Liane Wobbe

Meditation, Harmonie und Gemeinschaft

Die neohinduistische Reformbewegung Yogi Divine Society und ihre Bedeutung im Westen

Ein hinduistisches Neujahrsfest in Berlin

An einem Samstagabend im Oktober1 versammeln sich im Gemeindesaal der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf indische, sri-lankische und deutsche Frauen und Männer zu einem indischen Neujahrsfest. Als Veranstalter des Festes fungiert weder die indische noch die sri-lankische Hindugemeinde, sondern eine Gemeinschaft von Leuten, die in Kleinmachnow zu Hause ist. Sie nennt sich „Yogi Divine Society“. Der Name des Festes ist Annakut und bezeichnet eine Ansammlung von Speisen, die zu einem Berg aufgehäuft werden, um sie in dieser Form den Göttern zu opfern. Das Neujahrsfest, das vor allem aus Speiseopfern für die Götter besteht, wird am Neujahrstag im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat im hinduistischen Monat Kartik (Oktober/November) begangen.

Auf einer erhöhten Bühne stehen sechs lebensgroße Pappfiguren, die eine Reihe von Gurus darstellen. Unter ihnen befinden sich Swaminarayan, der Begründer, und H. H. Hariprasad, der derzeitige Guru der hinduistisch orientierten Gemeinschaft. Vor diesen Figuren sind auf sechs Stufen Speisen in vielen kleinen Behältern bergförmig angehäuft. Am Eingang des Raumes werden die Gäste von deutschen Frauen in einem indisch anmutenden Outfit (lange Haare, Saris, roter Punkt2 auf der Stirn) begrüßt. Nach und nach füllt sich der Raum mit deutschen, indischen und sri-lankischen Gästen. Indische wie deutsche Männer und Frauen staunen nicht schlecht, als sie von den Platzanweiserinnen gebeten werden, getrennt voneinander Platz zu nehmen: Männer im vorderen, Frauen im hinteren Bereich.

Das Fest beginnt mit einer Ansprache des Vorsitzenden der Yogi Divine Society. Ein besonderer Gruß gilt zwei Swamis3, die aus Indien stammen und auf einer Reise durch die USA und Europa auch auf diesem Fest vorbeischauen. Nach einem Bhajan-Singen4 für den verstorbenen und heute wie einen Gott verehrten Guru Lord Swaminarayan erfolgt durch einen der Swamis eine Präsentation zum Thema „Channel your potention“. Den Gästen wird anhand kleiner Filme eine Art Trainingsprogramm für ein spirituell geführtes und erfolgreiches Leben serviert. Als hilfreiche Aspekte auf dem Weg zum Erfolg sollen unter anderem das Fokussieren auf ein Ziel, harte Arbeit, Meditation, Harmonie und eine positive Einstellung gegenüber allen Menschen dienen. Dann wird das Programm fortgesetzt mit einem Vortrag eines Mitgliedes der Yogi Divine Society aus Chicago und einer Aufführung eines indischen Tanzes, dargeboten von deutschen und indischen Männern.

Den Schluss der abendlichen Veranstaltung bildet eine Arti-Zeremonie5: Messingteller mit Blüten und Teelichtern werden durch die Stuhlreihen gegeben und immer von jeweils zwei Frauen oder zwei Männern im Uhrzeigersinn geschwenkt. Nach dieser Lichtzeremonie begeben sich die Männer zur Bühne, um ein kleines Ritual vor den Gurustatuen zu zelebrieren, während die Frauen den „heiligen Platz“ noch nicht betreten dürfen. Erst nachdem alle rituellen Tätigkeiten erledigt sind, mischen sich Frauen und Männer. Die Mitglieder der Yogi Divine Society bauen nun die von den Gästen gespendeten und den Göttern geweihten Speisen, von Hindus auch als „Prasad“6 bezeichnet, auf einer langen Tischplatte auf und laden zum Essen ein.

Die Swaminarayan-Bewegung

In London-Neasden befindet sich das Swaminarayan Hindu Mandir, ein Tempel der Swaminarayan-Bewegung, der gegenwärtig als der größte Hindu-Tempel in ganz Europa gilt und sich unter Hindus wie Nichthindus größter Popularität erfreut. Selbst in Reiseführern zu London wird er den Touristen mittlerweile als Ausflugsziel empfohlen. Doch was haben die Swaminarayan-Bewegung und der Tempel in London mit dem Fest Annakut in Berlin zu tun?

Die Yogi Divine Society, zu der sich die deutschstämmige Hindu-Gemeinschaft aus Kleinmachnow bekennt, ist eine Splittergruppe der hinduistischen Swaminarayan-Bewegung, die in Indien ihren Ursprung hat. Sie wurde Ende des 18. Jahrhunderts von Ghanashyam Pande (1781-1830) gegründet. Ganashyam, als Sohn eines Brahmanen 1781 in Chapaiya (Uttar Pradesh) geboren, verließ nach der Überlieferung bereits mit elf Jahren seine Familie und zog durch den Norden seines Heimatlandes. Nach verschiedenen Aufenthalten an heiligen Plätzen und dem Ausprobieren spiritueller Praktiken ließ er sich mit 20 Jahren in einem Ashram auf Kathiawad, einer Halbinsel in Gujarat, nieder und trat dem asketischen Orden „Uddhav Sampraday“ bei. Nach dem Tod des hier lebenden Gurus wurde er selbst zum Leiter des Ashrams ernannt. Seine Anhänger sahen in Ghanashyam eine göttliche Inkarnation des Hindu-Gottes Vishnu und verliehen ihm deshalb den Namen Swaminarayan.7 Er zählte in den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts zu den prominentesten Persönlichkeiten in Gujarat.

Das spirituelle Ziel Swaminarayans bestand vor allem darin, den Hinduismus in seinem Land zu reformieren. Er trat gegen Aberglauben, Gewalt, Tieropfer, Kastendiskriminierung, Tötung von weiblichen Babys und Witwenverbrennung auf. Er predigte den hohen Wert der vedischen Traditionen8, die Trennung der Geschlechter auf religiösen Veranstaltungen9 sowie das Erreichen von innerer Reinheit durch ein tugendhaftes Leben und durch Selbstdisziplin.

Die Belehrungen, die Swaminarayan gegeben hat, haben seine engsten Schüler gesammelt und in zwei Werken zusammengefasst: im Shikshapatri (Wegführer der Schüler) und im Vachanamrit (Nektar der Rede). Der Hauptaspekt der Lehren besteht im Erwerb des Wissens um den Dharma, den wahren Weg zur Erlösung. Wer diesen Weg beschreiten will, sollte nicht an weltlichen Dingen haften. Meditation, das Chanten des Swaminarayan-Mantras sowie das Ausüben von Bhakti, der hingebungsvollen Verehrung Gottes, sollten im Zentrum stehen. Zwei weitere Werke sind das Satsangijivanam und das Haricharitramrut. Während ersteres Regeln für eine Gemeinschaft und die Durchführung von Ritualen enthält, findet man im zweiten legendäre Geschichten zur Biographie Swaminarayans. Bis heute sind diese Bücher von autoritativer Bedeutung für alle Gruppen der Swaminarayan-Bewegung.

Kurz vor seinem Tod entschied Swaminarayan, eine Reihe so genannter Acharyas einzusetzen, die sein Werk als spirituelle Nachfolger weiterführen sollten. Nach seinem Tod 1830 kam es zu vielen Kontroversen der Anhänger, die auf unterschiedlichen Auffassungen von der Nachfolgeschaft ihres verstorbenen Meisters basierten. Dabei bildeten sich verschiedene Swaminarayan-Zweige heraus. Der älteste unter ihnen nennt sich heute „The Original Swaminarayan Sampraday“. Diese Gemeinschaft geht davon aus, dass Swaminarayan bereits zu seinen Lebzeiten zwei seiner Neffen als spirituelle Nachfolger (Acharyas) eingesetzt und geboten hat, die familiäre Abstammungslinie spiritueller Leiter der Gemeinschaft weiterzuführen. Die gegenwärtig amtierenden Acharyas sind Shree Koshalendraprasadji Maharaj mit Sitz in Ahmedabad und Shree Rakeshprasadji Maharaj mit Sitz in Vadtal (Gujarat). Der „Original Swaminarayan Sampraday“ ist die weltweit populärste Swaminarayan-Gruppe. Sie unterhält in Indien viele soziale Einrichtungen und besitzt weltweit die meisten Tempel.

Die zweite große Nachfolgegruppe der Swaminarayan-Bewegung nennt sich heute „Bochasanwasi Shree Akshar Purushottam Swaminarayan Sanstha“ (BAPS). Deren Anhänger vertreten im Unterschied zur ersten Gruppe nicht eine blutsverwandte Abstammungslinie spiritueller Meister, sondern glauben, dass Swaminarayan zu seinen Lebzeiten seinen vertrautesten Schüler namens Gunatitananda als spirituellen Nachfolger seiner Gemeinschaft eingesetzt hat. Nach ihrer Auffassung besteht eine ungebrochene Reihe erleuchteter Gurus. Gegenwärtig verehrt der BAPS den Guru Pramukh Swami Maharaj (geb. 1921). Die Gruppe ist missionarisch sehr aktiv, sozial engagiert und unterhält weltweit viele Tempel. Einer davon ist das Swaminarayan Hindu Mandir in London-Neasden. Aus dieser Nachfolgegemeinschaft und heute zweitgrößten Swaminarayan-Gruppe haben sich wiederum zahlreiche Zweige gebildet, in deren Mittelpunkt jeweils unterschiedliche geistige Oberhäupter stehen. Eine davon ist die Yogi Divine Society.10

Die Yogi Divine Society

Die Yogi Divine Society hält sich an die gleiche Gurureihe wie der BAPS, als gegenwärtiges spirituelles Oberhaupt wird jedoch seit 1965 H. H. Hariprasad Swamiji (geb. 1934) verehrt. Mit strahlendem Gesicht in orangefarbenem Gewand stellt der Mann aus Indien auf Flyern und Internetseiten die Repräsentationsfigur dieser Swaminarayan-Gruppe dar.

Die Yogi Divine Society steht in vishnuitischer Tradition11. Nach Aussagen eines Mitglieds fühlen sich die Anhänger vom theologischen Lehrgebäude her den Krishna-Jüngern am nächsten, obwohl es sonst wenig Berührungspunkte mit diesen gibt. Verehrt werden vor allem die vishnuitischen Hindu-Götter Vishnu, Radha, Krishna, Hanuman und Rama sowie das Gurupaar Swaminarayan und Swami Gunatitananda. Besondere Bedeutung kommt in dieser Gemeinschaft der religiösen Schulung der Anhänger sowie der theoretischen Vermittlung hinduistischer Werte und spiritueller Lebensregeln zu. Als autoritative Schriften gelten für die Yogi Divine Society, wie für alle anderen Swaminarayan-Gruppen auch, das Shikshapatri, das Vacanamrit, das Satsangijivanam und das Haricharitramrut. Rituell gesehen werden hinduistische Praktiken zelebriert wie das Rezitieren des Swaminarayan-Mantras, Arti-Zeremonien, Bhajan-Singen und das Opfern von Speisen gegenüber Guru- und Götterbildern.

Als ethische Grundlagen gelten für Mitglieder der Yogi Divine Society, wie für die Swaminarayan-Anhänger weltweit, die Gebote des Shikshapatri, von denen folgende zehn eine besondere Rolle spielen: 1. kein Lebewesen bewusst zu töten, 2. Ethikregeln ohne Fehler zu befolgen, 3. keine Tiere in Ritualen zu opfern, 4. weder Mord noch Selbstmord zu begehen, 5. den Genuss von Eiern, Fleisch, Alkohol, Knoblauch und Drogen zu meiden, 6. Körperverletzung, Diebstahl und falsche Anschuldigungen zu unterlassen, 7. im Tempel während der Rituale und Vorträge Distanz zum anderen Geschlecht zu halten, 8. allen Göttern in einem Tempel Respekt entgegenzubringen, 9. keine unkeusche Kleidung zu tragen, 10. für Männer: nur bei Vorträgen anwesend zu sein, die von Männern, nicht aber von Frauen gehalten werden. Strenge Regeln gelten des Weiteren für verschiedene religiöse Grade sowie für Darstellung und Verhaltensweisen von Frauen und Männern. So fällt beispielsweise auf, dass auf Flyern und Internetseiten zwar Bilder von Jungen und Männern aller Altersgruppen, jedoch nicht von Mädchen oder Frauen zu finden sind.

Der Hauptsitz der Yogi Divine Society befindet sich in Vadodara / Gujarat. Weltweit soll es nach eigenen Angaben ca. 2500 Zentren geben, die meisten davon in Indien. Außerhalb des Landes existieren kleinere und größere Tempelorganisationen, so z. B. in den USA, in Kanada, Neuseeland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Die Yogi Divine Society ist weltweit missionarisch aktiv und zeichnet sich vor allem in Indien durch großes soziales Engagement aus. Hier unterhält sie medizinische Einrichtungen, Beratungsstellen, Wohltätigkeitsprojekte und Schulen. Sie unterstützt ärztliche Behandlungen und Hochzeitszeremonien finanziell schwacher Familien und bietet Beratung bei Familienkonflikten. In einem Bildungszentrum in Rajkot werden vom Kindergartenalter bis zur Ausbildung Betreuung und pädagogische Arbeit in Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Informatik, Medizin und Technik angeboten. Besonders für Jugendliche finden Seminare und Camps statt, um deren Spiritualität, Disziplin und positive Einstellung zum Leben zu fördern. Besondere Hilfsprojekte gelten auch den Stammesgesellschaften, um diese in die so genannte Mainstream-Gesellschaft zu integrieren.

In Kleinmachnow, im Tal 16, befindet sich das einzige spirituelle Zentrum der Yogi Divine Society in Deutschland. Das Haus gehört einem deutschen Ehepaar, das sich seit 1992 zu der Gemeinschaft bekennt. Sie sind die offiziellen Leiter und Kontaktpersonen des deutschen Zweiges und haben in ihrer Wohnung einen Tempel für Lord Swaminarayan und ihren derzeitigen Guru H. H. Hariprasad eingerichtet. Mittlerweile gibt es einen Kreis von 20 Personen, darunter Freunde und Initiierte, die sich zu den regelmäßig stattfindenden Andachten einfinden oder die Räume des Hauses als „spirituellen Rückzugsort“ nutzen. Unter den Mitgliedern bestehen auch private Kontakte. Sie treffen sich jeden Sonntagabend im häuslichen Tempel des Leiterpaares und zelebrieren eine Andacht. Diese besteht aus einer halbstündigen Mantra-Meditation, bei der heilige Sanskrit-Silben für Swaminarayan rezitiert werden. Darauf folgen Bhajans, ein Vortrag, eine Arti-Zeremonie und ein gemeinsames Essen. Zudem werden fünf Verse aus dem Shikshapatri vorgelesen. Während dieser Abendveranstaltung bilden sich auch separate Frauen- und Männergruppen.

Nach Aussagen des Leiters sollte ein Mitglied der Yogi Divine Society jeden Morgen und jeden Abend eine Arti-Zeremonie halten. Zudem sind nach seinen Angaben vor allem fünf Verhaltensregeln für die Anhänger relevant: 1. keinen Alkohol zu trinken; 2. nicht zu rauchen; 3. kein Fleisch, keine Eier, Zwiebeln und keinen Knoblauch zu essen, 4. keinen Diebstahl und 5. keinen Partnerwechsel zu begehen. Des Weiteren sollen Frauen nur Frauen belehren, während Männer Vorträge vor Männern und Frauen halten dürfen.

Seit 2004 feiert der deutsche Zweig der Yogi Divine Society öffentlich das Annakut-Fest. Ein weiteres Fest wird am 4. Mai begangen, Guru Purnima, der Geburtstag zu Ehren des Gurus H. H. Hariprasad Swamiji. Weiterhin unternimmt die Gruppe alle ein bis zwei Jahre Pilgerfahrten nach Vadodara zum Haupttempel der Yogi Divine Society. Seit 2003 treten die Mitglieder der deutschen Gruppe mit Flyern, Puja-Zeremonien und Festveranstaltungen an die Öffentlichkeit. Besondere Verbindungen unterhalten sie zu Hindus aus Gujarat.

Merkmale neohinduistischer Reformbewegungen

Die Yogi Divine Society ist, wie ihre Mutter- bzw. Schwesterreligion, die Swaminarayan-Bewegung, als neohinduistische Reformbewegung einzustufen. Die Gründung solcher Bewegungen reicht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Während dieser Zeit kam es unter indischen Intellektuellen zu Prozessen der Strukturierung traditioneller hinduistischer Lehren, zur theoretischen Vermittlung von Ritualabläufen und sozialen bzw. religiös begründeten Verhaltensweisen. Kennzeichnend für so genannte neohinduistische Reformbewegungen im Heimatland Indien wurde, dass sie sich von den traditionellen Tempelkulten des Landes abgrenzten, meist gebildete Inder um sich scharten und den Hinduismus reformieren wollten. Zu solchen reformerischen Unternehmungen gehörten unter anderem Forderungen nach Gleichheit für alle Kasten, nach Verboten der Witwenverbrennung und der Tötung von Lebewesen sowie der Bau sozialer Einrichtungen.

Durch ihre Missionsarbeit verbreiteten sich solche Bewegungen auch im Westen. Zu nennen sind hier die ISKCON (Hare-Krishna-Bewegung), die Sant-Mat-Bewegung, die Brahma Kumaris und die Swaminarayan-Bewegung. Heute verfügen diese Reformgruppen über zahlreiche theoretische Methoden der Religionsvermittlung, die es auch vermögen, Nicht-Indern den Hinduismus verständlich zu machen. So werden hier, im Unterschied zum traditionellen Tempelkult, der hauptsächlich aus Verehrungszeremonien für die Götter durch den Priester und aus rituellen Opfergaben der Gläubigen besteht, die Verkündigung, das Studium der heiligen Schriften und der verbale Austausch zwischen den Mitgliedern gefördert. Oft werden Regeln für ein erfolgreiches Leben aufgestellt, die nicht mehr aus den zeitlich und inhaltlich korrekt durchgeführten Ritualen des Priesters oder der Hindugläubigen bzw. der richtigen Geldsumme resultieren, sondern aus dem eigenen Verständnis der religiösen Schriften und aus eigenen Methoden spirituellen Verhaltens wie Meditation und Visualisierung. Eine große Rolle spielen die Begründer bzw. deren aktuelle Nachfolger, die in diesen Bewegungen als Swamis oder Gurus verehrt werden und deren Lehren unbedingte Autorität besitzen.

Deshalb ist es nun auch interessant zu sehen, dass gerade am Hinduismus Interessierte aus dem Westen sich nicht zu den ethnischen Diaspora-Gruppen gesellen, die den volkstümlichen Hinduismus repräsentieren, sondern sich lieber den reformerischen Hindu-Gruppen anschließen. Das mag zum einen daran liegen, dass es für Außenstehende in ethnischen Hindu-Gruppen schwierig ist, sich zu verständigen. Eine Erklärung der religiösen Zeremonien und die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls sind nur schwer möglich. Zum anderen finden unter indischstämmigen Hindus mangels eigener Kulträume wenig regelmäßige Gemeinschaftsrituale statt. Religiöses Leben spielt sich überwiegend im Privaten ab. Des Weiteren spielt unter sri-lankischen und indischen Hindus die Frage nach ritueller Reinheit eine große Rolle. So bleiben für Menschen, die eine Gemeinde mit hinduistischen Weltanschauungen und Ritualen suchen, nur noch neohinduistische Reformgruppen wie z. B. die Hare-Krishna-Bewegung, die Brahma Kumaris, verschiedene Swaminarayan-Gruppen oder diverse spirituelle Meditationsgruppen. Denn hier treffen sie auf eine Übersetzung in die Landessprache, auf missionarische Aktivitäten, feste Gemeinschaftsstrukturen, regelmäßige Kultveranstaltungen, theoretische Belehrungen und moderne Ausdrucksformen, die einen leichteren Zugang verschaffen. Und nicht zuletzt werden diese Gruppen im Westen von westlichen Hindu-Konvertiten geleitet.

Trotz der modernen Vermittlung hinduistischer Werte bleiben doch die Inhalte solcher Reformbewegungen sehr an die hinduistische bzw. indische Lebensweise gebunden. So tragen zwar deren Aspekte moderner religiöser Entwicklung unter indischen Hindus innerhalb des indischen Subkontinents und in Bezug zum historischen, religiösen und gesellschaftlichen Kontext des Landes in jeder Hinsicht reformerischen Charakter. Das gleiche gilt aber nicht unbedingt für eine westlich geprägte Umgebung. Im Gegenteil: Der Eintritt in eine hinduistische Reformgruppe bzw. das Leben nach einer Initiation erfordert oft die Übernahme hinduistisch bzw. indisch geprägter Verhaltensweisen, was für westliche Menschen eher eine Eingrenzung, wenn nicht gar einen Rückschritt im Vergleich mit bisherigen Lebensgewohnheiten bedeuten kann. Dazu gehören z. B. ein anderer Umgang der Geschlechter miteinander, verschiedene Askeseformen, eine bestimmte Kleiderordnung, Speiseeinschränkungen und manchmal auch die gesellschaftliche Benachteiligung der Frauen.

Eine „indische Identität“ für deutsche Hindu-Konvertiten?

Man kann sich fragen, was Menschen mit einem westlich geprägten Hintergrund dazu bewegt, kulturelle und religiöse Praktiken und Werte eines Landes zu übernehmen, dessen historischer und kultureller Kontext sich grundlegend vom Abendland unterscheidet. Ist es die fremde Spiritualität, die besondere Erfahrungen der Meditations- oder Visualisierungsübungen ermöglicht? Sind es Gurus mit einer besonderen Ausstrahlung? Ist es das exotische Indische schlechthin? Denn westliche Hindu-Konvertiten übernehmen nicht nur hinduistische Glaubensüberzeugungen und Rituale, sondern legen sich oft eine „indische“ bzw. Hindu-Identität zu. Das zeigt sich darin, dass man sich mit indischen oder hinduistischen Formeln begrüßt und indische Kleidung trägt. Während die Männer der Krishna-Bewegung sich mit dem orangefarbenen Dhoti (langes Hüfttuch) und die Frauen mit Saris kleiden, tragen die Frauen der Yogi Divine Society Saris, die Männer aber Anzüge, „weil es der Swamiji so wünscht. Denn auch in Indien trifft man Frauen heute noch in der Öffentlichkeit in der traditionellen Kleidung eines Saris oder eines Salwar Kamiz (langes Kleid mit einer Hose darunter), während die Männer eher in Anzügen auftreten.“12 Zudem wird häufig indisches Essen gekocht. Ein weiteres Merkmal indischer Identitätsaneignung ist, dass den Mitgliedern neohinduistischer Gruppen nach der Initiation und den Kindern nach der Geburt ein indischer Name verliehen wird. Besondere Bedeutung haben Gurus und Swamis. Sie werden eingeladen, hofiert, um Rat gebeten und manchmal sogar wieder bis nach Indien begleitet.

Eine Maßnahme, die auch in Indien, vor allem unter der nicht-muslimischen Bevölkerung, zu den als rückständig geltenden Entwicklungen zählen dürfte, ist die, dass es Frauen in den Swaminarayan-Gruppen, so auch in der Yogi Divine Society, untersagt ist, Vorträge vor Männern zu halten und sich während der Rituale in deren Nähe aufzuhalten. Ein solcher gesellschaftlicher Rückschritt wird mit dem Schutz der Frau erklärt oder spirituell begründet. Bei einer Übernahme indischer Lebensgewohnheiten ergibt sich die Frage nach einem freiwilligen Rückschritt in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse, während insbesondere indische Hindus im Westen darum bemüht sind, sich den westlichen Lebensgewohnheiten anzupassen.

Lehren und Verhaltensweisen innerhalb neohinduistischer Bewegungen haben oft zur Folge, dass sich aus diesen Gruppen Organisationen mit elitären Formen herausbilden, deren meist westliche Anhänger sich als „bessere Hindus“ fühlen.

Die Bedeutung neohinduistischer „Ersatzorte“ für ethnische Hindus

Welchen Zugang haben nun ethnische Diaspora-Gruppen zu den Veranstaltungen neohinduisischer Gruppen wie beispielsweise der Krishna-Bewegung oder der Yogi Divine Society? In Berlin z. B. besuchen einige Hindus aus Indien aufgrund fehlender Hindu-Tempel die Veranstaltungen neohinduistischer Gruppen. Attraktiv für sie sind besonders die verbindenden Elemente der Darstellung von Hindu-Göttern (Krishna, Rama) und hinduistischer Verehrungszeremonien. Der Blickkontakt (Darshan) mit hinduistischen Göttern kann immer glücksverheißend sein. Und bei einem Besuch noch lebender Gurus und Swamis haben Hindus aus Indien oder Sri Lanka die Möglichkeit, Darshan zu nehmen und punktuell des Göttlichen teilhaftig zu werden. Zudem repräsentieren die „heiligen Männer“ das eigene Heimatland.

Auch finden indische und sri-lankische Hindus hier eine gewisse soziale Verbundenheit im Austausch mit Menschen indischer Herkunft, Kultur und Religion. Gleichzeitig werden sie aber mit europäischen Hinduismus-Formen konfrontiert, teilweise sogar mit konservativeren, als es in ihrem Diaspora-Hinduismus – geschweige denn in Indien selbst – üblich ist, z.B. bei der Trennung der Geschlechter während der Rituale.

Ethnische Hindus nehmen neohinduistische „Ersatzorte“ nur begrenzt in Anspruch. Sie lassen sich meist nur auf besonderen Veranstaltungen sehen, beispielsweise beim Besuch eines Swamis aus Indien, bei einem Umzug oder einem Fest. Sie nehmen zwar an Ritualen teil, aber es kommt in der Regel nicht zu einer Weihe, einer Mitgliedschaft oder persönlichem Engagement. Spenden in Form von Geld oder Essen hingegen werden großzügig geleistet. Im Allgemeinen besitzen indische und sri-lankische Hindus in neohinduistischen Gruppen nur einen Gaststatus.

Viele indischstämmige Hindus kritisieren zwar den Absolutheits- und Missionsanspruch neohinduistischer Reformgruppen wie der Krishna- oder der Swaminarayan-Bewegung, betonen aber auch, dass Hindus tolerant sind und im Hinduismus alle Götter und Religionen Platz haben.


Liane Wobbe, Berlin


Anmerkungen

1 25.10.2008.

2 Indische und sri-lankische Hindus tupfen sich nach einer Verehrungszeremonie einen roten Punkt aus Kumkum (rote pulverisierte Wurzel) auf die Stirn.

3 Das Wort „Swami“ (sanskr. „svamin“ = Meister) wird in Indien als Titel für religiöse Gelehrte und Leiter religiöser Zentren benutzt.

4 Bhajan ist ein devotionaler hinduistischer Gesang.

5 Arti (sanskr. „arati“) ist eine Lichtzeremonie, bei der eine öl- oder gheegespeiste Lampe mehrere Male vor einer Gottheit gekreist wird.

6 Prasad (sanskr. „prasada“ = Gnade), vor allem Speisen, aber auch andere Gaben, die den Göttern geopfert und an die Gläubigen zurückgegeben werden.

7 Narayan ist ein Name des Gottes Vishnu.

8 Veda (Wissen), vier Vedas – älteste Hinduschriften, die als göttliche Offenbarung gelten und deren Entstehungszeit zwischen dem 12. und dem 4. Jahrhundert v. Chr. datiert wird; das Adjektiv „vedisch“ bezieht sich auf Sprache, Literatur, Mythen und Rituale in dieser Zeit.

9 Mit der Trennung der Geschlechter wollte Swaminarayan dem vermeintlich unzüchtigen Verhalten der Männer gegenüber Frauen und dem heimlichen Partnerwechsel generell entgegenwirken. So ordnete er die Trennung von Frauen und Männern auf Hindufesten an und ließ sogar eigene Tempel für Frauen bauen.

10 Zur Swaminarayan-Bewegung: Raymond Brady Williams, An Introduction to Swaminarayan Hinduism, Cambridge 2001.

11 Vishnuitische Traditionen: Traditionen, in deren Zentrum der Gott Vishnu und dessen Götterfamilie sowie entsprechende Schriften und Rituale stehen.

12 Begründung eines Mitglieds der Yogi Divine Society.