Johannes Dillinger

Kinder im Hexenprozess. Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit

Johannes Dillinger, Kinder im Hexenprozess. Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013, 264 Seiten, 24,95 Euro.

Der Verweis auf die Geschichte der europäischen Hexenverfolgungen bildet einen Topos der Kirchen- oder oftmals auch weitergefasst der allgemeinen Christentumskritik. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem neueren Forschungsstand zu diesem Themengebiet erscheint daher ratsam, nicht zuletzt um bei Anfragen historisch verantwortet Rede und Antwort stehen zu können. Seit den späten 1990er Jahren erschienen einige empfehlenswerte Einführungen in die Thematik „Geschichte der Hexenimagination und Hexenverfolgung“, jüngst etwa der 2012 veröffentlichte Band „Die Hexen. Eine kulturgeschichtliche Analyse“ von Marco Frenschkowski (vgl. MD 3/2013, 115-118).

Das Buch des Historikers Johannes Dillinger befasst sich mit einem im besonderen Maße emotionsbeladenen Thema innerhalb des Themenfeldes Geschichte der Hexenverfolgung. Der Autor rückt die Rolle von Kindern als Angeklagte und als Zeugen in Hexenprozessen in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Dabei ist zu beachten, dass Kindern vielfach beide Rollen zugleich zukamen. Das Buch stellt eine streng historische Darstellung dar. Kontemporäre Fälle von Hexereibeschuldigungen gegen Kinder, die beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo auftreten, werden in dem Buch nicht thematisiert.

Der Autor richtet das Augenmerk auf die frühneuzeitlichen Hexenprozesse innerhalb des Territoriums des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Prozesse, die in anderen Regionen stattfanden, etwa die berühmten Hexenprozesse von Salem in Massachusetts, werden nur zu Vergleichszwecken herangezogen (175).

Das Buch besitzt einen klaren Aufbau, der ohne Abschweifungen oder unnötige Exkurse umgesetzt wird. Nachdem zur Einführung knappe Überlegungen zum Phänomen Kinder und Hexen dargelegt werden, erfolgt ein Überblick über den Forschungsstand. In diesem verortet Dillinger u. a. bisherige Forschungen zur Thematik vor dem Hintergrund der sogenannten Pädophilie-Debatte der 1980er Jahre in Deutschland und dem in den USA im gleichen Jahrzehnt geführten Diskurs um sexuellen Missbrauch (16f). Diese Kontextualisierung hilft das tieferliegende Anliegen und die Bedeutung methodisch überholter Arbeiten, wie der des Soziologen Hans Sebald, aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts für heutige Diskurse zu verstehen.

In einem zweiten, deutlich ausführlicheren Teil skizziert Dillinger die Rahmenbedingungen, unter denen sich die frühneuzeitlichen Kinderhexenprozesse abspielten. Zunächst beschreibt er die Lebenswelt von Kindern in der Frühen Neuzeit und reflektiert die Kulturgebundenheit des pädagogischen und anthropologischen Konzeptes Kindheit, um dann mit einem Überblick über die frühneuzeitliche Hexenimagination und die Hexenprozesse fortzufahren. In diesem Zuge arbeitet er den grundlegenden Unterschied zwischen einer weitgehend tolerierten Alltagsmagie und dem Konzept der im Teufelspakt gründenden und streng geahndeten Hexerei heraus. Dabei stellt er jedoch klar, dass Letztere, die ein rein imaginäres Konstrukt war und im Gegensatz zur Alltagsmagie im strengen Sinne der dämonologischen Definition nie realiter praktiziert wurde, nie vollständig unumstritten war. Hexereivorwürfe wurden durchaus unterschiedlich interpretiert, und ihnen wurde auf variierende Weise begegnet. Entsprechend seiner strikten analytischen Trennung zwischen Alltagsmagie und Hexerei beschreibt Dillinger in den folgenden Abschnitten das Verhältnis von Kindern zu Magie und Hexerei; dabei stellt er im Blick auf Hexereivorstellungen heraus, dass Kinder sowohl Beschuldigungen aussprechen als auch selbst Beschuldigte sein konnten.

Im dritten und umfangreichsten Großabschnitt des Buches werden acht Fallbeispiele detailliert dargestellt und analysiert. Dillinger rekonstruiert die jeweiligen Anschuldigungen und die daraus folgenden Prozesse zunächst anschaulich anhand von Prozessakten und, falls vorhanden, von weiteren Quellen. In einem zweiten Schritt arbeitet er die Handlungsstrategien der beteiligten Personen heraus und versucht, mögliche Handlungsmotivationen der jeweiligen Akteure aufzuzeigen. Letztlich zeigt er hierdurch die unterschiedlichen Formen von Handlungsmächtigkeit der involvierten Personen auf, wobei er immer wieder demonstriert, dass durchaus auch Angeklagte das Prozessgeschehen beeinflussen konnten und nicht in jedem Fall nur passiv einer Prozessmaschinerie ausgeliefert waren. Die Fallbeispiele wurden vom Autor so gewählt, dass unterschiedliche Aspekte der Hexereivorwüfe und des Hexenverfahrens betont werden. Dies geschieht teilweise auch in der Weise, dass in ihrer Grundkonstellation sehr ähnliche Prozesse ausgewählt wurden, die aber im einen Fall mit einem Freispruch oder einer Einstellung des Verfahrens und in einem anderen Fall mit einem Todesurteil endeten.

Wurde vom Autor im dritten Teil des Buches die Pluralität des Prozessverlaufs betont, so arbeitet er im vierten Abschnitt, der den Titel „Muster und Strukturen von Kinderhexenprozessen“ trägt (214ff), Gemeinsamkeiten und häufig wiederkehrende Motive heraus. Insbesondere ist hier der Unterabschnitt hervorzuheben, in dem die Kommunikationsmuster im Vorfeld und während der Prozesse analysiert werden. Er zeigt, wie aus oftmals harmlosen Bemerkungen innerhalb der Lebenswelt von Kindern tödliche Bedrohungen werden konnten, wenn diese von Erwachsenen in den Kontext von Hexerei gerückt wurden. Der vierte Abschnitt endet damit, dass Dillinger aufzeigt, dass Kinderhexenprozesse oftmals den Anfang oder das Ende größerer Verfolgungswellen bildeten. Hieraus leitet er ab, dass diese Form der Hexenverfahren „weniger Motor der Verfolgung als vielmehr Katalysatoren“ waren (250). Sie „verhalfen der Verfolgungsbereitschaft, die vor Ort latent vorhanden sein musste, zum Durchbruch“ (211). Dillinger arbeitet nachdrücklich die unterschiedlichen Rollen heraus, die Kinder in solchen Verfahren spielten, und die zugrunde liegenden Kommunikationsmuster, aber er macht doch sehr deutlich, dass es Erwachsene waren, die „Hexen machten“ und verurteilten.

Das flüssig geschriebene und mit Illustrationen versehene Buch bietet sich ideal an als ergänzende oder weiterführende Lektüre zu Einführungen wie Frenschkowskis eingangs genanntem Buch. Es thematisiert Fragestellungen, denen in diesen Büchern nur wenig Platz eingeräumt wird. Darüber hinaus gewährt es Einblicke in die (mittel-)europäische Rechts- und Mentalitätsgeschichte. Dem juristischen Sujet entsprechend formuliert der Autor präzise und definiert klar; umso auffallender ist es dann, wenn sich doch einmal ein terminologischer Widerspruch einschleicht wie der „Jesuitenmönch“ auf Seite 206. Ein Literaturverzeichnis ist dem Buch beigefügt. Leider fehlt ein Schlagwortverzeichnis, das sich trotz der kleinteiligen Kapitelunterteilung des Buches bei über 250 Seiten Text doch als nützlich erweisen würde.


Harald Grauer, Sankt Augustin