Claudia Knepper

Leben im Abseits

Berichte aus der Colonia Dignidad / Villa Baviera

Die diesjährige EZW-Fortbildung für die Beratungsarbeit bei Weltanschauungsfragen (26.-28.2.2010, vgl. MD 1/2010, 29) beschäftigte sich mit der ambivalenten Wirkung von Sekten am Beispiel der „Colonia Dignidad“, heute „Villa Baviera“, in Chile. Als Referenten führten die beiden Psychologen Susanne Bauer und Henning Freund durch die Tagung. Susanne Bauer ist Gastprofessorin an der Universität der Künste in Berlin, wo sie den Master- und Diplomstudiengang Musiktherapie leitet. Von 1991 bis 2010 lebte sie in Santiago de Chile. Von 2005 bis 2008 betreute die Psychotherapeutin die Bewohner „Villa Bavieras“ intensiv im Rahmen eines psychotherapeutischen Programms. Henning Freund ist Psychologischer Leiter der Tagesklinik der Klinik Hohe Mark in Frankfurt am Main und Dozent für kulturvergleichende Psychologie an der Universität Heidelberg. Der promovierte Ethnologe hat sich aus wissenschaftlichem Interesse mit der Colonia Dignidad beschäftigt. Er hat sich zweimal in „Villa Baviera“ aufgehalten – zuletzt im Januar 2010 – und mehrere Interviews geführt, sowohl mit dort verbliebenen als auch mit ehemaligen Bewohnern, die nach Deutschland zurückgekehrt sind.

Lebensbedingungen in der Kolonie

Die Geschichte der Colonia Dignidad wurde schon an anderer Stelle vorgestellt (siehe MD 5/2008, 180-185). Hier sollen nur noch einmal die Lebensbedingungen in der Kolonie kurz angerissen werden: 1961 war der Anführer der Gemeinschaft ehemaliger Baptisten, Paul Schäfer (geb. 1921), mit ca. 200 Anhängern aus Deutschland nach Chile ausgereist und hatte dort ein abseits gelegenes, 30 000 Hektar großes Stück Land erworben. Dort gelang es ihm, hinter Mauern, Stacheldraht und Sicherheitsanlagen in kurzer Zeit ein totalitäres System der psychischen und physischen Gewalt zu errichten. Die Strukturen sicherten seine uneingeschränkte Machtausübung und das Ausleben seiner homosexuellen Pädophilie. Es entstand eine Gesellschaft, in der auf perverse Weise menschliche Werte umgekehrt wurden. Die soziale Institution der Familie wurde in der Praxis und als Vorstellung ausgelöscht. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Mädchen und Jungen wuchsen in Altersgruppen ohne individuelle Zuwendung auf. Männer und Frauen lebten ebenfalls getrennt in Gruppen. Es gab keinerlei Privatsphäre. Private Beziehungen und Gespräche untereinander wurden unterbunden, es gab keinen privaten Besitz, keine Rückzugsräume, und auch das Innenleben wurde durch regelmäßiges Beichten öffentlich gemacht. Die Menschen existierten nur in der Gemeinschaft und zugleich zutiefst isoliert voneinander. Die Jungen wurden systematisch durch den Sektenführer missbraucht. Jegliche weitere Sexualität der Gruppenmitglieder wurde ebenso systematisch unterdrückt. Bis 1980 durften nur wenige privilegierte Familien Kinder zeugen.

Die Mitglieder wurden wegen kleinster Regelverstöße hart bestraft. Es gab ein System der gegenseitigen Überwachung und Denunziation. Zu den Strafmaßnahmen gehörten schon bei Kindern Elektroschocks, das Verabreichen von Psychopharmaka auch über längere Zeit und Isolation von der Gemeinschaft. Systematisch wurden Kinder und Erwachsene öffentlich abgewertet. Positive Rückmeldung (Lob, Lächeln, Körpernähe) gab es nicht. Ohne je entlohnt zu werden, arbeiteten die Bewohner der Kolonie 16 Stunden am Tag. Sie litten unter mangelhafter Ernährung und Schlafentzug. Systemkonformes Verhalten wurde selektiv belohnt. Von der Außenwelt, die als schlecht diskreditiert wurde, grenzte sich die Gemeinschaft scharf ab. Nur wenigen gelang die Flucht nach Deutschland. Von innen sicherte ein Führungskreis von Männern um Schäfer den Machterhalt. Von außen sorgte das Regime von Pinochet seit 1973 für die Autonomie und Unantastbarkeit der Kolonie. Der Geheimdienst folterte und tötete auf dem Gelände Oppositionelle. Bei der armen chilenischen Bevölkerung im Umfeld genoss die Kolonie in Unwissenheit über diese Verbrechen ein hohes Ansehen. Im kolonieeigenen Krankenhaus wurde eine kostenlose medizinische Betreuung für die Einheimischen angeboten.

Nach dem Ende der Ära Schäfer

Als der Ruf der Colonia Dignidad durch Berichte von Flüchtlingen aus der Gemeinschaft zu leiden begann, erfolgte 1988 die Umbenennung in „Villa Baviera“. Nach dem Ende des Pinochet-Regimes 1990 wurde der Gemeinschaft die Gemeinnützigkeit aberkannt. 1996 erstatteten chilenische Eltern Anzeige gegen Schäfer wegen Missbrauchs ihrer Kinder. 1997 floh Schäfer nach Argentinien, wo er erst 2005 verhaftet und verurteilt wurde. Die etwa 300 Mitglieder der Gemeinschaft blieben orientierungslos zurück. An eine Auflösung war nicht zu denken, aber man schaffte es auch kaum, neue tragfähige Strukturen aufzubauen. 1998 gab es eine erste Aussteigerwelle. Im Jahr 2000 setzte eine Heiratswelle ein. In den letzten zwölf Jahren haben sich so 35 Familien mit ca. 70 Kindern gebildet.

Das Vakuum, das Schäfer hinterlassen hatte, zog mehrere andere missionarische Führerfiguren an. Unter ihnen war 2004 Ewald Frank von der Freien Volksmission Krefeld, der eine Massentaufe veranstaltete. Er durfte nicht wieder einreisen, steht aber über Videobotschaften mit der Gemeinschaft in Kontakt. In der Folge siedelten sich mehrere Aussteiger bei der Freien Volksmission in Krefeld an.

2005 wurden Mitglieder des engeren Führungskreises um Schäfer angeklagt. Zugleich begann auf Veranlassung des Auswärtigen Amtes ein psychotherapeutisches Betreuungsprogramm für die Bewohner der „Villa Baviera“. Heute leben noch etwa 135 überwiegend ältere Menschen und einige Familien dort in einer unsicheren wirtschaftlichen Situation. Sie versuchen über Tourismus eine neue Perspektive für ihre Gemeinschaft zu entwickeln. Zum Beispiel richten sie Hochzeitsfeste für Chilenen aus und laden zum Oktoberfest ins Bierzelt ein.

2005 fand das Psychotherapeutenteam eine kleine, abgeschlossene Welt vor, in der das Deutschland der 1950er Jahre konserviert schien. Die erwachsenen Bewohner waren in ihrer Entwicklung auf einer präadoleszenten Stufe stehen geblieben und zeigten infantile Verhaltensweisen. Ihre Abhängigkeit zeigte sich unter anderem in der kritiklosen Bewunderung von Personen, so Susanne Bauer. Ihnen fehlte die Selbständigkeit im Denken, Reden und Handeln. Sie konnten sich keine differenzierte eigene Meinung bilden und keine Dialoge führen. Beziehungen zu anderen waren stattdessen von Beschimpfen, Kritisieren, Nachreden, Anklagen und Schuldzuweisungen geprägt. Ihre Emotionen beschreibt Susanne Bauer als „vereist“. Leitaffekt war die Angst. „Vereist“ wirkten auch die Körper auf Bauer und ihre Kollegen. Die Menschen bewegten sich „roboterhaft“, sie sprachen mit eintöniger Stimme und zeigten kaum Mimik. Ihr empathisches Empfinden war eingeschränkt. Sie waren abgestumpft, unempfindsam und nicht zum Mitleid fähig. Dies zeigte sich auch darin, dass sie sich nicht verliebten und ihre Sexualität eingeschränkt war. Im Widerspruch dazu erlebten die Psychologen die „unzensierte, teils ungehobelte konkrete Sprache“, mit der Intimes ausgesprochen wurde. Zur Überraschung der Therapeuten begriffen sich diejenigen, die sich als Opfer wahrnahmen, nicht nur als Missbrauchsopfer, sondern sie nahmen es Schäfer auch übel, sie im Stich gelassen zu haben.

Da sich Einzeltherapien als schwierig erwiesen, gingen die Psychotherapeuten dazu über, die Gruppe insgesamt als Klienten zu betrachten. In „Fokusgruppen“ (z. B. „Opfergruppe“, Eltern, kinderlose Paare, Adoptionsgruppe, deutsch-chilenische Kindergartengruppe, Alte, Seelsorgegruppe) mit Informationsreihen z. B. über Familie und Lebenszyklus fanden die Therapeuten einen Weg, mit der Gemeinschaft an einzelnen Problemen und Themen zu arbeiten. Henning Freund untersucht mittels Interviews die „Identitätsbildung nach der Sozialisation in einer totalitären Sekte“. „Wir sind ganz andere Menschen“ sei ein typischer Satz aus den Interviews, so Freund. Das Fremd- oder Anderssein ist ein wesentlicher Aspekt der kollektiven Identität der Bewohner der „Villa Baviera“. In den ersten 40 Jahren lebten sie in dem Bewusstsein, als bessere Menschen die „Brautgemeinde Christi“ zu sein. Seit 1997 hätten sich für sie alle Dinge ins Gegenteil verkehrt. Die Aufdeckung der Verbrechen und die negative Außensicht ließ die positiv gefärbte Identität in eine negativ gefärbte umschlagen.

Die Religion in der Gemeinschaft kam während der Tagung relativ wenig zur Sprache, auch wenn deutlich wurde, dass sie für die Bewohner eine große Rolle gespielt hat. So hat bisher keiner der Aussteiger mit seinem Glauben an Gott gebrochen. Manche sind Schäfer bis heute für ihren Glauben dankbar. Eine offene Frage blieb nach der Tagung auch, welche Rolle die Religion für Schäfer selbst gespielt hat. Es scheint unwahrscheinlich, dass er sie nur kühl berechnend zur Manipulation und zum Missbrauch einsetzte.

Wie geht es weiter?

Während der Tagung kam die Frage nach der Zukunft von „Villa Baviera“ auf. Der Ethnologe Henning Freund sieht in der Gemeinschaft auch ein kulturelles Phänomen. Wie unter dem Brennglas lassen sich in der überschaubaren Gruppe exemplarisch menschliche Entwicklung und Verhaltensweisen unter totalitären Bedingungen studieren. Deshalb ist auch mit einem künftigen wissenschaftlichen Interesse an der Gemeinschaft zu rechnen bzw. ein solches sogar wünschenswert.

Im Jahr 2009 wurde für das ZDF ein Film über das heutige „Villa Baviera“ produziert. „Deutsche Seelen“ bietet eine glaubwürdige Begegnung mit den Bewohnern; allerdings erschließt sich manches im Film ohne Vorwissen nur schwer (www.deutsche-seelen.de).

Deutlich wurde auf der Tagung in den Berichten von Freund und Bauer, die sich durch eine große Achtung gegenüber den Bewohnern von „Villa Baviera“ auszeichneten, eine allgegenwärtige Ambivalenz in allen Teilaspekten des Lebens. Einfache Täter/Opfer-Zuschreibungen sind unmöglich. Eng verstrickt leben heute ehemalige Peiniger und Gepeinigte zusammen. Das umzäunte Gelände nennen die Bewohner liebevoll „Fundo“. Der „Fundo“ war 40 Jahre lang ihre Welt. Es war eine schreckliche Welt, aber es war ihre Welt. Trotz allen Unrechts und Leids können die meisten Bewohner nicht einfach einen Schlussstrich ziehen. Sie brauchen den Ort und die Gemeinschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und zum Weiterleben. Dieser Prozess braucht Zeit. Bewunderung zeigten die beiden referierenden Psychologen für die Persönlichkeitsentwicklung, die die Bewohner nun nachholen.


Claudia Knepper