Matthias Pöhlmann

Maurerschurz, Winkelmaß und Zirkel

In letzter Zeit sind von freimaurerischer Seite zahlreiche Bücher erschienen, die einer breiteren Öffentlichkeit Aufschluss über die Geschichte und das Selbstverständnis des traditionellen Männerbundes geben.1 Im Vergleich zu früheren Jahren haben die Freimaurer ihre Anstrengungen vergrößert, das eigene Anliegen deutlicher und in publizistischer Hinsicht wirksamer zu vertreten. Ähnliches lässt sich bei Großlogen und örtlichen Logen beobachten: Im Internet finden sich zahlreiche Informationsseiten sowie Diskussionsforen, in denen das Gespräch mit der Öffentlichkeit gesucht wird.2 Nicht zuletzt durch die Kooperation der masonischen Forschungsloge Quatuor Coronati mit universitären Einrichtungen bzw. mit nichtfreimaurerischen Forschern geht der deutsche Freimaurerbund neue Wege. Trotz dieser neuen Öffentlichkeitsarbeit bleibt Außenstehenden unklar, was Freimaurer in den Logen erleben und was über die nicht näher beschriebenen Rituale erreicht werden soll. Gerade an diesem Punkt halten sich die freimaurerischen Veröffentlichungen vornehm zurück – mit dem Hinweis, das individuelle Erleben eines Freimaurers müsse sich zwangsläufig einer objektiven Beschreibung entziehen.

Zur Frage der Religion nehmen die Freimaurer eine uneinheitliche und dezidiert „undogmatische“ Haltung ein. Das wirkt sich auf das Verhältnis der großen christlichen Kirchen zur Freimaurerei aus. Hier gibt es zwischen den Konfessionen unterschiedliche Einschätzungen und Empfehlungen. Während die Evangelische Kirche in Deutschland ihr Verhältnis zu den Logen durch eine gemeinsame Gesprächsgruppe 1973 weitgehend geklärt sieht, macht die katholische Kirche theologische Einwände für eine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen Christentum und Freimaurerei geltend. Aus Sicht der Freimaurer besteht eine solche Gegensätzlichkeit indes nicht. Der Berliner Journalist und Freimaurer Tom Goeller kommt in seinem Buch „Freimaurer. Aufklärung eines Mythos“ – trotz mancher konstatierten historischen Rückschläge – zu dem Ergebnis: „Dennoch sollten sich deutsche Freimaurer ermutigt fühlen, den Dialog mit beiden Kirchen immer wieder neu zu suchen. Denn letztlich gibt es mehr Gemeinsames als Trennendes. (...) Was die katholische und manchmal auch die evangelische Kirche außer Acht lassen, ist, dass sich Freimaurer intensiver als alle anderen Bevölkerungsteile mit Religion beziehungsweise Religionen befassen. Sie müssen dies tun, schon aufgrund ihrer philosophischen Studien, zu denen sie von Mitbrüdern angehalten werden.“3 Doch trotz solcher euphorischen Selbstdarstellungen stellt sich die Haltung der deutschen Freimaurer zu Religion und Religionen sehr unterschiedlich dar.

1. Geheimnisumwitterter Männerbund

Noch immer dient die Freimaurerei als Projektionsfläche für diffuse Ängste, und sie wird nicht selten zur Zielscheibe kruder Verschwörungstheorien. Das Spektrum reicht vom Okkultismus- bzw. Sektenverdacht über erschreckende Erlebnisberichte aus zweiter oder dritter Hand bis hin zu Verschwörungstheorien4, die seit Anbeginn die Freimaurerei begleitet haben. Ursache dafür ist die Geheimhaltung der freimaurerischen Rituale bzw. die Verschwiegenheit unter den Freimaurer-Brüdern.5 Es hat den Anschein, als würden die antifreimaurerischen Ressentiments vergangener Zeiten in neuem Gewand eine neue Konjunktur erleben. In der braunen Esoterik wird die Freimaurerei zur Zielscheibe stereotyper Verschwörungstheorien.6 Aus dem evangelikalen Spektrum werden theologische Unvereinbarkeiten gegenüber der Freimaurerei ins Feld geführt. Demnach würden die Logen antichristliche Positionen vertreten, merkantile Interessen verfolgen und ein nebulöses Ritualsystem pflegen, das in Bereiche der Finsternis führe.7

Das Logenmitglied Goeller betrachtet den eigenen Bund als „älteste Geheimgesellschaft der Welt“8. Damit sind Missverständnisse vorprogrammiert – insbesondere dann, wenn in Freimaurerkreisen von einer „Verschwörung zum Guten“9 die Rede ist. Was hat es mit dem Begriff „Geheimgesellschaft“ auf sich? In der vierten und neuesten Auflage des Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ findet man zum Stichwort „Freimaurer“ den Hinweis: „Die Freimaurer bilden in ihrer Gesamtheit die weltweit ausgedehnteste Bewegung vom Typus einer Geheimgesellschaft.“10 Sie können jedoch auch als „diskrete Gesellschaft“11 oder als verschwiegener Männerbund betrachtet werden. Heutige Freimaurer lehnen es in der Regel ab, als Geheimgesellschaft bezeichnet zu werden, um Angriffen, Vorwürfen oder Verschwörungstheorien entgegenzutreten.

Der Heidelberger Forscher Jan Snoek bezeichnet die Bruderschaft der Freimaurer dennoch als Geheimgesellschaft, weil sie ein Geheimnis bewahren möchte: „Das Geheimnis, das sie hütet, ist aber nur die Erfahrung, das Ritual der Aufnahme des ersten Grades zu erleben, wodurch man ein Lehrling der Freimaurerei wird. Wie jede andere Erfahrung kann auch diese nicht an jemanden vermittelt werden, ohne dass sie ihm selbst dadurch zuteil wird, dass er selbst Freimaurer wird. Es handelt sich also um ein Geheimnis, das nicht verraten werden kann. Abgesehen von diesem Geheimnis, das das einzige wirkliche Geheimnis der Freimaurerei ist, werden auch einige andere Dinge geheimgehalten, nämlich die Rituale im allgemeinen und namentlich die sogenannten ‚traditionellen Geheimnisse‘, welche im Verlauf der Praktizierung der Rituale mitgeteilt werden. Die ‚traditionellen Geheimnisse‘ der unterschiedlichen Grade umfassen die Wörter, Zeichen und Handgriffe, sowie einige standardisierte Fragen und Antworten, wodurch sich Freimaurer untereinander als solche erkennen und feststellen können, welche Grade jemand erworben hat. Diese Geheimnisse haben keinen intrinsischen Wert. Ihre Verwendung sowie ihre Geheimhaltung sind Teil eines eleganten Spiels, das die Freimaurerei ja auch ist.“12

Die Geheimhaltung der Ritualtexte wird von freimaurerischer Seite damit begründet, dass der Kandidat die Rituale eindrucksvoller erlebe, wenn er nicht vorher schon von ihnen Kenntnis habe. „Das Geheimhalten der Rituale ist wiederum selbst Teil dieses Spiels geworden.“13 Im Zeitalter des Internets ist es heutzutage ein Leichtes, die entsprechenden Texte im World Wide Web einzusehen. Vor diesem Hintergrund erblickt der Großmeister der österreichischen Freimaurer die eigentliche Bedeutung des Geheimnisses im Erlebens des Rituals: „Aber theoretisches Wissen wirkt nur auf der Ebene des Verstandes und kann nicht das wesentliche Gefühlserlebnis eines Rituals vermitteln. Kein erzählter, gehörter oder nachgelesener Bericht ist imstande, das eigene Erleben zu ersetzen. Deshalb kann – nach der Überzeugung der Freimaurer – das ‚Geheimnis der Freimaurerei‘, diese Wirkung, die vom Erlebnis der Aufnahme und des Rituals ausgeht, weder mitgeteilt noch verraten werden.“14

Trotz vielfältiger Versuche, das eigene Anliegen im Zeitalter eines oft beklagten Verlusts von Intimität bei gleichzeitigem Zwang zur Öffentlichkeit neu zu bestimmen, umgibt die Freimaurer noch immer eine eigentümliche Spannung zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit.

2. Die freimaurerische Trias: Brüderlichkeit, Humanität, Toleranz

Bei der Freimaurerei, die intern auch als „Königliche Kunst“ bezeichnet wird15, handelt es sich um eine international verbreitete, in den einzelnen Ländern in Logen organisierte Bewegung. Eine Weltzentrale besteht nicht. Der organisatorische Beginn der Freimaurerei wird herkömmlich auf das Jahr 1717 datiert, als sich in London die Großloge bildete. Doch die Wurzeln der spekulativen Maurerei reichen vermutlich weiter zurück. Als Ursprungsland gilt herkömmlich Schottland bzw. die schottische Kultur.16 Hervorgegangen sind die Freimaurer aus den mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften. Zeitlich fällt der organisatorische Beginn der Logen bzw. der sog. spekulativen Maurerei in die Zeit der Aufklärung. 1737 entstand in Hamburg die erste Loge auf deutschem Boden. Der Großloge von London, der ältesten Großloge, kommt zumindest für das englische System eine besondere Dignität zu.

In seiner klassischen – „regulären“ – Form ist der Bund der Freimaurer ein ethischer Männerbund, der sich dem Humanitäts- und Toleranzgedanken verpflichtet weiß. Er versteht sich nicht als Religion oder Religionsgemeinschaft, auch nicht als religiöse Bewegung oder Kirche, sondern als Diesseitsbund. Die Freimaurerei möchte nicht auf religiöse oder konfessionelle Vorgaben beschränkt sein. Sie möchte Raum geben für eine Nationalitäten und Religionen übergreifende Begegnung im Geist der Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit.

Freimaurerlogen engagieren sich nach außen auf sozialkaritativem und kulturellem Gebiet – durch die gezielte finanzielle Unterstützung einzelner wohltätiger Projekte. Hierzu zählt auch die Auszeichnung verdienstvoller Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. So wurde am 18. Mai 2007 der Kulturpreis der deutschen Freimaurer an den katholischen Theologen Hans Küng für sein „Projekt Weltethos“ überreicht. Besonders bekannt wurde die Privatinitiative „Menschen für Menschen“ des Schauspielers und Freimaurers Karlheinz Böhm.

3. Loge, Tempel und Grade

Der Versammlungsort der Freimaurer ist die Loge, die freimaurerische „Baustelle“. Der Begriff steht aber auch für die Organisationsform der versammelten Brüder. Im eigentlichen Zentrum freimaurerischer Praxis steht jedoch die rituelle Arbeit, die sog. Arbeit im Tempel. So nennen die Freimaurer den jeweils nach den rituellen Arbeiten speziell gestalteten Versammlungsraum.

Mit Ritualen und einer Symbolwelt, die der Welt der mittelalterlichen Steinmetzbruderschaften entstammt, soll der Einzelne zur Arbeit an der eigenen Persönlichkeit angeleitet werden. Es geht um Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und Selbstveredelung. Mit den Worten der Freimaurerei: „Schau in dich!“, „Schau um dich!“, „Schau über dich!“ Innerhalb dieses symbolischen Werkbundes erwirbt der Bewerber im Lauf der Jahre verschiedene Grade: Lehrling, Geselle, Meister. Am Anfang des Weges steht – bei Aufnahme in eine Loge – die Arbeit am sog. rauen bzw. unbehauenen Stein. Er ist das Symbol für den zunächst unvollkommenen Menschen, der behauen, d.h. bearbeitet werden soll (Lehrlingsgrad).

Der nächste Schritt ist die Selbstbeherrschung. Dafür steht der kubische Stein: „Wie er durch seine winkelrechte Form sich mit den anderen behauenen Steinen in den Tempelbau einpassen lässt, so soll sich der Geselle harmonisch in die Gemeinschaft einfügen.“17 Die höchste Stufe der sog. Johannismaurerei und das nach Angaben von Freimaurern tiefste Erlebnis ist die sog. Meistererhebung, die Stufe der Selbstveredelung. Dieser Stufe ist als Symbol das Reißbrett zugeordnet: „Auf ihm entwirft der Meister die Zeichnung, die zur Vollendung des Tempelbaus führen soll, mit Hilfe von Winkelmaß und Zirkel.“ Der Ablauf der einzelnen Rituale bzw. die Ritualtexte obliegen der Verschwiegenheit und sind Außenstehenden nicht zugänglich. Der Verschwiegenheit kommt dabei eine besondere Aufgabe zu: Sie dient als Mittel zur Selbsterziehung, um unter den „Brüdern“, wie sich Freimaurer untereinander nennen, eine Atmosphäre des Vertrauens und der Freundschaft zu schaffen.18

Die sog. Tempelarbeit der Freimaurer geschieht vor Ort in der Loge. Die nächsthöhere organisatorische Einheit ist die Großloge, die ihre eigenen Lehr- und Ritualsysteme pflegt. Im Unterschied zu anderen Ländern gibt es in Deutschland aus historischen Gründen keine vereinigte nationale Großloge, sondern fünf nebeneinander bestehende Großlogen mit unterschiedlichen Lehrgradsystemen. Seit 1958 besteht auf der Basis der sog. „Magna Charta“ eine Dachorganisation, die Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) – Bruderschaft der Freimaurer. Ihr gehören folgende Großlogen an:

• Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland

• Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland – Freimaurerorden

• Große National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“

• American Canadian Grand Lodge (ACGL)

• Grand Lodge of British Freemasons in Germany (GL BFG)

Während die beiden letztgenannten Großlogen nach 1945 aus sog. Feldlogen der alliierten Streitkräfte hervorgegangen und 1970 unter dem Dach der VGLvD vertreten sind, können die drei erstgenannten auf eine lange und zum Teil wechselvolle Geschichte zurückblicken. Der alle drei Jahre gewählte Großmeister der VGLvD ist nach außen hin der höchste Repräsentant der deutschen Freimaurer. Seit Oktober 2006 hat dieses Amt der Kaufmann Dr. Klaus-M. Kott (Bremen) inne.

4. Herausforderungen für die Freimaurerei

Mitgliederschwund

Der Männerbund musste in den letzten Jahrzehnten einen enormen Mitgliederschwund hinnehmen. Eigenen Angaben zufolge ging weltweit in den vergangenen 30 Jahren über die Hälfte seines Mitgliederbestandes verloren. Nach Schätzungen beläuft sich die Zahl der regulären – offiziell anerkannten – Freimaurer weltweit auf 3 bis 4 Millionen. Auch für die deutschen Freimaurer sind stagnierende bzw. rückläufige Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Nach eigenen Angaben gibt es derzeit in Deutschland rund 14 100 Freimaurer in etwa 500 Logen.19 Der Altersdurchschnitt in den Logen liegt bei etwa 63 Jahren. Seit 1950 hat es faktisch keinen Mitgliederzuwachs mehr gegeben. Im Vergleich zu den Vorkriegsjahren – Anfang der 1930er Jahre gab es über 80 000 Freimaurer – hat die Freimaurerei beträchtlich an Einfluss verloren. Von freimaurerischer Seite wird besonders der Nationalsozialismus dafür verantwortlich gemacht, der 1935 die Königliche Kunst in Deutschland verboten und die Großlogen mit massivem Druck zur Selbstauflösung gezwungen hatte.

Pluralisierungsprozesse

Unübersehbar ist heute, dass sich Pluralisierungstendenzen innerhalb der Freimaurerei abzeichnen. Die Freimaurerei in Deutschland ist – historisch bedingt – eine Konsensfreimaurerei. Unter dem Dach der Vereinigten Großlogen von Deutschland haben sich die Großlogen eine gemeinsame Basis gegeben, die ihren unterschiedlichen Lehrarten aber größtmögliche Gestaltungsfreiheit einräumt. Die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Lehrarten (englischer, schottischer sowie schwedischer Typus) sollten daher von außen auch differenziert zur Kenntnis genommen werden.

Kritik von außen regt sich insbesondere am Charakter des Männerbundes. In diesem Zusammenhang wird häufig kritisiert, dass die Freimaurer entgegen ihrem Anspruch nicht tolerant seien, da sie Frauen in ihren Reihen nicht duldeten. Wenngleich es vom Bruderbund, nicht zuletzt auch im Respekt vor der Vereinigten Großloge von England, klare Bestimmungen für die Regularität, d.h. für die rechtmäßige Freimaurerei, gibt, so zeichnen sich mit dem wachsenden Interesse von Frauen an der femininen Freimaurerei auch neue Herausforderungen für die Freimaurerei insgesamt ab, die sich derzeit (noch) nicht abschätzen lassen. An gemeinsame Tempelarbeiten von Frauen und Männern ist dabei allerdings nicht gedacht. Damit würde ein wesentliches Charakteristikum des Freimaurerbundes verloren gehen. Es gibt jedoch Stimmen, die innerhalb des Bruderbundes für grundlegende Reformen eintreten. In diesem Zusammenhang wird ein erkennbares politisches Profil nach außen, eine innere Modernisierung (z.B. der Ritualtexte) und die Zulassung von Frauen in die Logen eingefordert.

Neben dem reinen Männerbund hat sich Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland die spezifische Form der femininen Freimaurerei entwickelt. Auch wenn die Gesamtzahl der Freimaurerinnen in Deutschland noch sehr bescheiden ausfällt – für das Jahr 2004 wird ihre Zahl mit rund 260 Mitgliedern in 15 Logen angegeben –, so kann die Frauen-Großloge von Deutschland von steigenden Mitgliederzahlen und einer intensiven Nachfrage berichten. Derzeit bestehen in Deutschland sechs „Arbeitskreise“: in Aachen, Bayreuth, Bielefeld, Kaiserslautern, München und Trier. Neben der maskulinen und femininen Freimaurerei, die in gegenseitigem Respekt faktisch nebeneinander existiert, ohne gemeinsame Tempelarbeiten durchzuführen, gibt es in Deutschland auch sog. gemischte Logen, die Männer und Frauen aufnehmen. Dabei tritt der 2002 gegründete Souveräne GrossOrient von Deutschland unter Großmeister Gerhard Etzold-Jordan besonders hervor. Er sieht sich einer „liberalen reformierten Freimaurerei“ verpflichtet. Diese Form wird jedoch von den Vereinigten Großlogen von Deutschland im Sinne der alten Bestimmungen als irregulär abgelehnt.

5. Freimaurerei und Religion

Dieses Thema scheint aus Sicht der Freimaurerei keine allzu große Rolle zu spielen: „Sie ist keine Religion, aber sie ist eine Gesellschaft religiös gesinnter Männer; denn sie verlangt von ihren Mitgliedern, dass sie an ein ‚Höchstes Wesen‘ glauben. Der Name dieses Wesens, die Schriften, in denen es geoffenbart, und die Form, in der es verehrt wird, ist einzig und allein Sache des Freimaurers selbst.“20 So sind in den Logen Debatten über Fragen der Religion – im konfessionellen Sinn – in der freimaurerischen Zusammenkunft nicht gestattet. Offiziell nehmen die Logen in religiösen Angelegenheiten eine neutrale Haltung ein. In der Symbolwelt der Freimaurer gibt es implizit religiöse Aspekte, so etwa das Symbol vom „Großen Baumeister aller Welten“ oder das Buch des Gesetzes, die Bibel, die während der Tempelarbeit auf dem Tisch des Meisters vom Stuhl, des Logenvorsitzenden und Leiters der Tempelarbeit, aufgeschlagen liegt.

Im ersten Abschnitt der Alten Pflichten heißt es: „Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein.“21 Die Anerkennung des Sittengesetzes wird in der Freimaurerei im Sinne der zehn Gebote bzw. im Anschluss an Kant als Sittlichkeit oder dahingehend gedeutet, dass das Logenmitglied bereit sein müsse, der Stimme seines Gewissens zu folgen, Pflichtbewusstsein zu haben und guten Willens zu sein.22 Im Internationalen Freimaurerlexikon heißt es: „Die Freimaurerei bekämpft nicht die Religiosität, sie nimmt auch nicht gegen die institutionelle Religion, gegen die Kirche Stellung, nur gegen jede Intoleranz.“23 Die Freimaurer selbst begreifen sich nicht nur als „Kinder der Aufklärung“, sondern auch als „Enkel des Christentums“.24

In der Freimaurerei, in ihren Ritualen und Symbolen und nicht zuletzt in ihrer Sprache sind religiöse Anklänge nicht zu leugnen. In der Neufassung der „Basic Principles for Grand Lodge Recognition” von 1989 liest man: „Freemasons … must believe in a Supreme Being“. In der ursprünglichen Fassung von 1929 war noch die Rede vom Glauben „an den Großen Baumeister aller Welten und an seinen geoffenbarten Willen“. Damit wird nunmehr ein religiöses Fundament vorausgesetzt, das aber inhaltlich – etwa in einem konfessionellen Sinne – nicht näher bestimmt wird und nicht allein auf das Christentum beschränkt bleibt. Erkennbar wird auch eine stark deistische Färbung. Damit soll dem Einzelnen ein Freiraum überlassen bleiben, den er mit eigenen subjektiven religiösen Vorstellungen füllen kann. In den freimaurerischen Ritualen wird Gott als „Allmächtiger Baumeister aller Welten“ bezeichnet (vgl. Hebr 11,10). Gleichwohl bestreiten die Freimaurer, eine Religion, geschweige denn eine Religionsgemeinschaft zu sein. Im Zentrum stünde vielmehr die „diesseitige Lebenshilfe“: „Sie will den Brüdern die Kunst vermitteln, ihr irdisches Leben besser, sinnvoller, erfüllter zu gestalten. Sie benutzt dafür keine religiösen oder kirchlichen Weihen, Verpflichtungen, Sakramente, Gnadenspendungen.“25

Einen Sonderfall stellt dabei die sog. christliche Freimaurerei dar – eine Richtung, wie sie insbesondere vom Freimaurerorden, der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland (GLLFvD), vertreten wird. In ihrem Aufbau gleicht diese Großloge einem christlichen Ritterorden. In ihren Ritualtexten haben Psalmworte aus der Bibel und Gebete ihren festen Platz. Verpflichtend ist dabei, der Lehre Christi zu folgen. Christus wird als „Obermeister“ bezeichnet. In der sog. Ordensregel hält der Freimaurerorden fest, dass „es unmöglich (sei), dass die Vorstellung von Gott bei allen Mitgliedern des Ordens die gleiche ist; denn die menschliche Vernunft ist viel zu schwach, um die ganze Wesenheit Gottes begreifen zu können; ... der Orden überlässt daher jedem Mitglied seine subjektiven Anschauungen und überlässt es jedem Bruder, als Mitglied der einzelnen Kirchengenossenschaft je nach deren Lehre sich seinen Glauben zu bilden und deren Heilslehren in sich aufzunehmen.“26 Mit anderen Worten: Gefordert wird damit kein Glaubensbekenntnis. Auf jegliche kirchlich-dogmatische Bindung soll verzichtet werden. „Damit fordert die Ordenslehre freilich unabdingbar: den Glauben an ein Höchstes Wesen und die Bereitschaft, die Botschaft Jesu zumindest ‚hören‘ zu wollen.“27

Gleichwohl gibt es unter Freimaurern unterschiedliche religiöse Haltungen: „Da gibt es einerseits immer wieder Brüder, Logen und Großlogen, für die Freimaurerei tendenziell eben doch mehr ist als ein ethisch-symbolischer Werkbund, für die Freimaurerei vielmehr Züge von Ersatz- oder zumindest Nebenreligion angenommen hat. Da gibt es auf der anderen Seite Brüder, die fast phobisch auf der Flucht sind vor religiösen Symbolen und die immer wieder neue Versuche starten, den ‚Großen Baumeister‘ und das ‚Buch des Heiligen Gesetzes‘ ein für alle mal gänzlich aus der freimaurerischen Symbolik zu verdrängen.“28 In internen Publikationen finden sich vereinzelt Vorbehalte gegenüber den Kirchen: Sie seien dogmatisch, unduldsam, unmoralisch oder zurückgeblieben, wirklichkeitsfremd und im geistlichen Denken unbeweglich.

Vereinzelt lässt sich der Versuch beobachten, die Königliche Kunst mit esoterisch-fernöstlichen Überzeugungen zu verbinden. Vor kurzem erschien in der Zeitschrift Reiki-Magazin ein Artikel eines bekennenden Freimaurers und Reiki-Praktizierenden. Reiki, wörtlich übersetzt: geistige universelle Lebensenergie, ist eine magische Heilungspraktik. Sie erfreut sich als esoterische Heilungsmethode großer Beliebtheit. Der Verfasser des Artikels ist davon überzeugt, „dass der freimaurerische Gedanke mit dem Energiefeld des Reiki-Stroms fließt.“29 Über einen Astrologen und Reinkarnationstherapeuten wurde der Freimaurer 1999 mit der Reiki-Methode vertraut und in die Grade eingeweiht. Inzwischen betreibt er in Essen ein esoterisches Zentrum, in dem er neben Meditation und Entspannung, orientalischen Massagen und spirituellen Beratungen auch Reiki, Channeling und „Kartenlegen für ein höheres Bewusstsein“ anbietet.30

Freimaurerei und christliche Kirchen

In einem neueren Buch eines Freimaurers heißt es: „Auch die Kirchen haben der ihnen verdächtigen Bruderschaft gegenüber nicht immer eine wohlwollende Haltung eingenommen. Das ist auch heute noch so.“31 Die christlichen Konfessionen vertreten unterschiedliche Positionen zur Freimaurerei. So hält die römisch-katholische Kirche die Freimaurerei und den christlichen Glauben grundsätzlich für unvereinbar32 – auch der deutsche Evangelikalismus teilt weitgehend diese Auffassung.33 Eine andere Haltung nimmt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nach den gemeinsamen Gesprächen von 1973 ein. Unklar blieben für die evangelischen Gesprächsteilnehmer die Bedeutung und das Erleben des freimaurerischen Rituals. Im Abschlussbericht wurde auch die Frage aufgeworfen, „ob das Ritualerlebnis und die Arbeit des Maurers nicht die Rechtfertigung aus Gnaden in ihrer Bedeutung für den evangelischen Christen mindern könnten.“34 Dieser Frage sollte auch in Zukunft besondere Aufmerksamkeit beigemessen werden, um für Klarheit zu sorgen und Missverständnisse auszuräumen.

6. Abschließende Fragen

Aus kirchlicher Sicht ist besonders von Interesse, wie und in welcher Form der Bruderbund seine Haltung zur Religion und zu den Kirchen jetzt und zukünftig bestimmt. Ist die Freimaurerei ausschließlich der Aufklärung verpflichtet oder erblickt man im Logenwesen einen Mysterienbund mit esoterischen oder christlich-mystischen Konnotationen? Oder interpretiert man sie vom Kultus her als religiöse Vereinigung? Besteht in manchen Richtungen nicht doch die Gefahr, dass man in der jeweiligen Richtung und ihrer Ritualistik mehr erblickt als einen reinen Diesseitsbund? Die Diskussion über solche Fragen geschieht – wenn überhaupt – nur in vereinsinternen Blättern oder innerhalb des geschützten Forenbereichs im Internet. Hier wäre innerhalb der Freimaurerei weiterhin Klärungsbedarf.

Zum anderen stellt sich auch die Frage nach dem Menschenbild der Freimaurerei: Wie gelingt der Balanceakt zwischen den hohen Idealen und den tatsächlichen menschlichen Schwächen? Welchen zukünftigen Weg wählt die Freimaurerei in der Spannung zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit? Gelingt es ihr, die freimaurerischen Werte über die Loge hinaus in die öffentliche Diskussion einzubringen? Wie gelingt letztlich der Spagat zwischen Traditionsbewahrung und Reform?


Matthias Pöhlmann


Anmerkungen

1 Peter Stiegnitz, Gott ohne Kirche. Religion und Freimaurerei. Eine Analyse, Wien-Klosterneuburg 2003; Edwin A. Biedermann, Logen, Clubs und Burschenschaften, Düsseldorf 2004; Tom Goeller, Freimaurer. Aufklärung eines Mythos, Berlin-Brandenburg 2006; Christopher Hodapp, Freimaurer für Dummies, Weinheim 2006; Michael Kraus (Hg.), Die Freimaurer, Salzburg 2007; W. Kirk MacNulty, Die Freimaurer. Das verborgene Wissen, München 2006.

2 Vgl. hierzu insgesamt Hans-Hermann Höhmann, Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart: Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?, in: Quatuor Coronati – Jahrbuch für Freimaurerforschung 43, Bayreuth 2006, 151-171.

3 Tom Goeller, a.a.O., 209f.

4 Zu den Hintergründen vgl. Ralf Melzer, Konflikt und Anpassung. Freimaurerei in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Wien 1999, 36-59.

5 Vgl. hierzu insgesamt Thomas Grüter, Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer. Wie Verschwörungstheorien funktionieren, Frankfurt am Main 2006, bes. 211ff.

6 Zur Weltverschwörung der esoterischen Ufologie vgl. Eduard Gugenberger / Franko Petri / Roman Schweidlenka, Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts, Wien/München 1998, 145ff.

7 Diese Aussagen fanden sich wiederholt in Zuschriften, die der Vf. 1999 erhalten hatte, nachdem er in der thüringischen Kirchenpresse eine Stellung­ nahme zur Freimaurerei („Vor Unterstellungen hüten!“) abgegeben hatte.

8 Tom Goeller, a.a.O., 15ff.

9 So der Titel einer Publikation des Freimaurers Jürgen Holtorf: Verschwörung zum Guten, Hamburg 1974.

10 Winfried Dotzauer, Art. Freimaurer, in: RGG4 3 (2000), 329-333, hier 329.

11 Dieter A. Binder, Die Freimaurer. Ursprung, Rituale und Ziele einer diskreten Gesellschaft, Innsbruck 2004 (= Lizenzausgabe Herder/Spektrum 5481, Freiburg/Br. 2006).

12 Jan M. Snoek, Die historische Entwicklung der Auffassungen über Geheimhaltung in der Freimaurerei, in: Quatuor Coronati – Jahrbuch für Freimaurerforschung 40, Bayreuth 2003, 51.

13 Jan M. Snoek, a.a.O., 51.

14 Michael Kraus (Hg.), Die Freimaurer, Salzburg 2007, 75.

15 Dieser Begriff, im Englischen auch Royal Art genannt, ist bereits dem Verfasser des Konstitutionenbuches, dem schottischen Geistlichen James Anderson, bekannt. Eugen Lennhoff / Osar Posner / Dieter A. Binder, Internationales Freimaurer Lexikon, München 52006, 493, führen hierzu aus: „Im symbolischen Sinne bezeichnet sich die Freimaurerei sehr nachdrücklich ebenfalls als Königliche Kunst, als eine Kunst, die für die Loge, die Lehrstätte, darin besteht, ihre Jünger mit Hilfe der freimaurerischen Symbole zur Humanität zu erziehen, die für den einzelnen Freimaurer aber eine Lebenskunst ist, die Kunst ernster Selbsterkenntnis, strenger Selbsterziehung und harmonischer Lebensführung, die Kunst, ,die eigene Seele, wie die Menschheit zur Wohnung des Ewigen zu erbauen‘.“

16 Im Anschluss an David Stevenson vgl. Monika Neugebauer-Wölk, Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung, in: Quatuor Coronati – Jahrbuch für Freimaurerforschung 40, Bayreuth 2003, 9-32, hier 9.

17 Dieses und das nachfolgende Zitat sind Texten entnommen, die auf einem freimaurerischen Postkartenset abgedruckt sind, das im Deutschen Freimaurermuseum in Bayreuth käuflich erworben werden kann.

18 Hans-Hermann Höhmann, Freimaurerei – überholt oder aktuell? Ein Versuch, Freimaurerei in der Öffentlichkeit adäquat und plausibel darzustellen. Vortrag vor Mitgliedern und Gästen der Loge Vera Sacrum in Köln, (Mskrpt. undatiert), 3. Im Zentrum steht nach Hans-Hermann Höhmann der Versuch, „den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen in seiner dreifachen Eigenschaft als einer sozialen, einer moralischen und einer emotionalen Person, die in jeder dieser Eigenschaften ganz spezifische Bedürfnisse hat“. Die Freimaurerei versucht nach Höhmann diesem Anliegen auf dreierlei Weise zu entsprechen: Sie zielt demnach erstens auf eine Gemeinschaft brüderlich verbundener Menschen. Sie begreift sich zum zweiten als ethisch-moralischer Bund, der sich bleibend gültigen Werten und Überzeugungen verpflichtet weiß. Zum dritten will der Bund der Freimaurer als symbolischer Werkbund sein überliefertes Brauchtum, seine Symbole und Rituale „zur gefühlsmäßigen, erlebnishaften Vertiefung seiner Überzeugungen“ nutzen.

19 Vgl. hierzu meine Studie Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZW-Texte 182, Berlin 32007.

20 W. Kirk MacNulty, Die Freimaurer. Das verborgene Wissen, München 2006, 9.

21 Deutsche Übersetzung des Abschnittes „Von Gott und der Religion“ in den sog. Alten Pflichten; vgl. www.freimaurerei.de/index.php?id=8; 15.5.2007.

22 Ebd., 784.

23 Ebd., 702.

24 Peter Stiegnitz, Gott ohne Kirche. Religion und Freimaurerei. Eine Analyse, Wien / Klosterneuburg 2003, 124.

25 Reinhold Dosch, Deutsches Freimaurer Lexikon, Bonn 1999, 158.

26 Ordensregel des Freimaurerordens, zit. nach Horst Julich, Geschichte und Systematik der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland (Freimaurer-Orden), in: Quatuor Coronati – Jahrbuch für Freimaurerforschung 42, Bayreuth 2005, 271-281, hier 275.

27 Horst Julich, a.a.O., 275.

28 Hans-Hermann Höhmann, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben...“. Überlegungen zur Symbolwelt der Freimaurerei und zum Praxisbezug ihrer Rituale (unveröff. Mskrpt.), 5.

29 Dennis Pabst, Reiki und Freimaurerei, in: Reiki-Magazin 1/2007, 18-20, hier 18.

30 Im Internet: www.oase-essen.info.ms.

31 Martin Barnutz (seines Zeichens Mitglied des Schwedischen Freimaurerordens), Vorwort, in: Christopher Hodapp, Freimaurer für Dummies, Weinheim 2006, 19.

32 Zu den Hintergründen s. Reinhold Sebott, Art. Freimaurer, in: Harald Baer / Hans Gasper / Joachim Müller / Johannes Sinabell (Hg.), Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus, Freiburg i.Br. 2005, 406-410; aus freimaurerischer Sicht vgl. Rolf Appel, Katholische Kirche und Freimaurerei in Deutschland im 18., 19. und 20. Jahrhundert, in: TAU II/2006, 49-61.

33 Vgl. etwa die Leserbriefdebatte zur Freimaurer-Thematik in idea Spektrum 3/2007, 11, und die späteren Leserbriefe zu „Ein ‚Geheimbund’ im Pro und Kontra“.

34 Gespräch zwischen Freimaurern und Evangelischer Kirche, zit. nach Pöhlmann, Verschwiegene Männer, a.a.O.,