Michael Utsch

Krebs durch seelische Konflikte?

Die Germanische Neue Medizin von Dr. Hamer

Eine „Neue Medizin“ wurde 1981 vom damaligen Internisten und Krankenhausarzt Dr. med. mag. theol. Ryke Geerd Hamer begründet. Ihre zentrale Aussage ist, dass jeder Krebserkrankung eine seelische Ursache zugrunde liege. Die Erkrankung könne ohne den Einsatz der gängigen Therapien z.B. die operative Entfernung von Tumoren, Chemo- und Strahlentherapie heilen, wenn der „Konflikt“ gelöst werde, der die Störung verursacht hat. Deswegen wird die körperliche Behandlung vom Grundsatz her abgelehnt. Nur Tumoren, die aufgrund ihrer Größe körperliche Funktionen beeinträchtigen, sollen nach Ansicht der Anhänger der „Neuen Medizin“ operativ verkleinert bzw. bestrahlt werden.

Diese Ablehnung einer heute üblichen, nach gegenwärtigem Kenntnisstand größtmögliche Heilungschancen versprechenden Krebstherapie macht die „Neue Medizin“ aus Sicht der überwiegenden Mehrzahl der Ärzte zu einer lebensgefährlichen Lehre für jene Patienten, die der „Neuen Medizin“ bzw. deren Vertretern vertrauen. Die effektiven Heilungschancen bei Krebs sind nach heutigem Wissensstand umso größer, je früher ein Tumor behandelt wird, da auch kleine Tumoren Metastasen bilden können.

Weil der Begriff „Neue Medizin“ vielseitig verwandt wird und deshalb markenrechtlich nicht geschützt werden kann, hat Hamer seine Methode inzwischen in „Germanische Neue Medizin“ (GNM) umbenannt und sich diesen Begriff im September 2003 schützen lassen. Der Name offenbart auch etwas von Hamers Feindbild. Die Germanische Neue Medizin bietet nämlich ein in sich geschlossenes Weltbild. Wer Hamer glaubt, nimmt alles in Kauf, auch Antisemitismus. Angesichts vielfacher Kritik an seinem fragwürdigen Konzept behauptet Hamer seit einiger Zeit, dass es eine Verschwörung gegen ihn gebe, und zwar von jüdischen Geheimgesellschaften. Die Juden verhinderten die Anwendung seiner Neuen Medizin und wollten den Massenmord an Nicht-Juden. An seine Anhänger schrieb er: „Wir Nichtjuden werden gezwungen, weiterhin die jüdische Schulmedizin zu praktizieren, mit Chemo und Morphium...“ Trotz dieser entlarvenden Aussagen scheint sich eine feste Anhängerschaft um Hamer gebildet zu haben, die seine Mission unterstützt.

Kriminal- und Justizgeschichte einer Alternativmedizin

1986 wurde Dr. Hamer vom Koblenzer Oberverwaltungsgericht die ärztliche Approbation aufgrund unterlassener ärztlicher Hilfeleistung entzogen, und er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. In den Jahren 1995 und 1996 war Hamer in die Schlagzeilen geraten, als unter seiner Mitwirkung die Eltern eines Mädchens namens Olivia in Österreich die schulmedizinische Behandlung eines sehr großen Wilms-Tumors verweigerten. Nachdem sich der Gesundheitszustand des Mädchens dramatisch verschlechtert und die Eltern das Kind zugleich dem Zugriff der Behörden entzogen hatten, wurde Olivia nach einer europaweiten Interpol-Fahndung und dem vorübergehenden Entzug des Sorgerechtes der Eltern schulmedizinisch behandelt. Sie gilt inzwischen als geheilt. Der vierfache Kindsvater, Helmut Pilhar, hat sich von seiner Position jedoch nie distanziert und tritt weiterhin vehement für die „Neue Medizin“ ein. Die schulmedizinische Nachbetreuung ihrer Tochter mussten die Eltern zulassen, weil ihnen das Sorgerecht in Bezug auf die „Heilbehandlung der Krebserkrankung“ von Olivia erst Anfang 2002 rückübertragen wurde.

Im Mai 1997 wurde Hamer in Köln wegen „unerlaubter Ausübung des Heilberufs“ verhaftet und anschließend zu 19 Monaten Haft verurteilt. Davon verbüßte er zwölf Monate in der Haftanstalt Köln. In der Folgezeit ließ sich Hamer in Spanien nieder. Dort erhielt er eine Erlaubnis, als Naturarzt zu praktizieren.

Im März 2000 wurde er in Frankreich in Abwesenheit wegen Betrugs und Beihilfe zur illegalen Ausübung des Arztberufes zu neun Monaten Gefängnis und neun Monaten Bewährung verurteilt. In Österreich wird Hamer des Totschlags in mindestens 50 Fällen in Zusammenhang mit der „Neuen Medizin“ verdächtigt. Dort besteht auch seit 1995 ein bis 2015 gültiger Haftbefehl. Im Oktober 2004 wurde Hamer nun in Spanien verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert, wo er eine Freiheitsstrafe wegen Betrugs und Beihilfe zur illegalen Arzttätigkeit abbüßen muss. Am 16. Februar 2006 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen. Zusammen mit seinen Anhängern will er nun weiter aktiv gegen die Schulmedizin vorgehen und seine alternativen Behandlungsmethoden verbreiten. In Deutschland liegt ein erneuter Haftbefehl gegen Hamer vor, dem er sich bisher durch Flucht entzogen hat.

Inhalt der Hamerschen Lehren

Ausgangspunkt für die Entwicklung der „Neuen Medizin“ war nach Hamers Angabe der Tod seines Sohnes Dirk. Dieser wurde 1978 „nichts ahnend in einer Yacht schlafend“ vom „wild gewordenen“ Prinzen Victor Emanuel von Savoyen versehentlich erschossen. Einige Zeit danach entwickelte sich bei Hamer ein Hodenkrebs, den er später mit dem Tod seines Sohnes in Verbindung brachte. Angeblich sei dieser „Konfliktschock“ Auslöser des Hodenkrebses gewesen, was Hamer zur Prägung eines weiteren Begriffs – des „Dirk-Hamer-Syndroms“ – bewegte. In den folgenden Monaten entwickelte Hamer, inspiriert durch Träume von seinem Sohn Dirk, eine Theorie über die Entstehung von Krebserkrankungen, die er als „Eiserne Regel des Krebses“ zusammenfasste und als – abgelehnte – Habilitationsschrift bei der Medizinischen Fakultät Tübingen einreichte. Kernbestandteil dieser Theorie ist, dass der Auslöser jeder Krebserkrankung ein hochdramatisches Schockerlebnis ist, von Hamer DHS („Dirk-Hamer-Syndrom“) genannt – wie eben in seinem Falle der Verlust seines Sohnes. Dieses Schockerlebnis hinterlässt nach Hamers Theorie Spuren im Gehirn, die mittels einer CT-Untersuchung detektiert werden könnten. Nach einer konfliktaktiven Phase folgt nach der Theorie, falls eine Lösung des zugrundeliegenden „biologischen Konfliktes“ gelingt, die Heilungsphase. Gelingt keine Konfliktlösung, bleibt der Patient in einer „Dauerstressphase mit Verbrauch seiner Lebensenergien“. Die Nähe der Synergetiktherapie zu Hamers Gedanken ist hier offenkundig (vgl. MD 4/2006, 141ff).

Hamer verallgemeinerte dieses Prinzip auf andere Erkrankungen, ja auf die gesamte Medizin. Er formulierte fünf biologische Naturgesetze („1. Die Eiserne Regel des Krebses, 2. Das Gesetz der Zweiphasigkeit aller Erkrankungen, 3. Das ontogenetische System der Tumoren, 4. Das ontogenetisch bedingte System der Mikroben, 5. Das Gesetz vom Verständnis einer jeden sogenannten Krankheit“). Die „Neue Medizin“ betrachtet die Psyche, das Gehirn und das erkrankte Organ als Einheit. Dabei behauptet sie, dass zu jeder Krebserkrankung ein sogenannter „Hamerscher Herd“ im Gehirn gehöre. Dieser sei angeblich auf Computertomographie-Aufnahmen zu sehen. Allerdings kann außerhalb der „Neuen Medizin“ niemand die Existenz solcher Anomalien im Gehirn bestätigen. Außerdem zeigen neuere bevölkerungsbasierte Studien aus Dänemark eindeutig, dass es keine erhöhte Krebshäufigkeit bei Menschen mit Depressionen gibt und auch schwerwiegende psychische Stressfaktoren wie die ernsthafte Erkrankung eines Kindes zu keiner Erhöhung von Krebserkrankungen führen (British Journal of Cancer 2004, 90, 1364-1366; American Journal of Epidemiology 2002, 155:1088-1095).

Die eine „Neue Medizin“ stützenden Beweisführungen sind darüber hinaus kaum nachvollziehbar. Pauschale Verweise auf Wissenschaftlichkeit sollen ihre Ansichten untermauern. In den Argumentationsketten werden wichtige Details ausgelassen. Die Autorität der Befürworter wird durch das Benennen ihrer Titel hergestellt. In einigen Apologien der Verfechter klingen sogar antisemitische Züge im Sinne o. g. Verschwörungstheorien an.

Stellungnahme

Einer gutachterlichen Stellungnahme der „Deutschen Krebsgesellschaft“ ist nichts hinzuzufügen: „Bei der sog. ‚Germanischen Neuen Medizin‘ von Ryke Geerd Hamer handelt es sich um ein in der Biographie und Träumen von Herrn Hamer begründetes Theorem ohne jede wissenschaftliche oder empirische Begründung. Im Gegenteil, nach heutigem Erkenntnisstand ist die zugrundliegende Grundhypothese widerlegt. Es sind mehrere Todesfälle von Menschen, die seiner Theorie vertrauten, gut belegt, die unter schulmedizinischer Behandlung eine realistische Heilungschance besessen hätten. Deshalb ist die Germanische Neue Medizin mit allem Nachdruck als einerseits absurd, andererseits aber bewiesenermaßen gefährlich zurückzuweisen. Ihrer Verbreitung muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln juristisch und auf dem Wege der Aufklärung Einhalt geboten werden. Eine Plattform zur Selbstdarstellung darf ihm und seinen Anhängern nicht geboten werden.“


Michael Utsch


Weiterführende Internet-Links

Pro „Neue Medizin“

Homepage Neue Medizin: www.neue-medizin.de

Homepage des Vaters von Olivia, Ing. Helmut Pilhar: www.pilhar.com 

Auftragsgutachten zur Frage der Wissenschaftlichkeit der „Neuen Medizin“: http://www.medecinenouvelle.com/evenements/expert/20030818_Gutachten.pdf 

Kontra „Neue Medizin“

„Krebs heilen durch Nichtstun?“, SWR, 18. 11. 2002: www.pilhar.com

Bundesverband Sekten & Psychokulte: www.agpf.de/Hamer.htm 

Schweizer Krebsliga: www.swisscancer.ch/dt_fr/content/orange/pdf/skak/01_02_hamer_d.pdf 

Pressemeldung der Deutschen Krebsgesellschaft vom 5.7.2005: http://www.krebsgesellschaft.de/pressemeldung_liste_aktuell,9935.html