Ronald J. Mundhenk

Kirche auf Nicaraguanisch

Überraschende Eindrücke

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen sehr persönlichen Erfahrungsbericht. Unsere Tochter ist vor drei Jahren nach Nicaragua ausgewandert, hat dort geheiratet und ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Im Januar 2016 hatten wir die Gelegenheit zu einem Besuch. Die politischen und kirchlichen Verhältnisse in diesem Land sind so vielschichtig, dass unser Eindruck oberflächlich bleiben musste. Dennoch ist es uns gelungen, mit Unterstützung unserer Gastgeber zumindest eine Ahnung von den komplexen landestypischen Verhältnissen zu gewinnen.

Cristiana, socialista, solidaria

„Cristiana, socialista, solidaria“ – mit diesen drei Schlagworten empfiehlt Langzeitpräsident Daniel Ortega sich und seine Partei. Vergleiche mit den christlichen Parteien hierzulande liegen aber nur auf den ersten Blick nahe. Schon bei oberflächlichem Hinsehen wird schnell deutlich, dass sich die politische, gesellschaftliche und religiöse Situation von der in unseren Breiten fundamental unterscheidet.

Zunächst: Das Religiöse ist in dem kleinen mittelamerikanischen Land nahezu allgegenwärtig. Das nicaraguanische Alltagsleben ist durchdrungen von religiöser Tradition, von religiösem Brauchtum, von religiöser Praxis und den entsprechenden Symbolen. Kaum ein Bus auf Nicaraguas Straßen, der neben der Zielortangabe an der Front nicht auch mit einem religiösen Bekenntnis aufwartet: „Dios es mi Pastor“ (Der Herr ist mein Hirte), „Regalo de Dios“ (Geschenk Gottes), „Dios me/te ama“ (Gott liebt mich/dich) – Sätze wie diese finden sich nicht nur an Bussen, sondern auch massenhaft an Privatwagen.

Unübersehbar sind auch in den kleineren Städten Nicaraguas imposante Kathedralen, meist frisch und oft bunt gestrichen. In der Regel verfügen diese über große Fensteröffnungen, nicht jedoch über Fensterscheiben, was angesichts der oft drückenden Hitze einen erfrischenden Luftzug mit sich bringt. Dass sie praktisch immer offen stehen, entspricht vermutlich dem Selbstverständnis und dem immer noch herrschenden Selbstbewusstsein der katholischen Kirche. Kirche und der Besuch des katholischen Gottesdienstes sind – zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung – selbstverständlich.

Ein Leben ohne Kirche und Religion, vielleicht sogar Atheismus, ist demgegenüber für eine nahezu 100-prozentige Mehrheit der Bevölkerung Nicaraguas undenkbar. Allerdings ist uns aufgefallen, dass sich die ansehnlichen Kirchen und Kathedralen fast durchweg in den „besseren“ Wohngebieten dieses von Armut so schwer gezeichneten Landes finden. Das mag zum einen städtebauliche Gründe haben. Zum anderen aber schien es uns, dass diese selbstbewusste und traditionsgesättigte Form des kirchlichen Lebens tendenziell eher die mehr oder weniger gut abgesicherte „bürgerliche“ Schicht der Gesellschaft im Blick hat.

Dies spricht nicht gegen die katholische Kirche als solche. Wir hatten an einem Sonntagmorgen die Gelegenheit, in einer der großen Kirchen Granadas eine Messe (mit Taufe) mitzuerleben und waren sehr angenehm berührt von der freundlichen, offenen, unkomplizierten Atmosphäre. Tatsächlich fiel es uns schwer, diesen gastlichen, licht- und luftdurchfluteten Raum wieder zu verlassen. Auch der amtierende Priester entsprach, soweit wir sehen konnten, keineswegs dem Typus des kühlen Klerikers, sondern kommunizierte sehr lebhaft und menschenfreundlich mit der Tauffamilie, nahm den Täufling auf den Arm, posierte bereitwillig für Fotos und machte mit all dem durchaus Appetit auf den Besuch weiterer Gottesdienste.

Dennoch: Diese – zweifellos einladende – Form kirchlichen Lebens erreicht offenbar nur noch einen, vermutlich den besser situierten Teil der nicaraguanischen Christenheit. Sichtbares Zeichen dafür ist die Tatsache, dass sich vor allem in den letzten Jahrzehnten eine auffallende Verschiebung der konfessionellen Zugehörigkeiten ereignet hat. War über Jahrhunderte die katholische Kirche absolut und unangefochten dominierend, hat sich mittlerweile evangelische Konkurrenz aufgetan. Nach offiziellen Angaben liegt der Anteil der Katholiken einerseits noch zwischen 60 und 80 Prozent (je nach Untersuchung). Andererseits aber boomen die Freikirchen (Baptisten, Adventisten, Mennoniten, Herrnhuter, Pentekostale) neben verschiedenen Sondergemeinschaften wie Zeugen Jehovas und Mormonen in einer beeindruckenden Weise. Hierfür dürfte u. a. die rege Missionstätigkeit von zumeist aus den USA entsandten Evangelisten verantwortlich sein. Ihr Erfolg scheint u. a. darin begründet, dass bei einem nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung eine innere Entfremdung von der katholischen Kirche bereits weit fortgeschritten ist. Denn in den Augen der weithin mittellosen Unterschicht des Landes gilt diese Kirche als „reich“. Ob die Unterstellung zutrifft, dass sich die katholischen Amtsträger selbst in unziemlicher Weise bereichern (wie mir mein nicaraguanischer Schwiegersohn sagte), kann ich schwer beurteilen. Sicher aber ist, dass die traditionelle Kirche Nicaraguas in einer bezeichnenden Weise mit der totalitären Herrschaft des Somoza-Clans sympathisiert und kooperiert hat. Gegenüber den Bestrebungen der sandinistischen Revolution Ende der 1970er Jahre war sie naturgemäß kritisch eingestellt. Offenbar ist sie von relevanten Bevölkerungsteilen deshalb vor allem als Kirche der Herrschenden, wenn nicht gar als Kirche der Unterdrücker und Ausbeuter wahrgenommen worden.

Noch vor wenigen Jahren hat sich die katholische Kirche unbeliebt gemacht, als sich Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch im Jahr 1983 durchaus kritisch über die sozialistischen Tendenzen der regierenden FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) geäußert hat. Auch wohlgesonnene Katholiken haben entsprechende Äußerungen missbilligt. Und nicht wenige haben vermutlich eine schon bestehende Distanz zum Katholizismus nunmehr noch deutlicher empfunden.

In Nicaragua darf man eben christlich und sozialistisch sein, vielleicht muss man es sogar. Und eine mächtige Kirche, die dies zu unterbinden versucht, bringt sich rasch in Misskredit. Dies gilt übrigens, obwohl sich die regierende Partei längst etabliert und ihrerseits autokratische Züge angenommen hat. Auch die Aussöhnung der Partei mit der katholischen Kirche, wie sie durch die eingangs genannten Schlagwörter belegt wird, dürfte in der Bevölkerung nicht nur auf Zustimmung stoßen. Thron und Altar sind nunmehr wieder in einer Weise zusammengerückt, die, wenn auch unter neuem Vorzeichen, an die alten Verhältnisse erinnert und entsprechend Besorgnis auslöst.

Schließlich – und dies scheint mir das Wichtigste zu sein – ist es der katholischen Mehrheitskirche nicht wirklich gelungen, sich überzeugend als Kirche der „Armen“ zu präsentieren. Zwar unterhält sie vielerorts karitative Werke, zwar kümmert sie sich oft in bewundernswerter Weise um bedürftige Bevölkerungsgruppen. Aber aufs Ganze gesehen ist sie an jenen Orten, an denen die Armut besonders drückend ist, nicht oder, zumindest in der Wahrnehmung der Betroffenen, nicht ausreichend präsent.

Hier dominieren die evangelischen Freikirchen. In den Armutsvierteln, den „barrios bajos“, jenen No-go-Areas der Städte und Dörfer, finden sich praktisch an jeder Ecke evangelische Denominationen. Als Kirchen „von unten“ präsentieren sich kleinere und größere Gemeinschaften exakt an jenen Orten, an denen die Not besonders spürbar wird. Auch in Granada, jener verhältnismäßig touristischen Stadt, die wir vor allem kennengelernt haben, ist das so. Von Andachtsräumen in Wohnzimmergröße über recht ansehnliche Kapellen bis hin zu stattlichen Sälen reicht das Spektrum evangelischer Sakralbauten.

Aufgrund unserer verwandtschaftlichen Beziehungen konnten wir uns in diesen Problemquartieren relativ sorglos bewegen. Meine Tochter und mein Schwiegersohn, die in einem solchen „barrio“ leben, haben von einem Besuch dieses Viertels auf eigene Faust ausdrücklich abgeraten. Natürlich muss nichts passieren, aber es kann eben. Armutskriminalität macht auch vor Nicaragua, das ansonsten als relativ sicheres Reiseland gilt, nicht halt.

Ein Gottesdienst im Armenquartier

Umso aufgeregter und neugieriger waren wir, als uns die Kinder zu einem Gottesdienstbesuch in „ihrer“ Gemeinde, der „Asociación Iglesia Cuadrangular de Nicaragua“ (IC) ermunterten. Diese Gemeinschaft residiert wenige Schritte vom ihrem Haus entfernt inmitten des Armenquartiers. Die Gottesdienste finden in einem ca. 10 mal 25 Meter großen Gebäude statt. Äußerlich könnte man es nicht sofort als Sakralbau erkennen, wenn nicht die Bezeichnung der Gemeinschaft über der Eingangstür angebracht wäre.

Sonntag, 10. Januar 2016, 16 Uhr. Meine Tochter hatte uns vorbereitet: Der tatsächliche Gottesdienstbeginn weicht vom offiziellen in aller Regel mindestens um eine halbe Stunde ab. So fanden wir uns kurz nach 16 Uhr im noch spärlich besetzten Kirchsaal ein und hatten reichlich Gelegenheit, um anzukommen und uns umzusehen.

Auf Plastikgartenstühlen sitzend sahen wir mächtige Lautsprecherboxen unmittelbar vor uns, deren Leistungsfähigkeit uns noch vor Beginn des Gottesdienstes im Rahmen eines Soundchecks demonstriert wurde. Die Nicas, wie sich die Nicaraguaner selber nennen, lieben die Musik, vor allem die laute, wie uns immer wieder gesagt wurde. Die Band, die den heutigen Gottesdienst von einem etwas erhöhten Podium aus begleitete, setzte sich aus zwei Sängerinnen, zwei Gitarristen, einem Pianisten, einem Schlagzeuger und einem Perkussionisten zusammen. Ihr Anteil am gottesdienstlichen Geschehen war, wie sich zeigen sollte, von großer Bedeutung.

An der Rückwand der Kapelle finden sich unübersehbar die vier Symbole der IC, das Kreuz (für Christus, den Retter), die Taube (für die Taufe mit dem Heiligen Geist), der Kelch (für den heilenden Christus) und die Krone (für den kommenden König Christus). Ein paar Schritte von uns entfernt – ebenfalls auf dem Podium – stand ein einfaches Rednerpult. Auf den Stufen rechts davon beobachteten wir eine ins Gebet versunkene, fast völlig verhüllte Frau, die auch noch während des Gottesdienstes lange in dieser Haltung verharrte.

Nach und nach füllten sich die Reihen des Saals. Wir sahen ordentlich, nicht unbedingt sonntäglich gekleidete Menschen jeden Alters, auch zahlreiche Kinder. In dieser Besinnungszeit vor dem Gottesdienst wurden wir mit dem Pastor der Gemeinde bekannt gemacht, einem unauffällig gekleideten, stämmigen Mittfünfziger, den meine Tochter mir gegenüber bereits wegen seines außerordentlichen und selbstlosen Engagements für seine Gemeinde gelobt hatte.

Um 16.30 Uhr dann begann der eigentliche Gottesdienst mit einer Begrüßung durch den Pastor. Besonders hervorgehoben wurde die Anwesenheit der „hermanos“ (Geschwister) aus Alemania. Offenbar fanden auch andere Gemeindeglieder unseren Besuch so bemerkenswert, dass sie klatschten oder uns persönlich begrüßten. Wir nahmen die Zuwendung etwas beschämt und berührt zugleich auf. Irgendwie tat es gut, sich in dieser fremden Welt wahrgenommen zu wissen.

Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse konnten wir den Gottesdienst inhaltlich nur sehr begrenzt verfolgen. Umso überraschter waren wir, dass die zweieinhalb Stunden, die er in Anspruch nahm (meine Tochter flüsterte mir zu, dass sich der Pastor wegen eines anschließenden Termins heute kürzer fasse als sonst), so rasch vorübergingen.

Eindrucksvoll gleich eine Szene zu Beginn: Eine junge, wohl krebskranke (wie wir später hörten) Frau kam nach vorne und schilderte kurz ihr Anliegen. Der Pastor und zwei Frauen legten ihr die Hände auf und sprachen ein Fürbittgebet für sie. Zu Beginn dieser Szene stieß mich meine Tochter an und raunte mir zu, nun würden wir gleich zu Beginn ein Wunder erleben. Ob ein solches geschehen ist, kann ich nicht beurteilen. Imposant schien mir vor allem die intensive (wunder-bare) Zuwendung, die jener jungen Frau zuteilwurde.

Der Musik gehörte der erste Teil des Gottesdienstes. Stehend hörten wir ca. eine halbe Stunde lang (für unsere Hörgewohnheiten) auffallend laute, rockige Lobpreislieder. Angesichts der Lautstärke der Band war der Gemeindegesang kaum noch hörbar, wohl aber das rhythmische Klatschen der Gottesdienstbesucher. Übrigens haben wir die Lebensäußerungen der Teilnehmer im Ganzen wohl als temperamentvoll, nicht aber als enthusiastisch im engeren Sinne empfunden.

Temperamentvoll war auch die Predigt des Pastors über Lk 4,16-21. Zentral war die Botschaft, dass den Armen das Evangelium verkündigt wird. Parallelstellen und andere biblische Verweise wurden – wie auch die Lieder – auf eine Leinwand projiziert, sodass ich der Predigt wenigstens fragmentarisch folgen konnte. Zudem reichte mir meine Tochter jeweils eine deutsche Bibel mit den entsprechenden Stellen. Dies scheint in der IC selbstverständlich zu sein. Die Mehrheit der Gottesdienstbesucher hatte eine Bibel auf dem Schoß. Wenige Plätze neben uns benutzte eine junge Frau ihr Smartphone, um die Textstellen zu finden.

Der Pastor predigte weithin ohne Konzept, leidenschaftlich und gestenreich. Zuweilen stellte er der Gemeinde Fragen, bei deren Beantwortung sich mein Schwiegersohn mit seiner Bibelkenntnis besonders hervortat. Überhaupt schien dem Pastor die Resonanz seiner Hörerschaft wichtig zu sein. Mehrfach, nachdem sie offenbar vom Prediger dazu ermuntert worden waren, hoben die Gemeindeglieder die rechte offene Hand auf Brusthöhe – eine Geste des Bekenntnisses, ja einer Beeidung, wie mich meine Tochter später aufklärte.

Etwas irritiert waren wir, als der Pastor, schon erheblich schwitzend und offenbar in einer besonders wichtigen Phase seiner Verkündigung, die rechte Faust hob und sie zu schütteln begann. Der aggressive Gestus schien jedoch die Gemeinde nicht zu beunruhigen, im Gegenteil: An diesen Stellen gingen ein zustimmendes Raunen und einige Amen- und Hallelujarufe durch die Gemeinde.

Ich bin nicht sicher, vermute aber, dass der Prediger hier die Bedeutung einer persönlichen Umkehr, ja der Abkehr von einer bloßen „Religiosität“ unterstreichen wollte. Nicht Religion, so betonte er mehrfach, mache den Christen aus, sondern die individuelle Hingabe an Jesus Christus. Immer wieder fiel das Wort „corazon“ (Herz), dem offenbar eine Schlüsselstellung für die persönliche Glaubensentscheidung eingeräumt wird.

Die katholizismuskritische Attitüde war an dieser Stelle kaum überhörbar. Dass sich die freikirchlichen Gemeinschaften Nicaraguas mehrheitlich in einer Frontstellung zur katholischen Kirche befinden, ja, dass sie ihre Entstehung zum Teil eben dieser Abgrenzung verdanken, wurde auch in diesem Zusammenhang deutlich. Das polemische antikatholische Stichwort lautet „Götzendienst“. Wir haben es auch von unseren Kindern öfter gehört. Es bezieht sich auf weite Teile der katholischen Tradition und des entsprechenden Brauchtums, vor allem auf die Marien- und Heiligenverehrung. Ökumenische Fortschritte sind vor dem Hintergrund dieser Frontstellung in absehbarer Zeit weder von der einen noch von der anderen Seite zu erwarten.

Von diesen Ausbrüchen „heiligen“ Zorns abgesehen war der Prediger jedoch zweifellos bemüht, seine Hörer für das Evangelium zu gewinnen bzw. sie in ihrem Glauben zu bestärken. Seine Suggestivkraft haben wir im Ganzen nicht als unangenehm empfunden, waren aber doch der Meinung, dass sie unter bestimmten Umständen auch missbraucht werden könnte. Diese Möglichkeit machte uns etwas nachdenklich.

Welche Rolle die Armen, denen nach Lk 4 das Evangelium in besonderer Weise verkündigt wird, in Zukunft spielen sollen, hat sich uns aufgrund mangelnder Sprachkenntnis nicht ganz erschlossen. Zweifellos kann sich die Mehrheit der Gottesdienstbesucher zu diesen Armen zählen. Zu vermuten ist, dass die Bewohner des „barrios“ sich selbst als erste Adressaten des Evangeliums und damit auch gleichsam als Erstberufene verstehen und dass sie diese Berufung in besonderer Weise verpflichtet, nun ihrerseits das Evangelium weiterzugeben. In jedem Fall ist die evangelistische Tendenz der Verkündigung unverkennbar. Eine Aufforderung zu politischem Engagement und zur Veränderung der sozialen Gegebenheiten in der Gesellschaft haben wir der Predigt demgegenüber nicht entnehmen können.

Weitere Teile des Gottesdienstes waren Informationen über den Kollektenzweck und allgemeine, die Gemeinde betreffende Abkündigungen. In beiden Fällen kamen sehr selbstbewusste weibliche Gemeindeglieder zu Wort. In diesem Zusammenhang fiel mir ein, dass die IC ihre Entstehung einer charismatischen Frau, Aimee McPherson, verdankt.

In der Schlussphase des Gottesdienstes bestand die Möglichkeit zur persönlichen Segnung. Zahlreiche Besucher strömten nach vorne, um sich vom Pastor bzw. von anderen Gemeindegliedern segnen zu lassen. Es ergaben sich während dieser Aktion einige anrührende, tränenreiche Szenen. Auch an dieser Stelle hat uns die Intensität und Körperlichkeit der Zuwendung beeindruckt.

Reflexion

Was, so fragen wir uns anschließend, haben wir da erlebt? Ein Lehrstück vielleicht, wie sich Religion als Opium des Volkes darstellt? Eine religiöse Praxis möglicherweise, die vor allem die Sinne der Armen benebelt und diese von gesellschaftlichen Veränderungen fernhält? Oder eine legitime, hilfreiche und tröstliche Ausprägung des christlichen Glaubens? Unser Eindruck war zu oberflächlich, als dass ich mich in diesen Fragen bereits gut begründet festlegen könnte. Allerdings möchte ich ein paar Stichworte nennen, die angesichts komplexer Phänomene eine gewisse Orientierung bieten können:

  • Nach unserer Einschätzung beruht die Glaubwürdigkeit der IC vor allem darauf, dass sie sich unmissverständlich als Kirche der Armen für die Armen zu erkennen gibt.
  • Sie stellt zugleich hohe Anforderungen an ihre Mitglieder wie persönliche Nachfolge, Bibelkenntnis, gemeindliches Engagement, Weitergabe des Evangeliums im persönlichen Umfeld.
  • Die geforderte Einhaltung ethischer Standards erhält angesichts oft schwieriger gesellschaftlicher Verhältnisse (Stichwort Armutskriminalität) und innerfamiliärer Problemlagen (Gewalt, sexuelle Übergriffe, machistische Strukturen) besonderes Gewicht.
  • Die Gemeinschaft „belohnt“ ihre Glieder dafür mit der Zusage von unbedingter Zugehörigkeit, unverrückbarer Erwählung und der Berufung in den verbindlichen Dienst im Reich Gottes.
  • Die charismatische Ausrichtung des Gemeindelebens, insbesondere die Betonung von Wiedergeburt und Geistestaufe, bekräftigt das Bewusstsein unverlierbarer Gotteskindschaft.
  • Die IC steht wie die meisten Freikirchen Nicaraguas der katholischen Kirche grundsätzlich kritisch gegenüber. Ihr gegenüber vertritt sie Armut, Verzicht auf „Äußerlichkeiten“ (Prozessionen, „Volksfrömmigkeit“ etc.), konsequente Bibeltreue (Verbalinspiration), Laienengagement (vs. hierarchische Strukturen) und die Wiederbelebung urchristlicher Verhältnisse.
  • Diesem Abgrenzungsverhalten gegenüber traditioneller Kirchlichkeit entspricht die Neigung zu einem dualistischen Schwarz-Weiß-Denken, das sich zuweilen unversöhnlich gegenüber Andersdenkenden und -glaubenden zeigt. Die Zulassung von Buntheit und Vielfalt religiöser Lebensäußerungen hat entsprechende Grenzen.

Auf die oben gestellten Fragen lässt sich demnach – in aller Vorsicht – Folgendes antworten: Die IC repräsentiert wie andere Freikirchen des Landes eine legitime, den besonderen Verhältnissen des Landes und seiner Geschichte geschuldete Ausprägung des christlichen Glaubens. Wünschenswert wäre, dass die Gemeinden in ihrer evangelikalen Grundorientierung der Versuchung pharisäischer Selbstgewissheit widerstehen können, dass sie eine unbefangene Neugier zeigen auf die mögliche Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und Denominationen und dass diese Zusammenarbeit als fruchtbar im Sinne „synergetischer“ Effekte verstanden und genutzt werden kann.


Ronald J. Mundhenk