„Man lasse die Geister aufeinanderplatzen und -treffen“

Diese Aussage Martin Luthers atmet den Geist reformatorischer Freiheit. Sie setzt voraus, dass unterschiedliche Glaubensauffassungen nicht mit weltlicher Gewalt zum Verschwinden gebracht werden können. Sie sind zu dulden, zu respektieren. „Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie können und gegen wen sie wollen. Denn … es müssen Spaltungen sein.“ Auch das, was aus der Perspektive eines normativen christlichen Glaubensverständnisses falsch und abweichend ist, kann Raum haben und sollte nicht gewaltsam unterdrückt werden. So schrieb es Luther 1524 an die Fürsten zu Sachsen und fügte hinzu: „Wir, die wir das Wort Gottes führen, sollen nicht mit der Faust streiten … Predigen und leiden ist unser Amt, nicht aber mit Fäusten schlagen.“ Ähnlich pointiert hatte er es zuvor in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ (1523) formuliert: „Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren. Es gehört ein anderer Griff dazu, und es ist hier ein anderer Handel und Streit als mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten; wenns das nicht ausrichtet, so wird’s auch wohl von weltlicher Gewalt unausgerichtet bleiben, ob sie gleich die Welt mit Blut tränkt. Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen erschlagen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken.“

Solche Sätze enthalten wichtige Impulse. Sie verlassen die mittelalterliche Vorstellung von der Ketzerei als Seelenmord und Sakrileg. Die reformatorische Unterscheidung zwischen den beiden Regierweisen Gottes, dem weltlichen und dem geistlichen Regiment, schafft Freiheitsräume, und zwar gleichermaßen für die politische und die religiöse Sphäre. Weltanschauliche und religiöse Überzeugungen können und dürfen nicht politisch verordnet werden. Das Evangelium, die Botschaft von der freien Gnade Gottes, kann nur ohne menschliche Gewalt, allein durch das Wort des Evangeliums (sine vi humana, sed verbo) vermittelt werden. Insofern kann Religions- und Weltanschauungsvielfalt als Folge der Christentumsgeschichte angesehen werden.

Luthers eigene Perspektiven wurden freilich dadurch zurückgenommen, dass er zunehmend Irrlehre als politisch gefährlich einstufte und ein obrigkeitliches Eingreifen als gerechtfertigt ansah. Nüchtern muss festgestellt werden: Luther wie auch die anderen Reformatoren waren nicht Befürworter von Religionsfreiheit im modernen Sinn. Erst in einem langen und schmerzhaften Lernprozess haben die christlichen Kirchen Toleranz gelernt. Von der Akzeptanz unterschiedlicher Bekenntnisse auf einem gemeinsamen Territorium waren die reformatorischen Bewegungen noch entfernt.

Deutlich wird aus den Worten Luthers zum Umgang mit falscher Lehre freilich auch: Wo immer die Gewissheit des christlichen Glaubens zur Sprache kommt, wird sie hinterfragt, angezweifelt und abgelehnt. Von Anfang an wurden die Anliegen des christlichen Glaubens im Streit und in der Auseinandersetzung bekundet. Die christlichen Kirchen verbinden heute ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder weltanschaulicher Orientierungen und treten für Religionsfreiheit und eine überzeugte Toleranz ein, die allerdings Unterscheidung und, wenn nötig, auch Abgrenzung einschließt. Die Pluralität von unterschiedlichen Weltanschauungen und Religionen ist in offenen Gesellschaften unaufhebbar. Aus evangelischer Perspektive ist erst jüngst darauf hingewiesen worden, dass religiöse Vielfalt nicht nur als Kontext des christlichen Zeugnisses zu akzeptieren, sondern als begrüßenswerte Folge von Religionsfreiheit anzusehen ist. Eine auftragsbewusste und missionarische Kirche weiß darum, dass ihre Botschaft auf keine selbstverständliche Zustimmung stößt. Sie lässt sich auf das Gespräch mit widerstreitenden Weltdeutungen ein. Eine öffentliche Theologie geschieht im freien Austausch mit anderen, dem christlichen Weltverständnis widerstreitenden Deutungen und nicht im Elfenbeinturm wissenschaftlicher Kommunikation. Sie hat als konfessionsgebundene Theologie nicht nur die Aufgabe, über den christlichen Glauben, sondern auch für ihn zu sprechen.

Ein Plädoyer für Freiheit in Religionsfragen begünstigt weltanschauliche Vielfalt und unterstreicht die Berechtigung und Unhintergehbarkeit religiöser Pluralität. Dabei ist nicht nur von religiösen Traditionen zu reden, sondern auch von Weltanschauungen. Denn zur Religionsfreiheit gehört selbstverständlich auch die Option für nichtreligiöse, zum Beispiel atheistische Weltanschauungen bzw. Weltdeutungen, deren Resonanz in europäischen Gesellschaften offensichtlich ist. Neben die zunehmende Präsenz anderer Religionen, vor allem des Islam, tritt die wachsende Anwesenheit nichtreligiöser Weltdeutungen, die sich in einzelnen Weltanschauungsgemeinschaften konkretisieren kann, die zahlenmäßig jedoch sehr begrenzt bleiben.

In unterschiedlichen christlichen, interreligiösen und nichtreligiösen Gesprächssituationen und Auseinandersetzungen muss die christliche Orientierungsperspektive heute bewährt werden. Der religiöse und politische Extremismus ist dabei zu einem wichtigen Thema geworden. Dem andauernden Angriff des islamistisch begründeten Terrors gegen grundlegende Werte demokratischer Staaten ist vor allem politisch und strafrechtlich zu begegnen, aber nicht nur. Es bedarf auch der geistigen Auseinandersetzung mit islamistischen Bewegungen. Eine deutliche Kritik von Gewalttheologien und gewaltaffinen Deutungen heiliger Texte ist nötig, und zwar von außen und von innen. Islamischen Theologen, die sich von Gewalt legitimierenden Korandeutungen abgrenzen und für eine selbstkritische und historische Perspektive plädieren, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu.

In pluralistischen Gesellschaften darf es gegenüber menschenfeindlichen Ideologien keine Toleranz geben, unabhängig davon, ob sie aus linksextremen, rechtsextremen oder rechtspopulistischen Perspektiven vorgetragen werden. Eine Ausgrenzung und Herabsetzung des kulturell und religiös Anderen darf nicht ohne pointierten Widerspruch bleiben. Mit dem Bekenntnis zum christlichen Glauben sind Rassismus und Antisemitismus unvereinbar. Die christlichen Kirchen setzen sich für eine Kultur der Achtsamkeit ein und sind darum bemüht, einen Beitrag zum Abbau von Feindbildern und Vorurteilen und für ein respektvolles Zusammenleben zu leisten. Zur Freiheit der Religionsausübung gehört auch die Freiheit zur Religionskritik. Die reformatorischen Bewegungen haben mit dazu beigetragen, problematische Formen von Religiosität durch die Betonung der Freiheit eines Christenmenschen zu überwinden. Biblisch inspirierter Gottesglaube deckt die Zweideutigkeit von Religion und Religiosität auf, unterscheidet die Geister und betont die Unerzwingbarkeit der göttlichen Gnade.


Reinhard Hempelmann