akademische Nachwirkung erfahren. Dafür dürfte er aber in seiner praktischen Bedeutung als Motor für die Entstehung einer weltweiten, in allen westlichen Kulturen verbreiteten neoschamanistischen Bewegung unübertroffen sein. Kocku von Stuckrad sieht in Harner sogar einen der bedeutendsten spirituellen Unternehmer (spiritual entrepreneurs) des vergangenen Jahrhunderts überhaupt.

Das geordnete Fortwirken von Harners Impulsen auch nach seinem Tod – nach seiner transition, wie seine Schüler sagen – dürfte auch dadurch erleichtert werden, dass er schon vor einigen Jahren die Leitung der FSS weitergegeben hatte.


Kai Funkschmidt