Horst Groschopp/Eckhard Müller (Hg.)

Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988 - 1990)

Horst Groschopp/Eckhard Müller (Hg.), Letzter Versuch einer Offensive. Der Verband der Freidenker der DDR (1988 – 1990). Ein dokumentarisches Lesebuch, Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, Bd. 8, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2013, 265 Seiten, 15 Abb., 22,00 Euro.

Die Gründung eines „Verbandes der Freidenker“ (VdF) in der DDR Ende 1988/Anfang 1989 gehört zu den vielfach belächelten Versuchen der DDR-Führung, die unübersehbare Stagnation im Lande mit zweifelhaften Mitteln zu überwinden. In der Tat muss man diese Bemühungen aus heutiger Perspektive im Kontext des Endes der DDR sehen. Denn noch bevor der Verein seine Arbeit richtig aufgenommen hatte, zerbrach die DDR an ihren inneren Widersprüchen – und am Mut engagierter Bürger.

Als schließlich am 12. März 1990 am Zentralen Runden Tisch in Berlin ein Dokument verlesen wurde, das die Gründung der DDR-Freidenker als eine Initiative des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) entlarvte, schien das Thema vollends erledigt. Bis heute, so deuten die Herausgeber an, hat sich die Freidenkerbewegung von diesem pauschalen Vorwurf nicht erholen können (53f).

Aber, so möchte man fragen: Ist der Hinweis auf die Mitwirkung des MfS denn unberechtigt? So weit gehen die Herausgeber nicht. Sie reklamieren jedoch, dass in der DDR gewissermaßen nichts geschehen ist, ohne dass das MfS irgendwie beteiligt war (54). Auch kirchliche bzw. oppositionelle Kreise erlebten mitunter massive Infiltration. Selbst an der Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR war das MfS beteiligt. Doch was ist damit über die DDR-SPD gesagt?

Die Herausgeber bezweifeln, dass mit dem Hinweis auf die Interessen des MfS das Thema erschöpft wäre. Daher bemühen sich Horst Groschopp und Eckhard Müller um eine differenzierte Analyse. Sie wissen um den Einfluss des MfS, möchten die Gründung des VdF jedoch nicht auf diesen Aspekt reduziert sehen. Das gilt umso mehr, als einer der beiden Herausgeber damals an der Gründung der DDR-Freidenker beteiligt war.

Die vorliegende Publikation trägt erstmals mehr als 70 Dokumente aus dem Umfeld der Vereinsgründung zusammen und versucht eine Einordnung. Der erstaunliche Titel rekurriert dabei auf eine handschriftliche Bemerkung von Egon Krenz über eine Sitzung des Politbüros der SED vom 15. November 1988. Hier schrieb er, dass Erich Honecker mit Blick auf die beabsichtigte Vereinsgründung von einer „ideologischen Offensive“ gesprochen habe (9). Die Herausgeber erläutern, dass die SED „einem alten Schablonendenken folgend“ eine Organisation schaffen wollte, die „Reformbemühungen kanalisieren und sowohl eine ‚Kampfgruppe‘ gegen Reformkräfte als auch zugleich ein Bekehrungsverein für Irrende“ sein sollte (10).

Interessant ist Groschopps Einführung zur Geschichte der Freidenker in der SBZ bzw. der DDR (11-22). Hier erläutert er, dass es schon frühzeitig Absprachen gegeben habe, wonach die SED sich gegenüber den Kirchen und den Freidenkern „neutral“ verhalte. Deshalb habe man entsprechende Gründungsanträge abgelehnt (15). Die Herausgeber nennen dies ein „indirektes Freidenkerverbot“; ein direktes, wie immer wieder unterstellt, gab es nicht (15).

Eine diskussionswürdige Überlegung bietet Groschopp auf Seite 22. Er schreibt, dass der Osten Deutschlands für den Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) „weitgehend verloren“ sei, „wozu ein einseitiges, fast ausschließlich politisch begründetes Geschichtsbild von der Freidenkerei in der DDR wesentlich beiträgt“. Damit will er sagen, dass der HVD im Osten einen schweren Stand hat, weil der Stasi-Vorwurf nach wie vor im Raum steht. Ich bin da skeptisch. Vermutlich spielen der „Beliebigkeitsatheismus“ und die skeptische Haltung vieler Ostdeutscher gegenüber allen Weltanschauungsverbänden eine ebenso große Rolle.

Den Kern des Buches bildet die fast 200 Seiten umfassende Dokumentation. Die Quellen sind chronologisch geordnet und überwiegend ungekürzt abgedruckt (61-260). Sie ermöglichen einen guten Einblick in die Entstehungsgeschichte des VdF. Leider wurden keine Quellen aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BSTU) aufgenommen. Nach Auskunft der Herausgeber hat die Behörde bisher keine Unterlagen auffinden können; der Rezensent hat jedoch Ende der 1990er Jahre einige Unterlagen zur Gründung des VdF in der BSTU eingesehen. Hier gibt es also weiteren Klärungsbedarf.

Wie häufig bei solchen Quellensammlungen finden sich zahlreiche Wiederholungen. Jedoch haben einige der präsentierten Texte auch einen gewissen Unterhaltungswert. So erfährt man, dass das SED-Politbüro am 6. Dezember 1988 ausführlich über den VdF gesprochen hat. In der Sitzung wurden 80 (!) Personalstellen für den Verein genehmigt, eine jährliche Zuweisung in Höhe von 2,1 Millionen DDR-Mark beschlossen sowie, dass der Zentralvorstand für seine Arbeit zwei PKW erhält (83f).

Neben solchen, eher kuriosen Aspekten der DDR-Freidenkerei öffnet die vorliegende Publikation den Blick auf engagierte Menschen, die jenseits der Kirchen und jenseits des Parteiapparates Gestaltungsspielräume gesucht haben. Dieser Aspekt der DDR-Geschichte wird bisher viel zu wenig beachtet und sollte in Zukunft schärfer gesehen werden. Die Angst des DDR-Sicherheitsapparates vor „Unterwanderung und Missbrauch“ des VdF (94) dürfte nicht unbegründet gewesen sein. In einem internen Papier vom Februar 1989, das dem Rezensenten vorliegt, ist gar die Rede davon, dass für viele DDR-Bürger die SED „zwar ihre politische, aber nicht die geistige Heimat“ war. Daher erwarteten viele vom VdF, „dass man mitreden und mitentscheiden dürfe“.

Die Publikation kann und möchte keine abschließende Wertung liefern (10). Ausdrücklich verweisen die Autoren darauf, dass weiteres Archivmaterial gesichtet werden muss. Hier erstaunt den Leser die Bemerkung, dass der Dortmunder „Verband der Freidenker“ die Frage der beiden Herausgeber nach Archivmaterial nicht angemessen beantwortet habe (56). Man fragt sich, warum die Dortmunder Freidenker kein Interesse an einer Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Freidenkerei durch Autoren haben, die ihnen relativ nahestehen. Gibt es etwas zu verbergen? Haben die westdeutschen Freidenker 1988 Aufbauhilfe in Ostberlin geleistet? Wenn ja – welche?

Wie ungewöhnlich die Aktenlage ist, machte Groschopp in einem Interview deutlich. Er sprach davon, dass „der VdF die einzige Organisation der DDR [ist], deren Aktenbestände nicht ins Bundesarchiv eingingen“ (MIZ 4/2013, 32). Die Hinterziehung von Unterlagen und Akten zur Gründung der DDR-Freidenker wäre übrigens ein Verstoß gegen das geltende Bundesarchivgesetz.

Die Publikation wendet sich an Spezialisten. Eine weite Verbreitung dürfte ihr kaum beschieden sein; aber dennoch bietet sie mehr als einen Rückblick auf eine Marginalie von 1988/1989. Denn wer zwischen den Zeilen liest, der merkt, dass ein bis heute aktueller Dissens eine große Rolle spielt: Verstehen sich Freidenker als Vereine zur Beförderung des Kirchenaustritts, oder bieten sie vielmehr Sozialarbeit für Kirchenferne an? Folgt man der offiziellen Sprachregelung, so wollten sich die DDR-Freidenker um Sozialarbeit bemühen. Im „wirklichen Leben“ fanden jedoch immer wieder Vokabeln eines antikirchlichen Kampfes Einzug. Da ist er wieder, der alte/neue Konflikt, der die Freidenkerbewegung bis heute spaltet.


Andreas Fincke, Erfurt