Gesellschaft

Karlheinz Stockhausens „Sonntag aus Licht“ uraufgeführt

(Letzter Bericht: 8/2010, 308ff) Als der Komponist Karlheinz Stockhausen vor rund acht Jahren seinen Mega-Opernzyklus „Licht“ vollendete, wurde dies kaum zur Kenntnis genommen, obwohl seitdem ein Opus magnum vorliegt, das in der Musikgeschichte einmalig sein dürfte und Wagners „Ring“ zu einem kurzen Menuett schrumpfen lässt: 29 Stunden Musik, verteilt auf sieben, nach den Wochentagen benannten Teilopern, an denen der Meister ungefähr 25 Jahre lang gearbeitet hat.Dass die Intendanten nicht sofort danach lechzten, ihre Opern im wahrsten Sinne des Wortes zu „Licht-Spielhäusern“ zu machen, hatte mehrere Gründe: Zum einen waren die bis dahin gezeigten Opern „Donnerstag“, „Samstag“, „Montag“, „Dienstag“ und „Freitag“, die in Mailand bzw. im Falle des „Freitags“ und „Dienstags“ in Leipzig über die Bühne gegangen waren, dank Stockhausens Einfallsreichtums und Klangansprüchen äußerst aufwendige Produktionen, zum anderen bestätigten sie Kritiker in ihrem Verdacht, dass sie vor Stockhausen’scher Privatmythologe und -religion nur so trieften, also für ein gewöhnliches Opernpublikum schwer verdaulich bis unzumutbar seien. Als sich der „Zeit“-Redakteur Claus Spahn einer nahezu vollständigen „Licht“-Aufführung im heimischen CD-Player hingab, fragte er sich und seine Leser hinterher: „Ist es nicht ein komisches Gefühl, an einem Gottesdienst teilzunehmen, dessen religiöse Botschaft man nicht teilt?“ „Licht“ nicht als einen solchen „Gottesdienst“ zu inszenieren, kam für niemanden infrage, da eine Aufführung ohne Einfluss und Mitwirkung des Komponisten schlichtweg nicht denkbar war. Doch am 5. Dezember 2007 starb Karlheinz Stockhausen, und die große Lücke, die sein Tod in der Musiklandschaft der Gegenwart hinterließ, machte es nun ebenso möglich wie reizvoll, diesen Komponisten (neu) zu entdecken. Plötzlich wurden Projekte möglich, die man kurze Zeit zuvor noch für unrealisierbar gehalten hätte, so etwa eine Gesamtaufführung von „Klang – Die 24 Stunden des Tages“, ein unvollendet gebliebener Zyklus, der nach „Licht“ entstand und 2010 in Köln inszeniert wurde. Ebenfalls in Köln wagte man sich nun an den ganz großen Wurf und brachte im April 2011 den angeblich unaufführbaren „Sonntag aus Licht“ auf die Bühne. Dass sich jedoch die Schwierigkeiten eines solchen Projekts mit Stockhausens Tod nicht einfach in Luft aufgelöst hatten, zeigte das Gerangel Kölner Politiker um einen städtischen Zuschuss in Höhe von 450 000 Euro, und das ganze Vorhaben hing wohl mehr als einmal am seidenen Faden.Doch die Mutigen in der Kölner Kultur und Politik können sich bestätigt fühlen, denn die Aufführungen waren nicht nur ausverkauft, sondern veranlassten die Medien zu geradezu euphorischen Lobeshymnen. „Die Welt feiert Kölns Stockhausen-Spektakel“, titelte beispielsweise der Kölner „Express“, und die „Frankfurter Rundschau“ schrieb: „‚Sonntag aus Licht’ in Köln – das ist ein Erlebnis. Eins, und das ist ganz ernst gemeint, das man sich – wie Oberammergau – alle zehn Jahre gönnen kann. Es ist auch für den Nichtgläubigen erbaulich und schärft die Sinne für das, was es sonst noch so gibt: an Musik und Welt und Utopie.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach von einem „Opernerlebnis, das in jeder Hinsicht neue Dimensionen eröffnet“, und selbst die ARD-„Tagesthemen“ und die „Washington Post“ widmeten sich dem Kölner „Stockhausen-Wahnsinn“, so nochmals der „Express“ in durchaus anerkennender Weise.Sicherlich war es nicht zuletzt die äußerst kreative und gelungene Inszenierung des sechsstündigen Sonntags-Marathons, die begeisterte. Es gab phantastische visuelle Effekte, für die eigens 3-D-Brillen verteilt wurden. Die ersten beiden Teile konnte man bequem in einem Liegestuhl genießen, in einer Szene gab es wunderbare Weihrauchdüfte und faszinierenden Feuerzauber zu erleben, und am Schluss hieß es, durch das Geschehen sozusagen hindurchzuwandeln. Endlich einmal wurde dem Publikum mehr zugemutet als ein stundenlanges Stillsitzen- und Zuhörenmüssen und das Starren auf eine Guckkastenbühne. Stockhausen hätte diese fast interaktive, zweifellos aber zukunftsweisende Form einer Operninszenierung bestimmt sehr gefallen.Dass seine Lebensgefährtin und Assistentin Kathinka Pasveer ihren Aufgabenbereich auf die Sicherung der musikalischen Qualität im Sinne des Meisters beschränkte, ermöglichte es dem katalanischen Ensemble La Fura dels Baus unter Leitung von Carlus Padrissa, seine ganz eigenen Vorstellungen einer Umsetzung des „Sonntags“ zu verwirklichen. Dass die Intentionen Stockhausens trotzdem gewahrt wurden, garantierte der aus Berlin stammende Dramaturg und Stockhausen-Experte Thomas Ulrich, übrigens ein pensionierter evangelischer Pfarrer. Somit ergab sich eine geglückte Balance aus Werktreue und bisweilen fast ironischer Distanz. Als zum Beispiel die Namen katholischer Heiliger zu hören waren, wurden nicht etwa deren Portraits auf die Leinwand projiziert, sondern schwebende Buddha-Figuren.Trotzdem konnte und wollte die Inszenierung natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der „Sonntag“ ohne Stockhausens Weltanschauung nicht zu haben ist. Die sechs, allesamt mit Bindestrich-Titeln versehenen Teile der Oper („Lichter-Wasser“, „Engel-Prozessionen“, „Licht-Bilder“, „Düfte-Zeichen“, „Hoch-Zeiten“ und „Sonntags-Abschied“) verstehen sich als Gotteslob in einem zwar durchaus katholischen, aber gleichzeitig weit über einzelne Religionen und Konfessionen hinausweisenden Sinne. Stockhausens Werk und Weltbild wurden Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre zu einem Tummelplatz verschiedenster spiritueller Traditionen wie des rheinischen Katholizismus, der Lehren Sri Aurobindos und Hazrat Inayat Khans, der Offenbarungen Jakob Lorbers und des „Urantia“-Buchs sowie esoterischer Richtungen wie der Astrologie und Theosophie (s. MD 2/2008, 73ff).Davon zeugt auch der „Sonntag“, und einmal mehr reagierte die Kritik darauf trotz allen Lobs indigniert. „Dieses sonderbare kultische Weihefestspiel“ – gemeint ist vor allem die weihrauchreiche Szene „Düfte-Zeichen“ – „befremdet zweifellos“, meinte die „Neue Zürcher Zeitung“. Das alles erinnere „an Eurythmie-Abende im Gemeindezentrum ... oder ans bubenhafte Nachspielen von Szenen aus ‚Star Wars‘“, schrieb das Konkurrenzblatt Zürcher „Tages-Anzeiger“. „Und der Abstand ist einfach zu groß zwischen den Beschwörungsritualen in erdenfernen Sphären und der realen Menschenwelt hier unten, als dass man sich als Hörer dazu in Beziehung setzen könnte. Es sei denn, man ist Stockhausen-Jünger und glaubt von Herzen an die frohen Botschaften“, so die „Zeit“.Sicherlich: Stockhausens Weltanschauung ist nicht so eindeutig wie der triumphalistische Katholizismus eines Olivier Messiaen oder die klassenkämpferische Kunst eines Luigi Nono, doch gerade das verschafft Stockhausens Ideologie bzw. Theologie eine großzügige Weite, wie auch die „Zeit“ zugeben musste: „Es gibt so viel Musik von Gegenwartskomponisten, die ihre Hörer grimmig am Kragen packt und ungeduldig auf sie einredet. Stockhausen hingegen verweist mit der entspannten Geste des kompositorischen Großgrundbesitzers auf seine prachtvollen Ländereien bis zum Horizont: Lustwandelt in meinem Reich!“ Das Publikum lustwandelt offenbar gern, der abgedroschene Vorwurf, Stockhausen huldige (s)einer Privatreligion, trifft nämlich entweder viele oder keinen. Denn in einer Zeit, in der eine Pfarrerin der Zürcher Landeskirche mit deren Wissen und Billigung auch Schamanin sein darf, in der mehr als ein Drittel der Kirchgänger beider Konfessionen an Reinkarnation glaubt und in der Esoterik das Programm vieler kirchlicher Bildungshäuser bestimmt, ist nicht einzusehen, warum ein Komponist nicht eine katholische Heiligenverehrung zusammen mit dem Raunen von der kosmischen Luzifer-Rebellion aus dem „Urantia“-Buch in 29 Stunden Musik packen darf. Stockhausens Religiosität ist so komplex und polyphon wie seine Klänge, aber gerade das macht sie zu einem Spiegelbild für die Religiosität unserer Zeit. Leider haben das viele Damen und Herren des Feuilletons immer noch nicht begriffen, und so stören sie sich an etwas, was für viele Opernbesucher längst eigene Glaubenspraxis und daher alles andere als störend sein dürfte. Wer weiß: Vielleicht hat Stockhausen ja nicht nur angedeutet, wie die Musik der Zukunft klingt, sondern auch, wie die Religiosität der Zukunft aussieht – mag einem das als katechetisch gefestigtem Christenmenschen auch noch so sehr Schauer über den Rücken jagen. Doch selbst dann ist man nicht berechtigt, an Stockhausens tiefer persönlicher Frömmigkeit zu zweifeln, die trotz allen Synkretismus bisweilen viel katholischer war als die vieler Katholiken.Es bleibt zu hoffen, dass der Erfolg des „Sonntags“ nun mutige Intendanten ermuntert, sich irgendwann auch an den „Mittwoch“ und damit den letzten noch nicht gezeigten „Licht“-Teil zu wagen – inklusive eines in vier Helikopter verfrachteten Streichquartetts, eines tanzenden Kamels und der zu den Klängen eines Gottesdienstes im venezianischen Markusdom musizierenden „Orchester-Finalisten“. Wie schrieb die „Zeit“ so schön? Das „wollen wir natürlich auch noch erleben“.


Christian Ruch, Chur/Schweiz