Wolf Krötke

Karl-Marx-Jahr 2018: Was bleibt vom Marxismus?

Rückblick und Ausblick aus der Sicht evangelischer Theologie

1 Der Anspruch des Marxismus: die Welt verändern

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ So steht die 11. Feuerbachthese von Karl Marx auch heute noch wie in realsozialistischen Zeiten seit 1953 in goldenen Lettern auf Marmorgrund im Foyer der Berliner Humboldt-Universität. Als nach 1989 mit der „Veränderung der Welt“ Schluss war, welche die Staatspartei SED im Osten Deutschlands vierzig Jahre lang betrieben hatte, kam verständlicherweise die Forderung auf, diesen Spruch als Eingangstor zu einer Stätte der Wissenschaft, die ohne Interpretieren der Zeugnisse menschlichen Forschens und Geisteslebens nicht sein kann, zu entfernen. Diese Forderung hat sich nicht durchgesetzt. Da half auch nicht der Hinweis, dass der Spruch in der Form, die ihm Friedrich Engels gab, gar nicht von Marx stammte und von ihm auch nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war. Denn Engels hatte den Gegensatz zwischen Interpretieren und Verändern durch die Hinzufügung eines „aber“ noch verschärft. Bei Marx selbst hieß es: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“.

Das trifft durchaus – wie wir gleich noch sehen werden – einen Nerv des Denkens von Karl Marx. Aber es trifft kaum die Inanspruchnahme dieses Satzes, den die SED nach 1953 auch 1964 in der Karl-Marx-Erinnerungsstätte in Berlin-Stralau in Sandstein schlitzen ließ. Denn dass Marx die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinn hatte, welche in der DDR etabliert wurden, lässt sich im Grunde aus keinem Text des Werkes von Marx schlüssig begründen.

Die Humboldt-Universität von heute hat dieses Problem trickreich durch eine künstlerische Installation umschifft, indem sie die Treppen zum Marx-Engels-Spruch mit der Warnung „Vorsicht Stufe“ versehen hat. Die Absicht dabei ist, dass dieser vergoldete Spruch „als Denkmal geschützte Provokation“ und „gleichzeitig als Zeichen historischer Toleranz und innerer Befriedung eines ehemals gespaltenen Landes“ wahrgenommen werden soll.2 Das ist eine edle Absicht. Sie erfüllt insofern auch ihren Zweck, als man stutzt, wenn man die Treppen zu diesem Satz emporsteigt und so vielleicht angehalten wird, darüber nachzudenken, was er bedeutet und was unter Berufung auf ihn an Gesellschaftsveränderung in der DDR ins Werk gesetzt wurde.

Ob der Satz allerdings zu „historischer Toleranz“ und „innerer Befriedung“ von Menschen im wiedervereinigten Deutschland aufruft, lassen wir hier dahingestellt sein. Denn er ist so, wie ihn die SED verstand, aggressiv. Er blockiert das niemals abgeschlossene freie Fragen und Forschen nach dem Woher und Wohin der Gesellschaft und unseres eigenen Lebens. Marx selbst verstand zwar seine Analyse der ökonomischen Verhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“3. Doch eine praktische Verwirklichung dieser Auflösung war für ihn Zukunftsmusik. Es „kömmt“ erst „darauf an“, es zu verwirklichen! Die Inanspruchnahme der 11. Feuerbachthese durch die marxistisch-leninistische Weltanschauung aber besagte: Das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“ wird schon gegenwärtig verwirklicht. Es kommt jetzt nur noch darauf an, es mit der Macht des sozialistischen Staates in der Gesellschaft durchzusetzen.

Im Jahr 2018, in dem sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200. Mal jährt, unterliegt diese Inanspruchnahme von Marx allseits der Kritik. Er soll von dem Ruch befreit werden, der Inspirator von unterdrückenden Gesellschaftssystemen zu sein, die es im sogenannten „Ostblock“ die Menge gab und die heute in Nordkorea oder Kuba in unterschiedlicher Weise noch auf dem Plane sind. Dieses Bemühen ist berechtigt, weil Marx selbst die proletarische Revolution als den Anbruch eines „Reiches der Freiheit“ erhoffte.

Verhältnismäßig gering scheint gegenüber den vielen und durchaus sehr unterschiedlichen Würdigungen von Karl Marx in diesem Gedenkjahr aber die Lust von Theologie und Kirche zu sein, sich nach dem Ende des Lutherjahrs nun mit ihrem Verhältnis zu Marx und zum Marxismus ausführlicher zu beschäftigen. Das erstaunt ein bisschen. Dieses Verhältnis war nämlich in der Zeit, als der Marxismus-Leninismus fast die halbe Welt beherrschte, so intensiv, dass man sich fragen muss, ob das denn nicht wenigstens Spuren hinterlassen hat, die auch heute im Leben unserer Kirche zu bemerken sind.

2 „Besseres Staatswesen“ – „gerechteres Zusammenleben“?

Es ist nicht möglich, hier die ganze Geschichte der Aneignung des Marxismus in Kirche und Theologie und die Auseinandersetzungen, die das auslöste, zu schildern. Wir müssen uns mit ein paar Schlaglichtern begnügen.

Nach 1945 nahm die Marxrezeption in der Kirche ihren Anfang durch das sog. „Darmstädter Wort“ von 1947. Es ist vom „Bruderrat“ der Bekennenden Kirche aus der NS-Zeit, der noch bis 1952 – freilich ohne Leitungsbefugnisse in den Landeskirchen – weiter tagte, verfasst. In ihm wurden „Irrwege“ der Kirche, die schon vorder Nazizeit begannen, benannt und bekannt. In der 5. These dieses Wortes heißt es: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“ Auf diesem Hintergrund wird in der 2. These beklagt, dass die Kirche das „Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur … gut geheißen“ habe. Wenn dann in der 7. These zur Verantwortung „für den Aufbau eines besseren Staatswesens“ aufgerufen wird,4 dann musste das natürlich so verstanden werden, dass der „ökonomische Materialismus“ und seine „Revolution“ zu den Grundlagen des „besseren Staates“ gehören müssen.

So wurde es denn auch verstanden und hat darum im Westen, aber zunächst auch im Osten große Kritik geerntet. Von östlicher kirchlicher Seite wurde diesem Wort vorgehalten, dass es ignoriere, wie die Praxis des „ökonomischen Materialismus“ in der Realität aussehe. Es werde völlig übersehen, dass die Menschen und die Christenheit im Namen des Marxismus-Leninismus wieder unter eine Diktatur geraten seien.5 Die Klagen über das Machtgebaren des sozialistischen Staates ziehen sich im Grunde denn auch durch alle östlich-kirchlichen politischen Stellungnahmen – nicht nur dieser Frühzeit des sozialistischen Systems.

Nach dem Mauerbau 1961 aber änderte sich die Tonlage. Die Kirche musste sich darauf einstellen, auf unabsehbare Zeit im „real existierenden Sozialismus“ zu leben. Das hat das Bestreben beflügelt, sich mit dem sozialen Grundanliegen dieses Staatswesens ins Benehmen zu setzen. In einem Brief der Bischöfe der DDR-Landeskirchen an den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht vom 15.2.1968 heißt es aus Anlass der Einführung der neuen DDR-Verfassung dementsprechend: „Wir sehen uns vor die Aufgabe gestellt, den Sozialismus als Gestalt gerechteren Zusammenlebens zu verwirklichen.“6 Was dieser Komparativ konkret bedeutet, wird nicht gesagt. Er erinnert aber deutlich an die Rede vom „besseren Staatswesen“ im Darmstädter Wort. Dieser Komparativ konnte nur so verstanden werden, dass ein „gerechteres Zusammenleben“ gemeint ist als in der von der „sozialen Marktwirtschaft“ geprägten westlichen Gesellschaft. Und in der Tat hat sich der Berliner Bischof Albrecht Schönherr am 23. Juni 1970 im Zuge der von ihm bejahten Formel, der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wolle „Kirche im Sozialismus (nicht neben und gegen ihn)“ sein, auf das Darmstädter Wort bezogen.

Im Unterschied dazu hat es in Westdeutschland nie eine offizielle kirchliche Rezeption dieses Wortes gegeben. Diejenigen, die es bejahten, aber sammelten sich in sogenannten „Bruderschaften“, die auch – z. B. in der Prager „Allchristlichen Friedenskonferenz“ – den Schulterschluss mit Theologen und Kirchenleuten suchten, die sich in der DDR für das sozialistische Gesellschaftssystem einsetzten. Allerdings war die regelrechte Marx-Euphorie, die im Gefolge der Studentenbewegung von 1968 in Theologie und Kirche der Bundesrepublik beträchtliche Kreise zog, von anderer und stürmischerer Qualität.

3 Den Sozialismus „verbessern“?

Einer der wichtigsten Repräsentanten für die Marx-Rezeption in der Bundesrepublik war unter vielen anderen der Westberliner Theologe Helmut Gollwitzer. „Dank an Karl Marx“ hat er 1983 zu dessen 100. Todestag seine Würdigung von Karl Marx überschrieben, die in seinen „Aufsätzen zu christlichem Glauben und Marxismus“ 1988 noch einmal veröffentlicht wurde.7 Marx habe die Augen dafür geöffnet, dass die bürgerliche Gesellschaft, die auf einem System der Privilegierung der besitzenden Klasse beruhe, überwunden werden müsse. Nur so könne eine wahrhaft menschenwürdige „sozialistische Gesellschaft“ entstehen.

Angesichts dessen, dass der Kapitalismus global das „wachsende Weltelend“ verursache, bedürfe es einer „nicht notwendig mit Gewalt“ (!) verbundenen „planetarischen Revolution“ mit einer „massenhaften Hebelkraft für die Überwindung des kapitalistischen Systems“.8 Dass sich jedoch – mit einem Wort von Lenin – die „Arbeiteraristokratie“ in der kapitalistischen Gesellschaft durchaus nicht als proletarische, revolutionäre Kraft darstellt, wird auf die Verschleierungskünste des dem Kapitalismus hörigen Staates mit seiner Ideologie der „sozialen Marktwirtschaft“ zurückgeführt. Marx hilft, den Schleier wegzuziehen. Darum gebührt ihm Dank.

In der DDR durften Texte wie der eben zitierte nicht veröffentlicht werden. Wenn man sich auf sie bezog, wurden von der Zensur sogar die Namen derer gestrichen, die dergleichen vertraten. Denn diese christlicheInanspruchnahme von Karl Marx galt als „Revisionismus“, der als noch gefährlicher angesehen wurde als der offene Angriff des Klassenfeindes. Er unterhöhlte mit seinem Appell an die „Hebelkraft“ von Massen den Anspruch der Partei, Führungskraft bei einer sozialistischen Gesellschaftsgestaltung zu sein. Hinzu kam, dass die Option für eine „planetarische Revolution“ sich auf die im katholischen Raum entstandene lateinamerikanische „Theologie der Befreiung“ berief.

Zur DDR-Politik gehörte zwar die Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der sogenannten „Dritten Welt“. Aber dass die marxistischen Kategorien, die Befreiungstheologen wie Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez bei ihrer Analyse der Verarmung dieser Welt verwendeten, auch zur Kritik an der „strukturellen Gewalt“ in der sozialistischen Gesellschaft werden konnten, wollte man nicht dulden. Noch weniger galt das für den Einfluss derjenigen Marxisten, die für eine Demokratisierung des östlichen Gesellschaftssystems eintraten.

Dazu gehörte der aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtete Philosoph Ernst Bloch. Er verstand Marx als Vertreter einer Utopie, welche bei Menschen die gesellschaftsverändernde Energie der Hoffnung auslöst. Er wurde in der auch in der DDR verbreiteten „Theologie der Hoffnung“ von Jürgen Moltmann als Verbündeter der christlichen Reich-Gottes-Hoffnung in Anspruch genommen.9 Nicht weniger haben Marxisten wie Milan Machovec und Vitezslav Gardavky mit ihrer Vision eines „Sozialismus mit menschlichem Angesicht“, dessen Realisierung 1968 von den Sowjets in der Tschechoslowakei niedergewalzt wurde, viele Menschen in dem Bemühen beflügelt, den Sozialismus demokratisch zu verbessern.

Doch von einem „verbesserlichen Sozialismus“, für den sich Heino Falcke 1972 auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirche in Dresden einsetzte, wollte die SED nichts wissen. Falckes Vortrag „Christus befreit – darum Kirche für andere“ durfte in der DDR nicht veröffentlicht werden.10 „Kirche für andere“, wie sich der Bund der Evangelischen Kirche unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer nannte, durfte nur eine die realsozialistische Gesellschaftsordnung anerkennende Kirche sein und nicht mit dem Anspruch auftreten, sie verbessern zu wollen. Dieser Anspruch aber war unter Berufung auf Bonhoeffers Diktum, dass Christus zu „mündiger Weltverantwortung“ befreie, gar nicht zu vermeiden. Er hat vor allem an der Basis der Gemeinden zu Initiativen beigetragen, die sich für „Verbesserungen“ realsozialistischer Gesellschaftspraxis im Namen mündiger Bürgerinnen und Bürger einsetzten.

Zwar hat es – besonders an der Sektion Theologie der Humboldt-Universität – Versuche gegeben, mit Bonhoeffers Theologie der Gefängnisbriefe eine kritiklose Einstimmung der Kirche in die sozialistische Gesellschaftspraxis und sogar in die atheistische Weltanschauung des „dialektischen Materialismus“ zu begründen.11 Aber das galt in der Kirche als absurde Abseitigkeit. Die Bereitschaft, an einem „besseren Sozialismus“ mitzuwirken, aber war ernst gemeint; so ernst, dass sie auch nach dem Fall der Mauer von gewichtigen Stimmen aus der Kirche zum Ausdruck gebracht wurde.

Fünf Tage nach dem Fall der Mauer hat sich Manfred Stolpe in Greifswald bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde „für einen wirtschaftlich effektiven, sozial gerechten, demokratischen, moralisch sauberen und den Menschen zugewandten Sozialismus“ ausgesprochen.12 Und als sich gegen Ende des Jahres 1989 die Möglichkeit der deutschen Wiedervereinigung abzeichnete, stand die Unterschrift vieler Christinnen und Christen mit und ohne wichtige Funktionen in der Kirche und der christlich motivierten Bürgerbewegung unter dem Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989. In ihm wurde gefordert, in der DDR „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ und das heißt zu einer vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft „zu entwickeln“.

Wie wir wissen, ist es aufgrund des wirtschaftlichen Bankrotts der DDR, der andauernden Flucht von Menschen aus der DDR13 und des Tempos der deutschen Wiedervereinigung nicht dazu gekommen. Die Stimmen in Theologie und Kirche, die sich für eine vom Marxismus bestimmte Gesellschaftsordnung aussprachen, sind nach und nach verstummt. Bleibt darum die Öffnung von Theologie und Kirche für den Marxismus nur eine Episode in der Kirchengeschichte, die der Vergessenheit anheimfallen kann? Um auf diese Frage zu antworten, ist es geraten, auf Karl Marx selbst zu hören.

4 Der Mensch – das höchste Wesen für den Menschen

Nicht nur auf den ersten Blick sperrt sich die Philosophie von Karl Marx entschieden dagegen, von einer religiösen Position her aufgenommen zu werden. Sein Werk ist voll von Verächtlichmachung einer christlich-sozialen Weltveränderung. „Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln, und bedürfen keiner ferneren Entwicklung durch preußische Konsistorialräte“, sagt er bissig.14 Seine Philosophie ist grundsätzlich atheistisch. Das heißt: Der Atheismus ist seinem Denken nicht nur ein von seinen sonstigen Einsichten ablösbares Beiwerk. Er hat fundamentale Bedeutung, weil im Grunde alle Fehlentwicklungen in der Gesellschaft auf die „Religion“ zurückgeführt werden. Unter Religion wird dabei nicht nur die Kirche verstanden, sondern auch die Kultur und der Staat, die uns Menschen – und das ist entscheidend – ein verkehrtes Bewusstsein von uns selbst und unserer Welt vermitteln.

Zu dieser Überzeugung ist Karl Marx deshalb auch nicht durch eine intensive Beschäftigung mit der Religion in den Kirchen jener Zeit gekommen. Diese Überzeugung war vielmehr eine philosophische Position, zu der er sich bei seinem Studium in Berlin entschieden hatte. Dort stand zu seiner Zeit alles im Banne der Philosophie des absoluten Geistes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel erklärte unsere Wirklichkeit so, dass der absolute Geist – also Gott oder das Göttliche – sich im Bewusstsein von Menschen in der irdischen, endlichen Welt entäußere und entfremde, um sich in diesem Selbstbewusstsein in der Geschichte Stufe für Stufe fortschreitend wieder mit ihm zu vereinen und zu versöhnen.

Karl Marx schloss sich demgegenüber den sogenannten „Linkshegelianern“ an. Sie interpretierten Hegel so, dass der absolute Geist in Wahrheit das menschliche Bewusstsein sei, das seine Selbstentfaltung irrigerweise für eine Dimension des göttlichen Geistes hält. Diesen Irrtum hat nach Marx Feuerbach gültig aufgedeckt. „…es gibt keinen anderen Weg … zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart“, urteilte Marx über Feuerbachs Hauptschrift „Das Wesen des Christentums“.15

Darum beginnt der berühmteste religionskritische Text von Marx (nämlich die Einleitung zu der Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1843/1844), in dem er die Religion als „Opium des Volks“ bezeichnet, mit der Feststellung: Die „Kritik der Religion“ ist „im Wesentlichen beendet“.16

Marx hielt es mit Feuerbach für entschieden, dass Religion die „Projektion“ von Eigenschaften der menschlichen Gattung „an den Himmel“ ist. Weil Menschen als Einzelne in ihrem wirklichen Leben nie alle ihre Eigenschaften als Menschen entfalten können, verehren sie sie in einem anderen, göttlichen Wesen. Sie entfremden sich (Hegel lässt grüßen!) dadurch von sich selbst. Sie machen sich selbst arm, um ein „abstraktes, unsinnliches, von der Natur und dem Menschen unterschiedenes Wesen“ reich zu machen. Die Kritik dieses Vorgangs gibt der Menschheit dagegen die Bedeutung wieder, die sie an Gott verloren hat. Sie gibt ihr die Gottesprädikate zurück. Darum gilt: „Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetz dieLiebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini deus est (der Mensch ist dem Menschen ein Gott) – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.“17

Bei Marx begegnet dieser Satz verändert und mit einem entscheidenden Zusatz, mit dem er über die Liebesideologie von Feuerbach hinausgeht: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also (!) mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“18 Dieser „Also-Satz“, der auf die Revolution des Proletariats jener Zeit abzielt, hat es in sich. Wir können ihn hier gar nicht vollständig ausloten. Aber mindestens drei wesentliche Überzeugungen von Marx sind in ihm verankert bzw. verborgen und nach 1843 weiterentwickelt worden.

5 Drei echte Marxismen

5.1 Religion als Opium des Volks

Die Kritik der Religion durch Feuerbach leidet nach Marx daran, dass sie zu abstrakt ist. Sie redet vom Menschen mit seinen Eigenschaften so, als sei er ein „außer der Welt hockendes Wesen“19. Menschsein aber bedeutet Tätigkeit, Praxis. Das war für Marx an erster Stelle die Arbeit, durch die Menschen auf die Natur einwirken und sie sich für ihr Leben zunutze machen. In der Arbeit entfalten sie ihre Wesenskräfte. In der von der kapitalistischen Produktionsweise bestimmten Gesellschaft aber wird diese Entfaltung pervertiert. Menschliche Arbeitskraft wird selbst zur Ware. Was Menschen produzieren, hat mit ihnen selbst gar nichts mehr zu tun. Sie entfremden sich (!) von ihrem wahren Wesen; mehr noch, sie verelenden durch die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Hier greift nun die Religion ein, die – wie schon gesagt – vorgängig vom Staat einer solchen Gesellschaft befördert wird. Er verschafft der „Basis“ der ökonomischen Wirklichkeit einen „Überbau“, der die sich selbst entfremdeten Menschen auf illusorische Weise über ihre wahre Verfassung hinwegtröstet. Darum wird Religion mit den folgenden berühmten Formulierungen charakterisiert: „Religion ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt … Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt … Sie ist das Opium des Volks.“20

Wladimir Iljitsch Lenin hat den letzten Satz verfälscht und Religion als „Opium für das Volk“ definiert. Er hat ihn im Sinne eines Priesterbetrugs verstanden. Dem Volk werden absichtlich Betäubungsmittel verabreicht. Lenin hat mit dieser Lesart der massenweisen Ermordung von Priestern in der Sowjetunion durch die Bolschiwiki den Weg bereitet.

Bei Marx ist die Charakterisierung der Religion als „Opium des Volks“ im Unterschied dazu ein Ausweis der Hilflosigkeit einer Gesellschaft, welche die wahren Ursachen der menschlichen Entfremdung nicht zu erkennen vermag. In der Religion kommt die Ergebungin das Schicksal der Entfremdung ebenso zum Ausdruck wie der Protest dagegen im Ausblick auf bessere Zustände „im Himmel“. Dagegen hilft nur, dass die „Waffe der Kritik“ an der Religion „zur Kritik der Waffen“ wird, zur radikalen, „materiellen“, gewaltsamen Veränderung der gesellschaftlich-ökonomischen Zustände, welche die Religion entstehen lassen. Dass diese Kritik, wenn sie erfolgreich sein will, die „Massen“, allen voran die Massen des ausgebeuteten Proletariats, ergreifen muss,21 war darum das erklärte Ziel von Marx. So„kömmt es darauf an, die Welt zu verändern“!

5.2 Historischer Materialismus

Marx hat sich nicht damit begnügt, seine Kritik nur auf die Gesellschaft seiner Zeit zu beziehen. Als Hegelianer ging es ihm darum, eine Gesetzmäßigkeit der Weltgeschichte aufzudecken. Er hat es darum unternommen, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit schon auf den Beginn der Menschheitsgeschichte und ihre gesamte historische Entwicklung zurückzuführen. Deshalb verstand er seine Philosophie als „historischen Materialismus“.

Der Begriff „Materialismus“ hat dabei mit dem Begriff „Materie“ im naturwissenschaftlichen Sinne überhaupt nichts zu tun. Er bezeichnete die materiellen ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der historischen Menschheitsentwicklung. Friedrich Engels hat dem dann leider den von Lenin in seiner Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ aufgenommenen „dialektischen Materialismus“ hinzugefügt. Danach wird alles Wirkliche auf die „Materie“ als einer bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit zurückgeführt – eine in naturwissenschaftlicher Sicht unhaltbare Behauptung, die freilich noch in den Köpfen vieler Menschen herumspukt, die in sozialistischen Zeiten sozialisiert und indoktriniert wurden. Marx selbst hatte an solchen Spekulationen über die „Materie“ überhaupt kein Interesse. Ihm ging es um die materielle gesellschaftliche Wirklichkeit.

Das Problem, das diese Wirklichkeit schafft, hat er in der Arbeitsteilung begründet gesehen. Ursprünglich in der „Urgesellschaft“ drückten Menschen in der Bearbeitung der Natur gemeinsam ihr wahres Wesen aus. Mit der Arbeitsteilung aber stellten sie nur noch einzelne Produkte her, die zur von ihnen unabhängigen Ware und zum Geldwert in den Händen der Besitzer der Produktionsmittel wurden. Es entstand die Klasse der Besitzer und die der Nichtbesitzenden. Im kommunistischen Manifest von 1848 wird darum die ganze Menschheitsgeschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen dargestellt, welche durch die technische Entwicklung und die Produktionsverhältnisse (d. h. die Eigentums- und Gesellschaftsordnung) vorangetrieben wird. Marx unterscheidet fünf Phasen dieser Geschichte: Die Urgesellschaft, die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus, den Kapitalismus und den Sozialismus, den er auch Kommunismus nennt, weil dann die Produktionsmittel allen gemeinsam gehören und es kein Privateigentum mehr gibt.

Über die konkrete Gestaltung der Gesellschaft im Kommunismus erfahren wir bei Marx ganz wenig. Was wir aber erfahren, klingt abenteuerlich, weil es die Verhältnisse im Kommunismus ähnlich wie die in der „Urgesellschaft“ schildert. Kein Mensch ist dann mehr darauf festgelegt, in einem bestimmten Beruf „Zwangsarbeit“ zu tun und sich also zu entfremden. Die „kommunistische Gesellschaft“ ermöglicht es ihm, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren“, wie jeder „gerade Lust“ hat und „ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“.22 In dieser Weise sei der „Kommunismus … vollendeter Naturalismus = Humanismus“ und das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“.23

5.3 Das Kapital

Damit das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“ verwirklicht werden kann, muss der Kapitalismus die Verelendung des Proletariats, der „Klasse mit radikalen Ketten“,24 so weit treiben, dass diese Klasse genötigt ist, ihre Ketten abzuwerfen und die universale, weltweite Bestimmung der Menschheit zur Betätigung ihrer Wesenskräfte in Gang zu setzen. Mit dem Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ endet deshalb das „Kommunistische Manifest“.

Wenngleich diese Schrift ein wesentlicher Schrittmacher der Arbeiterbewegung in Europa war, der wir bis heute sehr viel verdanken, fehlte ihr freilich der Nachweis, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise notwendig in eine solche revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft hineinführe. Karl Marx hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, das Kollabieren des Kapitalismus wirtschaftswissenschaftlich zu begründen. Er arbeitete in diesem Sinne bis zu seinem Tode an seinem Hauptwerk „Das Kapital“. Friedrich Engels hat es die „Bibel des Kommunismus“ genannt. Doch diese Bibel blieb Fragment. Nach langem Zögern hat Marx 1867 den ersten Band veröffentlicht, der 1872 noch einmal aufgelegt wurde. Den zweiten und dritten Band hat Friedrich Engels posthum nach den Manuskripten überarbeitet und herausgegeben. Der vierte Band blieb ungeschrieben.

Wer dieses komplizierte, ganz schwer zu lesende Buch verstehen will, muss in der Wirtschaftswissenschaft zu Marx‘ Zeiten und auch heute ziemlich kundig sein. Wir sind also darauf angewiesen, uns ein Urteil über dieses Werk aufgrund der Ergebnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu bilden. Sie billigt Marx zu, dass er in mühsamer Kleinarbeit und vor allem fantasievoll dem Funktionieren einer von der Kapital-Akkumulation (der Anhäufung des Kapitals in den Händen weniger) und der vom Markt bestimmten Wirtschaft auf die Spur zu kommen suchte. Sie gibt uns zugleich aber zu bedenken, dass er sich in zwei wesentlichen Punkten geirrt hat. Ich schildere das jetzt so, wie ich es verstanden habe, wobei ich einräume, dass ich es vielleicht zu sehr vereinfache.25

Der eine Punkt ist die Lehre vom Mehrwert. Sie beruht auf der Anschauung, dass sich der Wert einer Ware „objektiv“ an der Arbeitszeit ermesse, die für ihre Produktion erforderlich ist. Ein Rock sei darum z. B. mehr wert als ein Leinentuch, weil auf den Rock mehr Arbeitszeit verwendet werde. Das stimmt aber nicht. Der Wert einer Ware ermisst sich vielmehr daran, was die Kunden dafür zu zahlen bereit sind. Sie können durchaus bereit sein, für ein gutes Leinentuch mehr zu bezahlen als für einen Rock.

Weil die „objektive“ Werttheorie also nicht zutreffend ist, ist auch das andere nicht zutreffend, dass die Kapitalakkumulation dadurch zustande kommt, dass der Kapitalist die Arbeiter mehr arbeiten lässt, als für ihren eigenen Lebensunterhalt erforderlich ist. Sie erfolgt vielmehr dadurch, dass sich das Produkt auf dem Markt durchsetzt. Es kann noch so viel gearbeitet werden – wenn das Produkt sich auf dem Markt nicht durchsetzt, ist es vergebliche Liebesmüh. Das traurige Schicksal der DDR-Produkte auf dem Weltmarkt vor und nach 1989 ist dafür ein spätes Beispiel.

Der andere Punkt ist die Behauptung von Karl Marx, dass die Profitrate im Kapitalismus tendenziell beständig sinken muss. Er hat das damit begründet, dass die Versuche, die Mehrwertproduktion zu erhöhen, tendenziell zu einer Abnahme des variablen Kapitals, das in die Arbeitskraft investiert wird, führen müssen. Da die Lohnarbeit nach Marx die einzige Quelle des Mehrwerts ist und – wie gesagt – die Arbeiter gezwungen werden, mehr zu arbeiten, als dem Wert ihrer Arbeitskraft entspricht, verringert sich die auf der Arbeitskraft beruhende Profitrate. Dadurch geht dem Kapitalismus auf Dauer die Luft aus, während die Arbeiter immer mehr verelenden.

Natürlich steht diese Theorie im Interesse der Überzeugung von Marx, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen scheitern muss und dass es dann mit Notwendigkeit zur proletarischen Revolution kommt. Diese Theorie ist trotzdem nicht richtig und auch praktisch schon im 19. Jahrhundert durch das gewaltige Boomen der Industrialisierung unter den Bedingungen kapitalistischer Marktgesetze widerlegt. Die riesigen Fabrikanlagen, die am Ende des 19. Jahrhunderts z. B. hier in Berlin entstanden, führen uns das ja noch heute ebenso vor Augen wie das Aufblühen dieser Stadt, in der aufgrund der Industrialisierung um 1900 vier Millionen Menschen zusammenströmten – mehr also als heute.

6 Was bleibt vom Marxismus?

Schauen wir uns die Literatur an, die sich heute dieser Frage stellt, dann sticht eine Antwort heraus. Sie lautet: Karl Marx sensibilisiert uns für die Gefahren der kapitalistischen Marktwirtschaft. Deren Triebkraft ist das Wachstum. Es muss immer mehr und immer besser produziert werden, es müssen immer neue Technologien erforscht und angewandt werden, damit sich das Produkt auf dem freien Markt durchsetzt.

Dass die kapitalistische Wirtschaft dadurch regelmäßig in eine Krise gerät, weil die wachsende Überproduktion von Zeit zu Zeit nicht mehr absetzbar ist, ist das eine. Bisher hat sich diese Wirtschaft mit Unterstützung durch den demokratischen Staat immer wieder – wenn auch mit vielen Nackenschlägen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – aus diesen Krisen herausgewurstelt. Als wahrhaft gefährlich aber wird in unserer globalisierten Welt die ungehemmte Ausnutzung der Ressourcen unserer Erde und die damit Hand in Hand gehende Zerstörung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten eingeschätzt. Dagegen steht im dritten Band des „Kapitals“ der weitsichtige Satz: „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind ihre Nutznießer und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“26

Doch wie sehr Marx auch für die Gefahren des Wachstumszwanges der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise sensibilisiert: Einen Ausweg bietet weder seine irrtümliche Mehrwerttheorie noch seine Hoffnung auf eine Revolution des Proletariats, für die westdeutsche Theologen einmal leichtfertigerweise plädiert haben, obwohl sie doch wissen mussten, dass es sich dabei heute nur um blutige Bürgerkriege handeln kann, die erst recht ins Elend führen.

Einen Ausweg hat auch nicht die sozialistische Planwirtschaft mit ihrer Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gewiesen, die sich vom Weltmarkt unabhängig machen wollte. Die östlich-kirchliche Sympathie für dieses Wirtschaftsmodell in den Zeiten des „real existierenden Sozialismus“ hat diesem Modell den Kredit gegeben, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Die billigen Mieten, Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände, Fahrpreise, das Gesundheitswesen, die Krippenplätze und vieles andere mehr sprachen dafür, auch wenn das alles mit Einschränkungen persönlicher Freiheit verbunden war. Nur hatte die Kirche dabei von der Planwirtschaft keine Ahnung, die mit ihrer Ineffizienz und fehlenden Innovationskraft die Vorzüge dieses Systems selbst zugrunde gerichtet hat. Die Ideale sind zwar geblieben, und das merkt man an kirchlichen Stellungnahmen zu gesellschaftlich-ökonomischen Problemen bis heute. Aber dass es vor der sozialen Marktwirtschaft in unserer Industriegesellschaft kein Entrinnen gibt, musste erst gelernt werden.

Diese Wirtschaftsform zu verteufeln, kann keine Option sein; schon darum nicht, weil sie vielen, wenn auch leider viel zu wenigen auf unserer Erde Wohlstand beschert. Aber den demokratischen Staaten, die auf der Anerkennung der Menschenrechte beruhen, zu helfen, ihre Auswüchse und menschheitsgefährdenden Praktiken global und national zu begrenzen, zu verhindern und menschendienlich zu kanalisieren, zählt sehr wohl zum kirchlichen Auftrag von heute und zum Anliegen vieler Christinnen und Christen.

Sie machen sich dabei durchaus nicht das Marx‘sche Urteil zu eigen, „Opium“ schlimmer Verhältnisse zu sein. Sie stimmen vielmehr mit ihm zusammen, wenn sie den „Fetisch“ des Geldes, dem Menschen wie einer Religion anhängen, als „Götzendienst“ kritisieren. Sie halten jedoch seine Ansicht, ihr Glaube verdanke sich fundamental wirtschaftlichen Ursachen, für eine abseitige Idee. Sie nehmen vielmehr Marx selbst kritisch unter die Lupe, der mit seiner abenteuerlichen Theorie von der Klassenkampf-Geschichte der Menschheit am Ende selbst nicht konkret zu sagen vermochte, wie die Zukunft der Menschheit realistisch aussieht – ganz zu schweigen davon, dass er mit dieser Theorie Menschen, die an Gott glauben, unbarmherzig aus der Weltgeschichte hinauskatapultieren wollte. Sie sind im Unterschied dazu Realisten, weil sie sich als Menschen verstehen, die Gott frei macht, mit eigenem Herzen und Verstand für diese Erde und die Menschen, die in der Nähe und Ferne auf ihr leben, Verantwortung zu übernehmen.


Wolf Krötke, Berlin
 

Anmerkungen

  1. Sonntagsvorlesung in der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Nordend am 28. Januar 2017. Zur ausführlichen Darstellung der Marx- und Marxismus-Rezeption in Theologie und Kirche in der Zeit der deutschen Teilung verweise ich auf meine Beiträge in dem Band: Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Theologische Orientierungen im Übergang vom „real existierenden Sozialismus“ zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, Tübingen 1994, sowie auf: Karl Barth und der Kommunismus. Erfahrungen mit einer Theologie der Freiheit in der DDR, Zürich 2013.
  2. www.hu-berlin.de/de/foerdern/was/erfolge/kunst_foyer
  3. Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 40, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1956, 536.
  4. Vgl. Das Darmstädter Wort und der Sozialismus, in: Reinhard Höppner/Michael Karg (Hg.): Das Erbe der Bekennenden Kirche in der DDR, Stuttgart 2014, 93f.
  5. Kurt Scharf: Protokoll der 12. Tagung des Bruderrates der EKD, Detmold, 15./16. Oktober 1947, Zentralarchiv der EKHN, Best. 36, Bd. 6.
  6. Vgl. Ruth Zander/Manfred Punge: Zum Gebrauch der Formel Kirche im Sozialismus, 1988.
  7. Helmut Gollwitzer: Dank an Karl Marx, in: Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, Bd. 1, München 1988, 268-274.
  8. Ebd., 274.
  9. Vgl. Jürgen Moltmann: „Das Prinzip Hoffnung“ und die „Theologie der Hoffnung“, in: ders.: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 31965, 313-334.
  10. Dieser Vortrag wurde 1974 als Anhang an das Votum des (gesamtdeutschen) Theologischen Ausschusses der EKU in der Bundesrepublik gedruckt (vgl. Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde. Barmen II, Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Gütersloh 1974, 213-232).
  11. Hanfried Müller folgerte aus Bonhoeffers Plädoyer für das mündige Christsein, dass die Kirche sich die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus inklusive des Atheismus zu eigen machen müsse und auf jeden eigenständigen Versuch der Weltgestaltung zu verzichten habe.
  12. Verantwortungsgemeinschaft – Christen und Marxisten in der DDR in den Herausforderungen unserer Zeit, Greifswalder Universitätsreden NF 54, Greifswald 1989, 16.
  13. Im November/Dezember 1989 täglich 2000!
  14. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (im Folgenden: MEW), Bd. 4, 65.
  15. Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach, MEW, Bd. 1, 27.
  16. Zur Kritik der Hegelschen Rechtphilosophie, MEW, Bd. 1, 378.
  17. Ludwig Feuerbach, das Wesen des Christentums, Berlin 1984, 444. Mit weniger, als das Rätsel der Weltgeschichte gelöst zu haben, hat sich kein Hegelianer zufriedengegeben!
  18. Zur Kritik (s. Fußnote 16), 385.
  19. Ebd., 378.
  20. Ebd.
  21. Ebd., 385.
  22. MEW, Bd. 40, 33.
  23. Ebd., 536.
  24. MEW, Bd. 1, 390.
  25. Im Folgenden mache ich Gebrauch von einem Vortrag, den Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Magdeburg) unter dem Titel: „Karl Marx – was bleibt vom Kapital?“ am 24.1.2018 im Theologischen Konvikt Berlin gehalten hat. Siehe auch seine im Anschluss an diesen Beitrag dokumentierten Thesen.
  26. MEW, Bd. 25, 784.