Andreas Fincke

Kirche und Konfessionslosigkeit in West- und Ostdeutschland

Im Sommer der Wiedervereinigung, also 1990, haben wir uns bisweilen gefragt, welches Erbe die Ostdeutschen in das geeinte Deutschland einbringen. Genannt wurden damals das Sandmännchen, der Berliner „Palast der Republik“, die fünf Nationalparks auf ostdeutschem Gebiet oder Sekt der Marke „Rotkäppchen“. Je nach Geschmack mag man das eine oder andere wertschätzen – was die Ostdeutschen jedoch als folgenreichstes Mitbringsel einbrachten, war die Konfessionslosigkeit.

Zwar gab es auch vor 1989 im ehemaligen Westteil Deutschlands eine benennbare Quote an Konfessionslosigkeit, sie lag 1987 bei etwa 15,5 %, aber mit der Wiedervereinigung wurde die Konfessionslosigkeit erstmals zu einem Massenphänomen. Heute ist bundesweit etwa jeder Dritte konfessionslos; in einigen ostdeutschen Städten liegt die Quote bei über 90 %.

Die Wiedervereinigung hat damit die religiöse Lage in Deutschland grundlegend verändert. Es ist jedoch nicht zuerst die hohe Konfessionslosenquote, welche unsere Kultur verändert – es ist die soziale Akzeptanz der Kirchen- und Religionsferne, die weitreichende Folgen hat. Immer häufiger ist, nicht nur im Osten, die Entscheidung für die Taufe eines Kindes im Freundeskreis begründungspflichtig und ruft eine kirchliche Trauung Erstaunen hervor. Folgerichtig konstatierte die EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung von 2014 erstmals für Gesamtdeutschland einen „Normalzustand Konfessionslosigkeit“1. Das wollen viele, zumal in kirchennahen Kreisen, nicht wahrhaben. Trotzig zitieren sie Karl Rahner und tönen: Die Konfessionslosen haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben.

Doch solche Konstrukte helfen nicht. Denn der „normale Konfessionslose“ lebt ohne Gott ein gutes Leben, hat einen moralischen Kompass und ist nicht ausländerfeindlicher als Kirchenmitglieder. Mehr noch: Der „normale Konfessionslose“ scheint rechten, populistischen Bewegungen distanzierter gegenüberzustehen, als ich das in vielen thüringischen Kirchengemeinden erlebe. Er hat nicht Gott vergessen – er braucht ihn nicht, kennt ihn nicht, sucht ihn nicht. Hierin sehe ich die eigentliche Dramatik und Herausforderung für die Kirchen, die – zumindest in Ostdeutschland – erstmals in ihrer Geschichte nicht mit anderen Religionen oder Weltdeutungen konkurrieren, sondern religiösem Analphabetismus begegnen. Das häufig bemühte Bild, Ostdeutsche seien „religiös unmusikalisch“ (Max Weber), trifft es recht genau. Es fehlt ihnen zumeist jeglicher Sinn fürs Religiöse. Doch wie will man einen Blinden den Unterschied zwischen Rot und Schwarz lehren?

Die Autorin Rita Kuczynski hat das wie folgt beschrieben: „Konfessionslose brauchen für ihre persönliche Sinnfindung keinen Gott, brauchen nichts Übersinnliches, nichts Transzendentes. Sie leben im Hier und Jetzt und sehen am Himmel nur Vögel, Flugzeuge und Wolken. Und: Ihnen fehlt nichts!“2 Charakteristisch für die Wahrnehmung von Konfessionslosigkeit als sozialen Normalfall ist auch die inzwischen vielfach zitierte Äußerung von Jugendlichen bei einer Befragung auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Auf die Frage, ob sie sich „eher christlich oder eher atheistisch“ verstehen, haben einige geantwortet: „Weder noch, normal halt.“3

Das „normal halt“ vom Leipziger Hauptbahnhof ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Es bestätigt nicht nur die Alltäglichkeit der Religionslosigkeit, sondern auch, dass atheistische Einstellungen zumindest in Ostdeutschland nicht wirklich mehrheitsfähig sind. Atheismus ist für die befragten Jugendlichen auch – nicht normal. Dieser auf den ersten Blick für die Kirchen erfreuliche Befund hat jedoch seine eigenen Untiefen. Man „reibt“ sich nicht an den Kirchen und ihren Glaubenspositionen. Warum sollte man sich atheistisch profilieren?

Konfessionslosigkeit West – Konfessionslosigkeit Ost

An dieser Stelle müssen wir zwischen der Konfessionslosigkeit West und Ost unterscheiden. Denn wir finden in Deutschland zwei Typen von Konfessionslosigkeit. In Ostdeutschland sind viele gewohnheitsmäßig konfessionslos; sie würden sagen, man sei „ganz normal“ nicht in der Kirche. So waren schon die Eltern und Großeltern nicht in der Kirche – man ist folglich nicht getauft und zieht die Taufe der eigenen Kinder gar nicht in Erwägung. Mitunter wird dieses Phänomen als „Atheismus in der dritten Generation“ bezeichnet. Das ist jedoch ungenau. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine atheistische Gesinnung, sondern um eine moderne Form religiöser Indifferenz. Es hat bei den Konfessionslosen in Ostdeutschland zumeist keinen bewussten Ablösungsprozess von einer Kirche gegeben.

In den alten Bundesländern ist die Lage anders. Wer sich hier von der Kirche trennt, tut dies größtenteils nach einem ausdrücklichen Entscheidungsprozess. Häufig spielen dabei negative Erfahrungen mit den Kirchen eine entscheidende Rolle. Die Mehrheit der Konfessionslosen West ist damit bewusst kirchen- und religionsfern. Etwa 90 % der Konfessionslosen – so liest man in der Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD von 2014 – haben sich in einem „Normalzustand Konfessionslosigkeit“ eingerichtet. Weiter heißt es: „Die eigene Konfessionslosigkeit wird als individuelle Entscheidung angesehen.“4 Das gilt in besonderer Weise für die eben erwähnten Konfessionslosen West.

Die Konfessionslosen Ost hingegen haben eine solche Entscheidung meist nicht getroffen. Ihre Haltung ist diffus. Wir wissen erstaunlich wenig über jene, die bereits seit mehreren Generationen konfessionslos sind. Der Pastoraltheologe Udo Schmälzle hat das wie folgt formuliert: „Während wir über die Mentalitäten … der ‚Konfessionslosen der ersten Generation‘, die alle noch getauft wurden, einiges wissen, verfügen wir über die Gruppe der ‚schon immer Konfessionslosen‘ kaum über Kenntnisse. Zu dieser Gruppe gehören … im Osten Menschen, die bereits über Generationen in diesen Zustand der Konfessionslosigkeit hereingeboren wurden. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe unterscheidet sich fundamental in den alten und neuen Bundesländern.“5

Bei der Betrachtung der Konfessionslosigkeit Ost wird unterschätzt, dass diese gerade nicht die um einige Jahre verlängerte Konfessionslosigkeit West in den Farben Ostdeutschlands ist. Der fundamentale Unterschied besteht darin, dass die Konfessionslosen West wenigstens noch wissen, warum sie mit Kirche, Religion und Gott nichts zu tun haben wollen, während die Konfessionslosen in Ostdeutschland keine blasse Ahnung davon haben, worum es sich handeln könnte. (Es gibt in Erfurt Studierende der Religionswissenschaft, die noch nie einen christlichen Gottesdienst besucht haben.) Diese völlige Leere erschwert jede Anknüpfung.

Man muss also sehr genau unterscheiden, über welche Konfessionslosigkeit man spricht. Sichtbar wird dieser Ost-West-Unterschied an vielen Themen: so an der nach wie vor enormen Beliebtheit der Jugendweihe im Osten, aber auch an den atheistischen und kirchenkritischen Organisationen. Im Osten Deutschlands sind sie – mit Ausnahme Berlins – völlig bedeutungslos. Denn für ostdeutsche Konfessionslose ist der Kampf gegen Religion und Kirche ohne jede Attraktivität. Nennenswert aktiv sind atheistische Organisationen eigentlich nur da, wo die katholische Kirche stark ist – also im Westen.

So wundert es nicht, dass die Zahl der organisierten und engagierten Kirchen- bzw. Religionskritiker in Deutschland derzeit genauso hoch ist wie vor hundert Jahren – und das bei völlig veränderten Rahmenbedingungen! Man könnte folgern, dass den Freidenkern vor lauter Konfessionslosigkeit der Feind abhandenkommt. In der Tat ist die Schwäche der säkularen Szene untersuchenswert. Sie sagt viel über deutsche Mentalitäten, das religiöse Klima in unserem Land und über die organisierten Freidenker bzw. Kirchenkritiker. Doch dies ist hier nicht unser Thema.6

Trotz aller Differenzen im mental noch längst nicht wiedervereinigten Deutschland lohnt an dieser Stelle noch einmal der Blick auf die kirchliche Gesamtlage. Nach wie vor wenden sich in Deutschland viele Menschen „in aller Stille“ von den Kirchen ab. Allein durch Austritte verlieren die großen Kirchen zusammen alle fünf Jahre etwa eine Million Mitglieder. Gelegentlich liegen die Zahlen noch deutlich darüber. So mussten beide im Jahr 2015 mit zusammen knapp 500 000 Austritten die höchsten Zahlen seit der Wiedervereinigung 1990 registrieren. Häufig wird in diesem Zusammenhang berichtet, eine Veränderung bei der Kirchensteuer habe 2015 die plötzlich ansteigenden Austritte verursacht. Diese Erklärung greift jedoch zu kurz. Das unglücklich kommunizierte Steuerrecht mag eine Rolle gespielt haben. Da seinerzeit jedoch überproportional viele Rentner und Pensionäre aus den Kirchen ausgetreten sind, also jene, die gar keine Kirchensteuer zahlen, wird deutlich: Die Bindungskräfte beider großer Kirchen sind inzwischen so schwach, dass jeder sich bietende Anlass für einen Austritt genutzt wird.

Ursachen der Konfessionslosigkeit

Zweifellos spielt der verordnete DDR-Atheismus und der Kampf der SED gegen die Kirchen eine große Rolle bei der Entstehung der hohen Konfessionslosigkeit in Mitteldeutschland. Und doch überzeugt dieses Argument nicht wirklich. Weitere Faktoren müssen betrachtet werden. Zu nennen ist der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch, dass die Kirchen spätestens im 19. Jahrhundert den Kontakt zum einfachen Volk und zu den Arbeitern verloren haben. Dieser Befund ist besonders wirkmächtig in den Hochburgen der Arbeiter geworden und damit in jenen Regionen, die – wie Mitteldeutschland – später die DDR bildeten. Die Probleme der Ärmeren und weniger Gebildeten wurden allzu lange von den großen Kirchen nicht bzw. zu wenig gesehen. So wundert es nicht, dass die aufkommende Arbeiterbewegung den Kirchen kritisch bis ablehnend gegenüberstand. (Man denke an das 1891 im Erfurter Kaisersaal beschlossene Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit seiner scharfen Zurückdrängung der Kirchen in den Bereich des Privaten.)

Die Kirchen verstärkten ihrerseits diese Kluft durch ihre häufig konservative und antiliberale Haltung wie z. B. ihre Verurteilung der Revolution von 1848. Der Historiker Martin H. Jung schreibt dazu: „Die Untätigkeit der Christen angesichts der sozialen Probleme und ihre Blindheit für deren strukturelle Ursachen entfremdete die Arbeiterbewegung mit ihrer ohnehin prinzipiell atheistischen Führungsschicht von der Kirche.“7 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Entkirchlichung in den Städten und in stark proletarisch geprägten Regionen erstmals zu einem Massenphänomen. Es entwickelte sich eine religiöse Gleichgültigkeit, die von den Kirchen in ihrer Dramatik nicht erkannt wurde. Verstellt war den Kirchen der Blick, weil sie selbst Teil des politischen Establishments waren und die pointierte Entchristianisierung zwar die Arbeiterschaft, aber nur einen kleinen Teil der Gebildeten erreichte. So unterschätzte man die Dramatik, zumal die politischen Eliten weiterhin kirchenverbunden blieben. Man kann fragen, ob die Lage heute nicht ähnlich ist: Die Konfessionslosigkeit ist in manchen Bereichen der Gesellschaft dramatisch, während die politischen und geistigen Eliten meist wesentlich kirchen- und religionsfreundlicher sind – oder sich aus taktischen Erwägungen kirchenfreundlich gerieren. Dieses wohlwollende Umfeld verstellt vielen kirchenleitenden Persönlichkeiten auch heute den Blick auf die Realität. Wenn man heute mittels einer Volksabstimmung über Religionsunterricht, Kirchensteuer oder die Stellung der großen Kirchen entscheiden ließe, würde den Kirchen ein wesentlich bescheidenerer Platz in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben zugewiesen, als sie ihn derzeit innehaben. Zur Illustration sei an dieser Stelle an den Berliner Volksentscheid über den Religionsunterricht aus dem Frühjahr 2009 erinnert. Damals erreichten die Befürworter des Religionsunterrichts weder das Zustimmungsquorum von 25 % noch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Die Kirchen könnten aus dieser Niederlage lernen, dass sie sich über ihren Rückhalt in der breiten Bevölkerung Illusionen machen.

Die Zerschlagung der bürgerlichen Mitte gehört schließlich zum folgenreichsten Erbe der DDR. In den alten Bundesländern verdanken die Kirchen der bürgerlichen Mitte, also Lehrern, Ärzten, Offizieren, Geschäftsleuten, Unternehmern usw., viel. Diese bilden oft das Rückgrat an ehrenamtlichem Engagement. In der DDR wurde jedoch gerade diese Schicht zerstört bzw. entzogen sich diese Kreise dem politischen Druck durch Flucht oder Ausreise in den Westen. So gab es in den späten Jahren der DDR kaum noch eine kirchennahe und damit kulturverbundene bürgerliche Mittelschicht. Dieser Umstand hat dem öffentlichen und kirchlichen Leben in der DDR sehr geschadet und wirkt heute als schwieriges Erbe fort. Auch deshalb ist in Ostdeutschland zivilgesellschaftliches Engagement schwächer ausgeprägt als in den westlichen Bundesländern. In den Kirchenvorständen bzw. Pfarrgemeinderäten sind bis heute auffällig viele Westdeutsche aktiv. Überproportional füllen sie jene Leerstellen aus, die zu DDR-Zeiten entstanden sind.

Ostdeutsche Identitäten

In den östlichen Bundesländern dient die Areligiosität inzwischen verstärkt der Abgrenzung vom Westen. So hat sich eine eigene Konfessionslosenidentität ausgebildet. Sichtbar wird diese in zahlreichen Lebensbezügen. Relativ gut beobachten lässt sie sich an der Jugendweihe, die für die Mehrheit ostdeutsch sozialisierter Familien von großer emotionaler Bedeutung ist. Seit der Wiedervereinigung haben mehr als 1,5 Millionen Jugendliche an einer Jugendweihe teilgenommen. Dieser religionslose Passageritus ist in vielen ostdeutsch sozialisierten Familien fraglos beheimatet und ein wesentlicher Aspekt familiärer Identität. Kirchlich gebundene Menschen rümpfen beim Thema Jugendweihe gern die Nase und sagen, sie sei ein Ritual ohne Inhalt, eine Weihe ohne Gott, ein Passageritus ohne Passage. Das kann man so sehen, und wer eine solche Feier besucht oder Jugendweihereden analysiert, findet hinreichend Belege für diese Position. Nur: Sie ist trotzdem, vielleicht gerade wegen ihres kargen Inhalts, wegen ihrer Unverbindlichkeit beliebt. Machen wir uns nichts vor: Die Jugendweihe vermittelt den Kirchenfernen Kontinuität und jene Lebensbegleitung, die einst Konfirmation und Firmung bzw. Erstkommunion garantierten.

Im Osten Deutschlands sind die Kirchen in schwierige Verhältnisse geraten. Zugleich gibt es Streit darüber, wie prekär die Lage denn nun wirklich sei. Wer Statistiken zitiert und Beobachtungen referiert, hört oft: „Na, so schlimm ist es nicht. Wir sollten besser sehen, was gelingt … Bei uns gibt es einen schönen Kirchenchor …“ Das stimmt. Es gelingt vieles, es gibt überraschende Lebendigkeit und wunderbare Chöre. Aber die Gesamtlage ist ernst. In einem Brandenburger Dorf hat ein Kirchbauverein, bestehend mehrheitlich aus Konfessionslosen, kürzlich eine Kirche für etwa 200 000 Euro saniert. Zum monatlichen Gottesdienst kommen nach wie vor etwa drei bis fünf Gemeindeglieder; die letzte Taufe liegt viele Jahre zurück. Die Entwicklung der Gemeindegliederzahl lässt befürchten, dass die Gemeinde in 20 Jahren den Frostschutz der modernisierten Heizung nicht mehr bezahlen kann. Und doch hatte keiner den Mut, den Bau aufzuhalten, auch nicht mit dem Hinweis, dass vier Kilometer entfernt die nächste wertvolle Kirche steht. Wir haben im Osten wunderschöne Kirchen und nur wenige Menschen, die zum Beten kommen. Oder anders formuliert: Wir haben Konfessionslose, die sich in einem erstaunlichen Maße für die Rettung alter Dorfkirchen einsetzen – aber wir haben keine Angebote für den kirchenfernen Maurer, wenn das Bauwerk fertig und die Farbe trocken ist.

Eingangs hatten wir konstatiert, dass die Wiedervereinigung Deutschland konfessionsloser gemacht hat. Heute muss man feststellen: In den 1990er Jahren ist in Deutschland ein weltanschaulicher Dammbruch geschehen. Seither, so könnte man provokant formulieren, ist die Konfessionslosigkeit die am schnellsten wachsende weltanschauliche Orientierung in Deutschland. (Auf diesen Satz entgegnen meine kirchennahen Freunde gern, dass religiöse Indifferenz keine Orientierung sei. Und flugs haben wir eine erweckliche Diskussion, die vor allem eines bewirkt: Sie lenkt vom Ernst der Lage und vom Thema ab.)

Die Kunst der kleinen Schritte

Es gibt für die Kirchen in der gegenwärtigen Lage kein Patentrezept. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer leisten eine hervorragende Arbeit, sind engagiert und ideenreich. Aber gegen den Zeitgeist, gegen die allgemeine Religionsdistanz und den religiösen Analphabetismus haben sie es schwer. Deshalb sind die kleinen Schritte wichtig. In der Apostelgeschichte wird eine Episode berichtet, welche für unser Thema erhellend sein kann. Es geht um den sog. „Kämmerer aus Äthiopien“ (Apg 8,26-40). Dieser liest eher zufällig einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja. Der Text bleibt ihm jedoch verschlossen. Ein Passant spricht ihn an und fragt, ob er Hilfe zum Verständnis benötige. Als dies bejaht wird, erklärt der Hinzugekommene den Text des Propheten. Der Kämmerer ist derart angetan, dass er sich sofort taufen lässt – und beide gehen auseinander. Keiner fragt, ob die Taufe eine Kirchenmitgliedschaft begründet und welche Kirchensteuer ab nun zu errichten sei. Der neu Getaufte geht vielmehr fröhlich seiner Wege. Man kann diese Geschichte mit Blick auf unser Thema wie folgt zusammenfassen: Wer fragt, bekommt eine Antwort und geht in Freiheit seiner Wege. Was er mit den neuen Erkenntnissen macht, liegt in seiner bzw. Gottes Hand.

Man mag entgegnen, dass viele heutzutage gar nicht fragen. Das ist richtig, trifft aber nur die halbe Wahrheit. Die Kirchen erwarten viel zu sehr, dass Menschen mit ihren Fragen zu ihnen kommen – sie werden nicht kommen. Daher wäre ein Perspektivenwechsel notwendig. Es gilt, den theologischen Phrasenkoffer zu entrümpeln und die Menschen in ihren eigenen Lebensbezügen aufzusuchen. Man kann das mit einer einfachen Beobachtung erläutern: Im Sommer 2016 fand in Leipzig ein Katholikentag statt. In diesem Rahmen sollte ein prominenter Arbeitskreis den Dialog mit den sog. Ungläubigen organisieren. Trotz engagierter Vorbereitung fanden diese Gespräche nicht statt, weil Konfessionslose nicht zum Katholikentag gehen. Zugleich hatte der Katholikentag angeboten, Vertreter der Kirche in Leipziger Betriebe und Vereine zu entsenden, um mit den Menschen über Glaubensfragen zu reden. Hieran war das Interesse erstaunlich groß.

Daher gilt: Die Kirchen sollten den Problemen mutiger ins Auge sehen. Noch ist Zeit für Korrekturen. Es mag sein, dass einige Handlungsfelder unverändert fortgesetzt werden können – aber alles gehört auf den Prüfstand. Gottesdienste und Kasualien, Schaukästen und Gemeindebriefe, aber auch Kirchenzeitungen und kirchennahe Zeitschriften wie die hoch subventionierte Zeitschrift „Chrismon“ sind in ihrer Außenwirkung zu überdenken. Die Botschaft von Gottes Menschwerdung in Jesus Christus, von Jesu Tod und Auferstehung ist nicht banal. Wenn diese heute als belanglos empfunden wird, so gibt es ein grundsätzliches Vermittlungsproblem. Das betrifft die großen theologischen Linien, aber auch das Erscheinungsbild vieler Kirchengemeinden vor Ort. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich Schaukästen und Gemeindebriefe mit den Augen Konfessionsloser ansehen würde. Wer versteht das verträumte „A“ hinter dem Sonntagsgottesdienst? Steht es für Abenteuer, Außenseiter oder Abendmahl? Merken kirchliche Insider, dass ein Sündenbekenntnis am Anfang des Gottesdienstes für viele Menschen verstörend ist? Ist es angemessen, dass in der Erfurter Altstadt sonntags zeitgleich in mehreren Kirchen klassische Gottesdienste stattfinden? Also jene Gottesdienste, die von Außenstehenden nicht verstanden werden?

Was die Sache so schwierig macht, sind gegenläufige Befunde. Wir brauchen einerseits niederschwellige Angebote für Kirchenferne: kurze Andachten, einfache Angebote, unbeschwerte Kirchenmusik. Andererseits benötigen wir mehr geistliche und spirituelle Formate. Die evangelische Predigt ist viel zu oft ein Bildungsereignis – aber kein spirituelles Erlebnis. Pfarrerinnen und Pfarrer eilen von Termin zu Termin und werden immer mehr zu Gemeindemanagern, und ihre heilige Schrift ist nicht die Heilige Schrift – sondern der Kalender. Die Stärke der Kirchengemeinden liegt jedoch in ihrer pastoralen Arbeit, in der Seelsorge vor Ort.

Und schließlich: Was mit Blick auf die Konfessionslosen sogar eher kontraproduktiv ist, das sind kirchliche Großereignisse wie die Feierlichkeiten zum Reformationsjahr 2017. Mit Mega-Events wie einem großen Gottesdienst auf den Elbwiesen bei Wittenberg und der zur Schau getragenen Nähe von Staat und Kirche wird man bei vielen Menschen eher den Eindruck verstärken, dass die Kirchen mit dem „wirklichen Leben“ nichts zu tun haben. Das gilt auch für die häufig zu beobachtende Politisierung vieler Statements gerade im evangelischen Kontext. Wenn wir Menschen erreichen wollen, müssen die Kirchen ihre pastorale, ihre spirituelle Kompetenz stärken. Die fortwährende Politisierung ist ein Irrweg.

Eine besondere Herausforderung für die Kirchen in der Konfessionslosigkeit stellt schließlich die Erwachsenenbildung dar. Denn ein Erbe des DDR-Atheismus ist die dramatische Unkenntnis in Bezug auf religiöse Themen. Wenn wir Menschen erreichen wollen, benötigen wir ein Mindestmaß an geistesgeschichtlicher, philosophischer und letztlich biblischer Bildung. Daher sollte man die kirchliche Bildungsarbeit in ihrer Breite stärken. Viel zu lange war man auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fixiert, weil man in der nachwachsenden Generation die Zukunft der Kirchen sah. Das jedoch ist zu kurz gedacht. Die Kirchenmitgliedschaft wird im Erwachsenenalter gewonnen – und verloren.

Wir sollten schließlich die Konfessionslosen ernst nehmen. Auch das Desinteresse an Gott hat seine Bedeutung. Wir können Konfessionslose erreichen, wenn wir als Suchende den Suchenden begegnen, jeden herablassenden Ton vermeiden und Sätze wie „Werte brauchen Religion“8 aus dem Phrasenkoffer streichen. Das wird nicht leicht, aber 27 Jahre nach der Wiedervereinigung müssen wir über neue Wege nachdenken. Wir brauchen eine Sprache, die Menschen verstehen, und Veranstaltungen, die missionieren, ohne missionierend zu sein. Wir brauchen Seelsorger, die Zeit haben und nicht als Event-Manager durch den Ort hetzen. Mehr als 80 % der ostdeutschen Jugendlichen waren nie in ihrem Leben in einer Kirche. Sie werden kaum einen klassischen Sonntagsgottesdienst besuchen. Gemäß einer aktuellen und repräsentativen Studie sagen 84 % der 26- bis 34-jährigen männlichen Erwachsenen in Deutschland, dass sie ohne Glauben an Gott glücklich sein können.9 Wie wollen wir diese jungen Männer erreichen?

Öffnen wir die hübsch sanierten Kirchen zu jedem sich bietenden Anlass und gehen wir dahin, wo die Konfessionslosen sind. Die ostdeutschen Konfessionslosen verbindet eine besondere Eigenschaft: Da sie kaum schlechte Erfahrungen mit der Kirche gemacht haben, gucken sie interessiert, wenn jemand von diesem fremden Stern kommt. Na, das ist doch was!


Andreas Fincke, Erfurt


Anmerkungen

  1. EKD (Hg.): Engagement und Indifferenz. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 81.
  2. Rita Kuczynski: Was glaubst du eigentlich? Weltsicht ohne Religion, Berlin 2013, 13.
  3. Monika Wohlrab-Sahr: Religionslosigkeit als Thema der Religionssoziologie, Pastoraltheologie 90 (2000), 152.
  4. EKD (Hg.): Engagement und Indifferenz (s. Fußnote 1), 81.
  5. Udo Schmälzle: Was fehlt den Konfessionslosen?, in: Herder Korrespondenz 70/1 (2016), 32-35, 33.
  6. Vgl. Andreas Fincke: Mit Gott fertig? Konfessionslosigkeit, Atheismus und säkularer Humanismus in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme aus kirchennaher Sicht, Aschaffenburg 2017.
  7. Martin H. Jung: Der Protestantismus in Deutschland von 1815 bis 1870, Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen III/3, Leipzig 2000, 118.
  8. Wichtigstes Argument der Kirchen und der CDU beim Berliner Volksentscheid 2009 über die Einführung des Religionsunterrichts als Pflichtfach.
  9. www.generation-what.de/portrait/data/till-death-do-us-part  (Abruf: 6.4.2017).