„Meine keine Familie“. Ein Film über die Kommune Friedrichshof und Otto Mühl

(Letzter Bericht: 5/2004, 192f) Der Dokumentarfilm des Regisseurs Paul-Julien Robert (Österreich 2012, 93 Minuten) ist seit Ende Oktober 2013 in deutschen Kinos zu sehen.

Sie war ein Glücksfall für den Regisseur. Und ein Unglück für Paul-Julien Robert: die Kommune „Friedrichshof“ im Burgenland, die der Wiener Aktionskünstler Otto Mühl ab 1972 aufbaute und bis 1990 diktatorisch regierte. Ein Glücksfall, weil die Gruppe ihre Aktivitäten im Alltag über Jahre hinweg kontinuierlich mit der Kamera dokumentierte und dem Regisseur daher viele Stunden Originalmaterial zur Verfügung standen. Ein Unglück, weil Robert, Jahrgang 1979, bis zum zwölften Lebensjahr in der Kommune aufwuchs und wie alle dort lebenden Kinder den extremen Erziehungsmethoden Mühls und seiner Anhänger schutzlos ausgesetzt war.

Die Ideologie der Kommune, die sich auch „Aktionsanalytische Organisation“ (AAO) nannte, verbot Zweierbeziehungen, vergemeinschaftete alles Eigentum, standardisierte das Aussehen (Glatze für alle), anonymisierte in einem strikten System freier Sexualität die Väter und trennte die Kinder von den Müttern, um den „destruktiven Einfluss der Kleinfamilie“ zu unterbinden. Zeitweise lebten bis zu 500 Menschen in der Kommune und in Dependancen im Ausland.

Schon 2009 hatte Juliane Großheims Dokumentarfilm „Die Kinder vom Friedrichshof“ Einblicke in die Folgen von Mühls Erziehungsmethoden zur Schaffung des neuen Menschen gegeben. In „Meine keine Familie“ wird nun konsequent aus der Betroffenenperspektive auf die Ereignisse geblickt, ohne dass dabei ein Film der Gattung „Aussteigerliteratur“ mit der ihr eigenen Problematik geworden wäre. Der Regisseur präsentiert vielmehr eine sehr persönliche Reise in die eigene Vergangenheit, klar in der Sache, sanft im Ton. Gearbeitet wird mit drei Hauptperspektiven: Ausschnitte aus dem Archivmaterial der 1970er und 1980er Jahre, Gespräche mit seiner Mutter und Gespräche mit Freunden, die mit ihm im Friedrichshof aufwuchsen. Leitmotiv ist die Frage, was in einer Mutter vorging, die die bürgerliche Welt ablehnte und wie die anderen Frauen der Kommune für diesen neuen Lebensentwurf ihr Kind auf dem Altar eines alternativen Lebensprogramms darbrachte. Davon ausgehend fragt der Film, was dies für die Kinder bedeutete, die ohne familiäre Bindungen aufwuchsen. Eine Antwort gibt eine der Anfangssequenzen. Regisseur und biologische Großfamilie versammeln sich vor einem schönen Schweizer Landhaus. Da sitzt dann eine vielköpfige Mehrgenerationengruppe vor der Kamera und wartet auf den Selbstauslöser. Die Stimmung ist gelöst, das Bild fröhlich ... bis zum ruhigen Kommentar aus dem Off: „Das wäre meine Familie gewesen.“

Stattdessen kann Robert uns nur eine Mutter und drei „Väter“ vorstellen, wobei er als Kind zu keinem der drei eine Beziehung aufbauen durfte. Der leibliche Vater war unbekannt, der juristische hatte sich 1985 im Friedrichshof erstochen, niemand spielte eine Vaterrolle. Die Mutter lebte ab 1983 im Züricher Zweig der AAO, weil auf Anordnung Mühls Schweizer und Deutsche zum Arbeiten heimgeschickt wurden – die Kommune war in Geldnöten.

Der Erzählduktus ist langsam, die Atmosphäre eher suchend und melancholisch als anklagend. In den Mutter-Sohn-Gesprächen wirkt die Anwesenheit der Kamera stellenweise sehr intim, ohne aber voyeuristisch zu werden. Die leisen Töne des Autors, das Schweigen beider Seiten bezeugen Respekt. Doch Robert entwickelt sich im Laufe des Films zunehmend kritisch. Bekennt er zu Beginn bei einem Ortstermin noch, dass der Friedrichshof für ihn auch Erinnerung an Heimat und Geborgenheit auslöse, so entsteht mehr und mehr der Eindruck, dass er sich nach diesen Gefühlszuständen mehr sehnen als sie empfinden kann. Denn schrittweise offenbaren sich über das Archivmaterial die Abgründe der Kommune und ihres Herrschers.

Wir sehen die tägliche „Persönlichkeitsbeurteilung“ und die „Selbstdarstellungen“, auch „Aktionsanalysen“ genannt. Dabei handelte es sich um Ausdruckstänze, die alle Bewohner auf Befehl Mühls im Plenum solo vorzuführen hatten, um von ihm bewertet zu werden. Langsam zeigt sich, dass diese in Wirklichkeit oft qualvolle Selbstdemütigungen waren. Geradezu sadistisch wirkt eine schwer erträgliche Szene, in der (sich) ein Teenager bei der Selbstdarstellung versagt. Minutenlang wird der immer heftiger weinende Junge daraufhin vor dem gesamten Plenum gedemütigt und erniedrigt. Als Mühl endlich von ihm ablässt, läuft der Junge hinaus – mitten durch die Zuschauermenge. Niemand beachtet ihn, niemand tröstet, niemand protestiert. So wurden die Mitläufer des österreichischen Malers zu Mittätern.

Unrechtseinsicht und Schuldbekenntnis bestehen bis heute kaum. Die Mutter ist vor allem ohne Worte und mit sich selbst beschäftigt, der leibliche Vater – bei Auflösung der Kommune 1990 waren Vaterschaftstests durchgeführt worden – lebt heute mit Ehefrau und Sohn in Portugal. Er erklärt lapidar: „Ich werde mir von niemandem Schuldgefühle einreden lassen.“

Sehr behutsam geht der Film das Thema des sexuellen Missbrauchs an. In der AAO war es üblich, dass Kinder mit Erreichen der Pubertät „in die Sexualität eingeführt“ wurden. Faktisch hieß das für die Mädchen ab ca. 13 Jahren Sex mit Otto Mühl (Jg. 1925). Für diese und andere Verbrechen wurde Mühl 1991 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Seine Hauptfrau, für die Jungen zuständig, kam mit unter einem Jahr davon. Dem Regisseur, der das Glück hatte, bei Auflösung der Kommune noch vor der Pubertät gestanden zu haben, gelingt es meisterhaft, diesen Aspekt so zu behandeln, dass die Würde der damaligen Kinder gewahrt bleibt. Sie kommen nicht eindimensional als „Missbrauchsopfer“ zu Wort, sondern als heute erwachsene, selbstständige Persönlichkeiten mit eigenen Kindern, die mit ihrer schwierigen Vergangenheit reflektiert umgehen. Wie belastend sich dies alles auswirkte, wird nicht verschwiegen, aber es gibt keine filmische Wiederholung der damaligen „Selbstdarstellung“.

Deutlich zeigt der Film: Der Umgang mit Kindern in weltanschaulichen Gruppen ist zentrales und unverhandelbares Kriterium zu ihrer Beurteilung. Wo Kindererziehung zum Menschenexperiment im Dienste der neuen Gesellschaft mutiert, ist keine Toleranz möglich. Der Friedrichshof erfuhr im Laufe seiner 20 Jahre starke finanzielle Förderung aus öffentlichen Töpfen, er hatte tausende Besucher, darunter führende Persönlichkeiten aus Staat und Gesellschaft Österreichs, mit denen Mühl gut vernetzt war. Offenbar bemerkte niemand etwas von dem, was geschah. Oder es nahm einfach niemand Anstoß daran.

Besondere Gegenwartsrelevanz erhält der Film durch die jüngsten Diskussionen über das jahrzehntelang kritiklose, teils positive Verhältnis linksalternativer Milieus zum Sex mit Kindern und Jugendlichen im Namen der Freiheit. Dass dieser systemisch, nicht nur punktuell problematische Aspekt noch immer ein virulentes Thema und seine Aufarbeitung nur bedingt erwünscht ist, zeigt sich z. B. daran, wie die Berliner Tageszeitung „taz“ im September 2013 einen Bericht über die Verquickung von Grünen und Pädophilie zu unterdrücken versuchte. Auch die spätere Rezeption Otto Mühls gibt zu denken. Er hat seine Taten bis zu seinem Tod nicht bereut. Trotzdem blieb er auch nach seiner Haftentlassung in der internationalen und der Wiener Kunstszene gern gesehen. Claus Peymann lud ihn 1998 zur Lesung ins Burgtheater, große Museen widmeten ihm Ausstellungen.

In die ideengeschichtliche Tradition der AAO gehört auch das bis heute bestehende „Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ (ZEGG) in Brandenburg. Obwohl Auswüchse wie im Friedrichshof dort sicher nicht denkbar sind, bestehen hier vor allem am Anfang auch personelle Kontinuitäten. Dennoch hat das ZEGG seine Vorgeschichte nur rudimentär aufgearbeitet und verleugnet sie teilweise vor sich selbst. Im unterstützenden ZEGG-Umfeld, dem Berliner Polyamorynetzwerk, erschien nach Otto Mühls Tod im Mai 2013 der Nachruf eines glühenden Verehrers, der dessen Verbrechen einfach verschwieg.

Paul-Julien Roberts Film ist eine Aufforderung an solche Lebensreformbewegungen und -kommunen, sich den finsteren Aspekten im Erbe der eigenen Sozialutopien ehrlich zu stellen und sie zu bearbeiten.


Kai Funkschmidt