Rainer Waßner

Jugend und Religion

Eine Bestandsaufnahme aus religionssoziologischer Sicht

Welche Rolle spielen heute Religion und Kirchen für die Jugend? Auf diese Frage geben die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts zwar keine ganz eindeutige Antwort. Zu vielfältig sind ihre Forschungsabsichten und Problemstellungen, die eingesetzten Erhebungsmethoden, die leitenden theoretischen Muster, die Auswahl der Altersgruppen und Probanden, die Interpretationsschemata. Ein ungefähres Bild der aktuellen Situation kann man sich gleichwohl machen.

Sinn ja, Religion weniger, Kirche am wenigsten

Einen guten Einstieg bietet die Untersuchung von Ziebertz u. a.1 Sie ist international angelegt, methodisch durchdacht, ohne den Anspruch, statistisch repräsentativ zu sein. Die Altersspanne reicht von 14 bis 18 Jahren. Die Blickrichtung der Autoren ist pädagogisch: Wie kann man sich einen Religionsunterricht vorstellen, der die Jugendlichen trotz der bekannten Schwierigkeiten mit dem Christentum vertrauter macht? Man müsse sie, so die Überzeugung, bei ihren Bedürfnislagen und ihrem Verständnis von sich und ihrer Mitwelt und Umwelt abholen, statt ihnen, meist erfolglos, eine zunächst fremde Unterrichtsmaterie aufzupfropfen. Als theoretischer Bezugsrahmen dient dazu der strukturelle Wandel in den Beziehungen von Religion und Gesellschaft. Herausgekommen sind keine spektakulären, dafür plausible Ergebnisse. Religion rückt nicht mehr ins generelle Feindbild ein (wie noch bei den 68ern und ihren Zöglingen). Skepsis und Distanz, mitunter Desinteresse an ihr kennzeichnen zwar die Einstellungen, doch gehört Religion allseits zu den akzeptierten Bestandteilen einer pluralistischen Gesellschaft.

Schwieriger gestaltet sich das Verhältnis zur Kirche, die weithin als verkrustet gilt. Die Autoren definieren abschließend eine Typologie des Abstandes zu ihr, die von Ablehnung bis zu Sympathiewerten reicht. Eine totale Ausrichtung auf Kirche hat Seltenheitswert – wie allgemein in der Gesellschaft, wäre hinzuzufügen: Ein Aufgehen mit Haut und Haaren in einer Institution, einer Organisation oder einer Lehre praktiziert nur eine sehr kleine Minderheit. Der Zugriff auf Religion geschieht nur noch punktuell, fragmentarisch und instrumentell: Was bringt sie mir in einer bestimmten Konstellation? Kompakte Weltanschauung ist out, deren Kohärenz unerheblich. Ein Verständnis von Religion, das andere Religionen nicht ausschließt, bedeutet aber nicht automatisch Dialogbereitschaft. Jeder Jugendliche besteht eher auf „seiner“ Religiosität. Der Anspruch auf Autonomie, Individualität, Subjektivität dominiert alle Facetten der Untersuchung, auch in den durchaus vorhandenen Gottesvorstellungen, die dennoch nicht völlig willkürlichen Linien folgen, sondern an Überliefertes anknüpfen. Auffällig sind die hohen Zustimmungswerte zur rituellen Feier der Lebenswenden (Taufe, Hochzeit, Beerdigung) bei nahezu allen ermittelten Typen.

Ein Werteverfall ist also per se nicht auszumachen. Die Religion ist nur zu einer Orientierungsquelle unter vielen geworden. Wer sie bejaht, pflegt dann sichtlich eine sozial verträgliche Selbstverwirklichung, die bei den „Areligiösen“ – jedenfalls in der Untersuchung – nicht anzutreffen war.

Ich möchte noch einen Punkt unterstreichen. Die Interviewer bemängeln ein Unvermögen, mit metaphorischer Sprache umzugehen. Mit anderen Worten, die Jugendlichen sind sich eines „religiösen“ Problems nicht bewusst, weil sie es gar nicht auf den Begriff bringen können. Entsprechend merkwürdig wirkt die Bibel auf sie. Die Autoren führen dies auf den Einfluss der naturwissenschaftlichen Fächer zurück, in denen das Kausalitätsdenken waltet. Meines Erachtens greift das zu kurz. Generell ist unsere Zivilisation dabei, die sprachliche Tuchfühlung zu einer letzten Realität einzubüßen. Man bewegt sich, bildlich gesprochen, nur in der Horizontale von Raum, Zeit und Kausalität; die Vertikale hingegen bleibt kategorial unzugänglich. Als ehemaliger Hochschuldozent (für Religionssoziologie) kann ich ein Lied davon singen. Es ist ein kulturelles Defizit, um das es hier geht und das jede Vermittlung, nicht nur bei Jugendlichen, erschwert.

Misstrauen gegenüber Kirchen und Politik

Die erste Adresse für jugendsoziologische Untersuchungen ist seit 1953 die sog. Shell-Jugendstudie. 2006 ist sie zum 15. Mal durchgeführt worden und widmet sich diesmal auch dem Verhältnis von Jugend und Religion – im Rahmen der allgemeinen Fragestellung nach Werten und Einstellungen.2 In der repräsentativen Stichprobe von 2500 Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren und den qualitativen Interviews3 wird eine Generation sichtbar, die trotz gestiegener Lebensrisiken noch optimistisch, aber ganz pragmatisch auf ihre heutigen Probleme und Herausforderungen reagiert. Allgemeine Gesellschaftsveränderung ist kein Thema mehr. Auch beim weiblichen Teil hat das Prinzip „Aufstieg“ das Prinzip „Ausstieg“ endgültig abgelöst. Eine weit verbreitete Skepsis gegenüber Organisationen und Institutionen drückt sich sinnfällig in einem Satz der Zusammenfassung aus, in dem es heißt: „mäßig ist das Vertrauen in die Bundesregierung und in die Kirchen“4. Das mangelnde Vertrauen in die Kirchen wird aber noch vom Misstrauen gegenüber Unternehmerverbänden und Parteien getoppt. – Im Wertesystem der Jugendlichen spielt die Religion eine Randrolle.

Der religionsbezogene Teil5 beginnt nach dem Gesagten mit einer Überraschung. Fast drei Viertel der Jugendlichen (im Westen 80 Prozent) stehen der Kirche an sich wohlwollend gegenüber, sind formell konfessionsgebunden (inkl. fünf Prozent Muslime), im Osten sind umgekehrt 80 Prozent konfessionslos. Das könnte, meint der Autor Thomas Gensicke, „in den noch stärker kirchlich-religiös geprägten alten Bundesländern dazu führen ..., dass [glaubensferne] Jugendliche in eine gewisse Opposition zur herrschenden Leitkultur geraten“6. Erstaunliche Feststellungen für eine angeblich säkulare Gesellschaft! Doch handelt es sich nur um eine positive, keine intensive Beziehung. Dem Autor geht es um „Religiosität“, soweit sie aus den Antworten der Jugendlichen ablesbar ist. Indikator ist ihm die Frage nach dem „Glauben“ an einen „persönlichen Gott“ oder „überirdische Mächte“, wobei nach meinem Eindruck Glaube semantisch (wie überhaupt immer üblicher) an „Meinen“ im Sinne einer Wahrscheinlichkeit heranrückt – so wie man z. B. fragt: „Glauben Sie, dass die Klimakatastrophe noch abwendbar ist?“ Wer von den Befragten nun für die „Überirdischen“ (Schicksal, Vorbestimmung, Engel, Satan, Sterne, Geister) stimmte, erhielt das Etikett einer „Para-Religiosität“ mit Tendenz zum „Aberglauben“. Der Alternative Glaube an einen „persönlichen Gott“ oder „übersinnliche Mächte“ ist etwa die Hälfte des Samples zuzuordnen, die andere Hälfte bilden „Glaubensunsichere“ und „Glaubensferne.“

„Hat Gott die Welt geschaffen, greift er in die Welt ein, müssen wir uns nach dem Tode rechtfertigen?“ Die nicht durchgehenden Bejahungen auf diese Fragen bei den etwa 30 Prozent der Jugendlichen, die an Gott glauben, sollen die große Distanz zur Kirchenprogrammatik belegen sowie den „tiefen Graben der institutionalisierten Religion zum Wertesystem der großen Mehrheit der Jugendlichen“7; „von einem wirklichen moralischen Einfluss der Kirchen auf die Jugendlichen sind diese, zumindest im Sinne ihrer religiösen Lehren, auch heute weit entfernt“8. Als gäbe es ein Depot feststehender Lehrsätze, einen klar definierten Katechismus, von dessen Aussagen abzuweichen für Kirchendistanz spräche! Damit will ich die jugendliche Skepsis nicht wegreden – im Gegenteil. Die Kirche müsse sich ändern, sie habe keine Zukunft, treffe nicht ihre Probleme, das sind schwerwiegende Vorwürfe der Jugendlichen. Für Gensicke ist die Folgerung recht einfach und bedarf keiner Erläuterung: Es liegt an der Kirche. Der naheliegende Vergleich mit dem politischen System unterbleibt leider.

Die Zahlen spiegeln eine religiöse Dreiteilung Deutschlands wider (nicht nur bei Jugendlichen, ist anzunehmen): „Religion light“ im Westen, „ungläubiger Osten“ und „echte Religiosität“ bei den Migranten – Christen eingeschlossen. Mit anderen Worten: leichte Bindung, keine Bindung und starke Bindung an ein religiöses Wertesystem. Die Unterschiede schließen keinesfalls Gemeinsamkeiten in anderen Wertkomplexen aus, z. B. in puncto Materialismus und Hedonismus. Im konkreten Lebensvollzug, hieße das, schrumpfen die ideellen Differenzen wieder zusammen.

Unverändert stark bleibt die Weichenstellerfunktion der Eltern im religiösen Sozialisationsprozess. Gerade der Osten Deutschlands bestätigt das in umgekehrter Richtung. Die nicht-christliche Haltung bei den Probanden beginnt hier schon in der Elterngeneration. Wie auch in der Ziebertz-Untersuchung deutlich wird, werden vor allem rituelle und soziale Leistungen der Kirche geschätzt und genutzt. Sie bleiben selbst in der Krise die Schnittstellen zwischen ihr und ihrem Umfeld.

Werfen wir noch einen Blick auf das Wertgefüge kirchennaher Jugendlicher. Sie sind etwas familienorientierter, traditionsbewusster, gesetzeskonformer und gesundheitsbewusster als ihre Vergleichsgruppen – und sozial engagierter, z. B. im Ehrenamt. Die auch bei ihnen deutlich vorhandene und hoch bewertete Selbstbezüglichkeit wird dadurch etwas abgefedert. Man darf sich nicht vorstellen, dass bei den Kirchenfernen ein komplett neues Wertesystem installiert würde. „Viele Werte, die Jugendliche heute vertreten, stammen aus einer ursprünglich religiösen Tradition bzw. wurden durch die Religionen besonders gestützt. Die heutige Distanz vieler Jugendlicher zur Religion führt jedoch nicht dazu, dass sie diese Werte aufgeben. Werte sind inzwischen fest in weltliche Zusammenhänge verwoben und werden von daher weiter reproduziert.“9 Es sind z. T. dieselben Werte, die von den Kirchennahen gepflegt, dort nur im Stellenwert „überhöht“ werden.10

Ein in einer Fußnote verstecktes Urteil scheint mir die Gesamtlage zu treffen: „Die längerfristige Analyse legt nahe, dass die Säkularisierung in der Mitte der 90er Jahre auf weit fortgeschrittenem Niveau zum Stillstand gekommen zu sein scheint, so als sei der Kreis religiös Gebundener auf einen stabilen Kern abgeschmolzen.“11

Weder Abbruch noch Renaissance

Die Aufregung über die ersten Ergebnisse des „Religionsmonitors“12 von Ende 2007 hat sich gelegt. Die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebene Studie soll weitweit „Religiosität messen“. Praktisch läuft es darauf hinaus, dass irgendwo ein Telefon klingelt und der Teilnehmer, so er einwilligt, mit einer Reihe von Fragen zum Thema konfrontiert wird. So haben laut Vorwort weltweit 21000 Menschen „ihr Innerstes geöffnet“. – Schon diese Prolegomena mahnen zur Vorsicht, wenn schließlich 70 Prozent der Deutschen als „religiös oder hochreligiös“ eingestuft werden.

Trotzdem bietet das Buch eine vorzügliche Lektüre dank der meisten Kommentatoren, die die Statistiken klug, abgewogen und konstruktiv auslegen und dergestalt künftigen Fragestellungen den Weg bahnen. Eine Variable ist das Alter. Hans-Georg Ziebertz, Religionspädagoge aus Würzburg13, findet in der Alterskohorte zwischen 18 und 29 Jahren anhand der „gemessenen“ Dimensionen von Glaubensausschließlichkeit, -inhalten und -stärken weder einen Anhalt für deutlich registrierbare Traditionsbrüche noch für eine Zunahme religiöser Traditionen.14

Ausgesprochen spannend liest sich die Auswertung der qualitativen Interviews, die aber nicht alterspezifisch vorgenommen wurden. Ein wichtiger Gesichtspunkt betrifft dennoch unser Thema. Der Verfasser Armin Nassehi findet heraus, „dass Religiosität im Erwachsenenalter in entscheidendem Maße davon abhängig ist, ob man eine kindliche und familiäre religiöse Sozialisation genossen hat oder nicht ... Damit bestätigt sich, dass sich Religiosität tatsächlich weniger in der intellektuellen Dimension stabilisiert, sondern letztlich durch Kommunikation.“15

Die heute nicht selten verbreitete elterliche Einstellung, ihr Kind nicht religiös zu erziehen, sondern selbst entscheiden zu lassen, wenn es so weit ist, zeugt eben von einiger Lebensferne. Im Hineinwachsen in einen religiös gefärbten Lebensvollzug während der Kindheits- und Jugendphasen wird – ich wiederhole mich – ein mentales und psychologisches Rüstzeug aufgebaut, Weltbezug und Weltgestaltung in eine andere Ausdrucksform zu bringen, als es die instrumentelle Daseinsbewältigung leistet. Auf dem Gebiet der neuen Bundesländer fiel diese Dimension lange Zeit fast komplett aus. Jetzt scheint sich sacht ein neues Interesse für Sinnfragen zu regen.16

Die anhaltende Bedeutung religiöser Erziehung kommt auch in einer Untersuchung an der Universität Köln zu religiösen Vorstellungen junger Erwachsener zum Ausdruck, die 1984 und 1997, in ihrem 30. und ihrem 43. Lebensjahr, befragt wurden. Zwar zeigt sich ein signifikanter Wandel der Vorstellungen, bedingt durch biografische und gesellschaftliche Einflüsse: Der Glaube an einen persönlichen Gott und an das „Jenseits“ wird durch abstraktere, eher philosophische Transzendenzvorstellungen verdrängt (ein öfter festgestelltes Phänomen). Es gibt ein Abrücken von „altertümlichen“, dogmatisch-kirchlichen Positionen, die Neufassungen des überkommenen Weltbildes führen aber keinesfalls zu einem kompletten Bruch mit Religion, Kirche, Glauben.17

Wir sind Papst

Im Folgenden geht es um eine Untersuchung der Rolle, die Religion und Kirche für die Teilnehmer am katholischen Weltjugendtag in Köln 2005 spielen.18 Die etwa 400000 Teilnehmer entstammten zu einem Viertel traditionalistisch-konservativen Gruppierungen (z. B. Schönstatt-Bewegung), der Rest kam aus herkömmlichen Gruppen katholischer Jugend- und Verbandsarbeit (z. B. Pfadfinder, Kolping). Einzelpilger blieben eine verschwindende Minderheit. Die meisten Besucher kamen aus Europa, doch alle Erdteile waren vertreten. Alle (Befragten) verstanden das Weltjugendtreffen als „religiöses“ Ereignis, stuften sich selbst als „religiös“ und „katholisch“ ein, und die meisten waren in ihren Heimatgemeinden kirchlich aktiv. Das konfessionelle Selbstverständnis manifestiert sich auch darin, dass die (abgefragte) Kirchendistanz mit 15 Prozent relativ gering zu sonstigen Erhebungen ausfiel. „Kritik“ bezog sich nicht auf die Institution der Kirche als solche, sondern auf ihr „unlebendiges“ Erscheinungsbild.

Den Papst, die wichtigste Figur des Festivals, betrachteten die Jugendlichen kaum als ihren obersten Bischof, der Gehorsam und Demut einklagt, auch nicht als charismatischen Führer, sondern als Repräsentanten eines „Anderen“ gegenüber der alltäglich-gewöhnlichen, mit Handlungszwängen durchsetzten Welt. Er galt ihnen als glaubwürdiger, nicht-opportunistischer Bürge seiner Botschaften (ohne dass damit ein kompletter Konsens mit deren Gehalten einherging). Ihn eventistisch als religiöse Popikone zu feiern, den Weltjugendtag als Gelegenheit zu einer „Megaparty“ zu nutzen, verstand sich von selbst für die Jugendlichen, die sich heutzutage wie schlafwandlerisch in der Medienlandschaft und der Popkultur bewegen. Mit dieser Mentalität gelang es ihnen, traditionelle (christliche) Inhalte und Formen in aktuelle jugendkulturspezifische Formen zu überführen oder sie zumindest mit ihnen zu verbinden. Das begann schon bei der Kleidung, dem Auftreten der Gruppen, der Stimmung, gelegentlicher Kommunikationsverweigerung bei den im Übrigen stark besuchten kirchenoffiziellen Veranstaltungen (wie Andachten, Messen, Prozessionen, Diskussionsrunden) und setzte sich in der popkulturellen Zeichen- und Gestensprache fort bis in die Idiome des Meinungsaustausches. All diese Mittel wurden, so die Autoren, zu einem „authentischen Ausdruck von Sinndeutungen“. Das Christentum war für die Jugendlichen in „ihre“ Religion rückverwandelt, gehörte nicht mehr nur den Erwachsenen. Im Vollzug der Durchmischung alter und neuer Formen und Inhalte geschah dabei ein Doppeltes. Zum einen wurde Tradiertes genau passend zur eigenen Identität hinzugefügt. Zum anderen wurden jugendkulturelle Zeitstile und Gestaltungsprinzipien (lustvoll, cool, lässig, dramatisch, emotional, poppig, originell etc.) auf Religion angewandt, diese damit „rekontextualisiert“. Die Formulierung „Wir sind Papst“ beschreibt die Quintessenz der Symbiose. Gebhardt u. a. sprechen von „akzelerierter religiöser Selbstermächtigung Jugendlicher, [die] religiöse Kompetenz inszenieren und demonstrieren konnten“19.

Hinzu trat ein weiteres (ungeplantes?) Erfolgsmoment. Die moderne, multikulturelle Gesellschaft bringt eine solche Vielheit von Lebensstilen und -welten, Milieus, Schichten und sozialen Kreisen hervor, dass es Christen immer schwerer fällt, ihre gemeinsame Zugehörigkeit außerhalb der Kirche zu erkennen und zu zeigen, zumal als Jugendliche, als Angehörige einer Minderheitsgruppe. Das Weltjugendtreffen bot dagegen die anschaulich-sinnliche Erfahrung einer weltumspannenden religiösen Gemeinde in ihrer jugendlichen Facette. Diaspora, Randständigkeit, langweiliger Verein – solche häufig erfahrenen negativen Zuweisungen waren für einen großen „sakralen“ Augenblick dem Gefühl der Einheit in der Weltkirche gewichen (wenn auch keiner Gemeinschaft – dazu fehlten die Dauer und die mangelnde Interaktion zwischen den einzelnen Gruppen). Individuelles und Überindividuelles waren im perfekten Gleichgewicht, sogar hautnah im Massenandrang spürbar. Das Zugehörigkeitsbedürfnis, eines der stärksten sozialen Bedürfnisse, bekam hier eine selten intensive Befriedigung, potenziert durch die Tatsache einer „religiösen“ Vereinheitlichung – kein Wunder, dass das Weltjugendtreffen zum Jubelfest mutierte.

Islam ist „in“

Nach dem 11. September 2001 hat es eine Schwemme von Veröffentlichungen zum heutigen Islam gegeben, nicht wenige davon behandeln das Verhältnis jugendlicher Immigranten zu ihrer Herkunftsreligion.20 Die meisten Untersuchungen sind von Sozialwissenschaftlern mit eigenem Migrationshintergrund durchgeführt worden, sie arbeiten mit den Verfahren der hermeneutischen Sozialforschung – also stark biografisch – und ihre Probanden kommen überwiegend aus der Bildungsschicht. Das muss kein Manko sein, denn wie man weiß, sind die künftigen Eliten auch die künftigen Meinungsführer. In der Fülle des Materials und der Deutungen treten zwei Trends hervor.

Der Islam hat generell einen hohen Stellenwert im Leben der Jugendlichen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunftsland und Aufenthaltsdauer in Deutschland, weitaus höher als für die im Vergleich herangezogenen Jugendlichen in anderen Religionen. Islam ist „in“. Die Zugehörigkeit wird als angenehm und positiv empfunden. Der Vollzug der muslimischen Praxis und die Beschäftigung mit dem Islam führen in den entsprechenden Bezugsgruppen zu Statusgewinn und sozialer Anerkennung. Das Alltagsleben wird vom Islam durchdrungen, konservative Werte dominieren (bei jungen Männern mehr als bei jungen Frauen). Die hohe Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird, beruht vornehmlich auf seiner Rolle als primäres Medium der Identitätsfindung im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter, erst im weiten Abstand folgen Arbeit, Nation, Freizeit.

Glaube und Bräuche werden nicht einfach weitergereicht. Identitätsstiftung findet in der rhetorischen Auseinandersetzung mit der Generation der Eltern und Älteren statt, jugendliche Zuwanderer wollen anders leben und anders glauben als sie, vertiefen sich intellektuell in die Gewohnheiten und Traditionen, ordnen durch Reflexion auf sie ihr Verhältnis zum Herkunftsland, zur Familie und den Autoritäten neu – mit entsprechenden Konflikten. Der Islam verschafft ihnen die Möglichkeit zur Abgrenzung und Selbstfindung.

Der selbstbewusste Umgang mit dem vorgefundenen, nur tradierten und eher kulturell geprägten Islam der Elterngeneration hat also eine Modifizierung von Theorie und Praxis zur Folge – in welche Richtung, ist derzeit noch nicht klar auszumachen. Zwischen Fundamentalismus und Modernisierung ist alles möglich. In jedem Fall führt die gesteigerte Reflexivität zu Hinwendung und geistiger Vertiefung des bis dato nur habituell ausgeübten Islam. Nur in Einzelfällen hat die gesteigerte Bildung auch Abkehr im Gefolge gehabt. Distanz entsteht bei den Frauen gegenüber den islamischen Einrichtungen, vor allem der Moschee, zu der sie nur einen eingeschränkten Zugang haben. Stattdessen kommt es zu einer „Verszenung“ (so sagt der Soziologe) innerhalb der Privatwohnungen. Gelegentlich wird die weibliche Benachteiligung nicht als Ergebnis religiöser, sondern sozialer Strukturen begriffen. Wie weit sich diese Trends stabilisieren, bleibt abzuwarten. Die empirische Forschung steht noch am Anfang.

Wie sehe ich mit der Kirche aus?

Anfang April 2008 wurde die sog. Sinus-Milieustudie zu den Lebenswelten katholischer Jugendlicher veröffentlicht.21 Sie ergänzt die Erwachsenen-Studie von 2005, die bei 20 Jahren aufwärts angesetzt hatte.22 Der Begriff Milieu kennzeichnet in der Studie ein prägendes Netz ähnlicher Lebensmuster. Drei Altersgruppen wurden gebildet: Kinder (9-13 Jahre), Jugendliche (14-19 Jahre) und junge Erwachsene (20-27 Jahre). Die Kinder stehen hier nicht zur Debatte.

Neben den statistischen Umfragedaten von 2400 Jugendlichen und 3100 jugendlichen Erwachsenen wurden in 110 freien Interviews, mittels Auswertung von Aufsätzen zur Frage „Was gibt meinem Leben Sinn und wie stelle ich mir die ideale Kirche vor?“ sowie mit weiteren Erhebungstechniken Auskünfte über Lebensstil, Mediengebrauch, Werthaltungen, die Stellung zu Religion und Kirche, über „Zukunftsvorstellungen und Sehnsüchte“ eingeholt. Aus der Kombination von Bildungsstandards mit Stilorientierungen und Wertpräferenzen ergaben sich für die Forscher sieben „Milieuorientierungen“.

Am stärksten sind die „Hedonisten“ (Jugendszenen, junge Leute, die alles anstreben, was Spaß macht und keine Anstrengung kostet) und die „Performer“ (gebildete, leistungsorientierte junge Menschen in gutdotierten Jobs) vertreten. Hedonisten machen 25 bzw. 16 Prozent aus, Performer 25 bzw. 23 Prozent (die erste Zahl bezieht sich auf Jugendliche, die zweite auf junge Erwachsene). Die Differenz bei den Hedonisten lässt darauf schließen, dass sich ein Teil der Jugendlichen später anderen Milieuorientierungen zuwendet. Dann folgen mit 14 Prozent bzw. 16 Prozent die „Experimentalisten“ (gebildete, postmoderne Avantgardisten, ständig auf der Suche nach Neuem) und die „bürgerlichen“ Jugendlichen (Leute, die ein normales Leben anstreben und sich gleichzeitig vom Herkunftsmilieu abgrenzen wollen). Hier ist die Prozentzahl in beiden Alterskohorten gleich, nämlich 14 Prozent. 11 bzw. 13 Prozent entfallen auf das jugendliche Prekariat, d. h. an bürgerlichen Zielen orientierte „Konsummaterialisten“, die die Ziele gleichwohl verfehlen. Es folgen die „Postmateriellen“ (idealistische Kritiker ohne gesamtgesellschaftliches Konzept) mit 6 bzw. 8 Prozent. Die „Traditionellen“ (Hochgebildete ohne eigene Impulse, an Statusreproduktion interessiert) bilden mit jeweils 4 Prozent das Schlusslicht.

Der „Rekrutierungsschwerpunkt“ katholischer Jugendarbeit liegt bei den Traditionellen, den Bürgerlichen und Postmateriellen. D. h., zwei Drittel der Jugendlichen werden nicht oder höchstens punktuell erreicht. In der Erörterung der Begründungszusammenhänge kehren die Forscher immer wieder zu einem vorherrschenden Negativ-Image von der Kirche zurück, das – wenig aus Kontakten herrührend, mehr aus Vorurteilen bestehend – die verbliebenen fünf Milieuorientierungen übergreift: Kirche sei eine alte, unmoderne Einrichtung von Erwachsenen, in der es langweilig zugehe, in der man weltfremde oder unattraktive Leute treffe und in die man sich mit seinen eigenen Ideen nicht einbringen könne. Zwei Basisforderungen werden kontinuierlich erhoben: „die Jugendarbeit muss mich irgendwie weiterbringen und ich muss mit ihr gut aussehen“ (bei den Leuten, mit denen regelmäßig Beziehungen gepflegt werden). Ein besonders heikles Problem stellte die Tatsache dar, dass sich in der Kirche selbst konträre Milieus begegnen, was zu neuen Ausgrenzungen und Rückzügen führt. „Es genügt heute nicht mehr, aufgrund der Mitgliedschaft nicht als rückständiger, biederer Außenseiter zu gelten. Vielmehr müssen die katholischen Verbände glaubhaft kommunizieren, dass man bei ihnen besonders ,in’ und innovativ, modern und überlegen ist, bzw. solche Leute trifft ... Moralische Überlegenheit allein ist für die meisten Jugendlichen kein Kriterium für Vergemeinschaftung und Engagement.“23

Die Studie wird für lange Zeit eine maßgebende Rolle spielen, wenn es um das Verhältnis von Kirche, Religion und Jugend geht – wegen ihrer Methodenvielfalt, ihres Materialreichtums und ihrer differenzierten Ergebnisse zu dem komplexen und heterogenen Untersuchungsfeld „Jugend“. Klar liegt die Entfremdung zwischen der Institution Kirche und ihren jugendlichen Mitgliedern zutage. Ein Großteil der Jugendlichen bewegt sich offensichtlich in völlig anderen Diskursuniversen mit anderen Zeichen und Symbolen, Kommunikationsmitteln und Sinngebungen, wo andere Melodien (musikalisch und im übertragenen Sinne) gespielt werden und pragmatische Handlungsstrategien herrschen. Es sind geradezu Parallelgesellschaften mit anderen Zeitrhythmen und Raumkategorien. Weil nun heutzutage für Jugendliche das Medium mit der Botschaft zusammenfällt, identifizieren sie bei der Kirche deren ungeliebte Formsprache mit dem Gehalt der christlichen Botschaft. Von der Kirchenarchitektur, den Menschen, ihrer Kleidung, ihrer Sprache, ihrem Benehmen, der Liturgie und Musik, der sozialen und administrativen Struktur, auch von „Bildung“ gleichermaßen abgehalten, fällen sie ihr ablehnendes Votum: nicht für sie bestimmt.

„Ich mach’ mein Ding“

Man könnte weitere Untersuchungen dazunehmen, ohne dass sich ein verändertes Gesamtbild ergäbe. Es weicht von dem der „Erwachsenen“ nicht grundsätzlich ab. Verschiebungen ergeben sich einmal im Verhältnis zur Esoterik, die bei den Jugendlichen nicht recht punkten kann. Aus dem „New Age“ ist eher ein „Middle Age“ oder „Old Age“ geworden. Auch die nichtchristlichen Weltreligionen haben keinen nennenswerten Zulauf. Zum zweiten ist die Individualisierung der „objektiven“ Gestalt des Christentums ungleich kräftiger als in anderen Altersgruppen. „Ich mach’ mein Ding“, heißt das Credo.

Wir registrieren ein religiös dreigeteiltes Deutschland: schwache Bezüge im Osten, starke bei den Immigranten, lockere im Westen. Jugendliche schlagen sich in erster und zweiter Linie mit ganz anderen Problemen als genuin religiösen herum. Wenn Religion für sie akut wird, dann in speziellen Situationen, in denen sie pragmatisch, ja fast „technisch“ auf sie zugreifen. Religion als Allheilmittel ist wenig gefragt. Die Religion schildert für die Jugendlichen nicht mehr die große mythisch-spirituelle Leinwand, auf der sich unser Leben abspielt, sondern schießt an bestimmten Stellen eines singulären Lebens als eines seiner Momente ein. Auch darin unterscheiden sich die Jugendlichen wohl kaum von der Masse der an Religion Interessierten. Zu den Kirchen besteht nach wie vor ein innerer oder äußerer Kontakt; wo er sich stärker äußert, kann er ins Engagement übergehen und verweist auf einen stimulierenden familiären Hintergrund. Auch Nichtgebundene und Indifferente lehnen die Kirche mehrheitlich nicht in Bausch und Bogen ab, sondern sie zählt für sie zu den unendlich vielen Sinnstiftern unserer Gesellschaft. Sie erscheint ihnen aber in der Regel als unlebendig und als in Formen präsent, die sich von ihren Lebensvollzügen sehr unterscheiden und die sie kaum tiefer ansprechen.

In einer Zeit, in der die Handlungsoptionen auch für Jugendliche in Arbeit und Wirtschaft, im öffentlichen Leben und in der Freizeit abnehmen, gleichzeitig aber ein fulminantes Freiheitspathos dominiert, wird sich niemand gerade in der Religion seinen Freiraum nehmen lassen wollen. Umso wichtiger werden dann glaubwürdige Personen sein, die den Vertrauensverlust der institutionalisierten Religion überbrücken können. Darin wird sich die Qualität des Glaubens von neuem zeigen. Denn Glaube ist nicht irgendeine, letztlich beliebige persönliche Ansicht von bestimmten Ereignissen in Vergangenheit und Zukunft, von Götterhimmeln und Höllengeistern, sondern Vertrauen auf andere Menschen und deren Zeugnis von der Frohbotschaft.


Rainer Waßner, Hamburg


Anmerkungen

1 Hans-Georg Ziebertz / Boris Kalbheim / Ulrich Riegel / Andreas Prokopf, Religiöse Signaturen heute. Ein religionspädagogischer Beitrag zur empirischen Jugendforschung, Gütersloh 2003. Die Daten stammen aus dem Jahr 2000. Die ausländischen Regionen sind die Steiermark, Wales und Mittelholland, die deutschen Teilnehmer kamen aus einer 9. Gymnasialklasse in Unterfranken. Keiner der Teilnehmer gehörte einer nichtchristlichen Religion an.

2 Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, Bonn 2006.

3 Quantitativ-statistische Methoden der Sozialforschung stehen dem naturwissenschaftlichen Modell des Erklärens nahe, qualitative Methoden dem hermeneutischen Modell des Verstehens. Beide Verfahren werden ergänzend eingesetzt.

4 Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2006, 19.

5 Ebd., 203-240.

6 Ebd., 238.

7 Ebd., 218.

8 Ebd., 221.

9 Ebd., 239.

10 Religionssoziologen nennen das oft „vicarious religion“.

11 Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2006, 203.

12 Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007.

13 Einer der Autoren der Untersuchung „Religiöse Signaturen heute“, s. Anm. 1.

14 Gibt es einen Tradierungsbruch? Befunde zur Religiosität der jungen Generation, in: Religionsmonitor 2008, 44-53.

15 Ebd., 129.

16 Monika Wohlrab-Sahr / Uta Karstein / Christine Schaumburg, „Ich würd´ mir das offen lassen.“ Agnostische Spiritualität als Annäherung an die „große Transzendenz“ eines Lebens nach dem Tode, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2/2005, 153ff.

17 Klaus Birkelbach, Religiöse Einstellungen zwischen Jugend und Lebensmitte, in: Soziale Welt 1/2001, 93-118.

18 Forschungskonsortium WJT, Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation, Wiesbaden 1992. Ich beschränke mich auf den Erlebnis-Teil, der die Einstellungen der Teilnehmer, methodisch gut abgesichert, untersucht (19-114). Der Koblenzer Soziologe Winfried Gebhardt und sein Team zeichnen dafür verantwortlich.

19 Ebd., 111.

20 Ich stütze mich in der Auswahl auf Ursula Boos-Nünning, Viele Welten leben – Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster 2005; Hans Ludwig Frese, Den Islam ausleben – Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora, Bielefeld 2002; Neclec Kelek, Islam im Alltag – Islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern türkischer Herkunft, München 2002; Hiltrud Schröter, Mohammeds deutsche Töchter, Königstein o. J.; Nicola Tietze, Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2002. – Die Liste könnte beliebig verlängert werden, doch sehe ich keine grundlegend neuen Erkenntnisse in den jüngsten Arbeiten.

21 Carsten Wippermann / Marc Calmbach, Lebenswelten von katholischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Grundorientierung, Vergemeinschaftung, Engagement, Einstellung zu Religion/Kirche vor dem Hintergrund der Sinus-Milieus 2007, hg. im Auftrag v. Bund der Katholischen Jugend und Misereor (Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U 27), Düsseldorf / Aachen 2008.

22 Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen“. Durchführung von der Sinus Sociovision, Heidelberg / München 2006.

23 Sinus-Milieustudie U 27, 31.