José Brunner, Shai Lavi (Hg.)

Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität

José Brunner / Shai Lavi (Hg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 37, Wallstein Verlag, Göttingen 2009, 311 Seiten, 38,00 Euro.


Das Minerva Institut für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv hat erneut ein hervorragendes Jahrbuch vorgelegt, in dem 13 vorwiegend jüngere Autorinnen und Autoren interdisziplinäre Forschungen (teils auf Englisch) zu einem hoch aktuellen Thema vorstellen. Zwar siedelten Juden schon in der Antike auf heutigem deutschem Gebiet, während Muslime als relative Neuankömmlinge wahrgenommen werden. Doch teilen beide Gruppen eine erstaunliche Fülle von diachronen Ähnlichkeiten und parallelen Problemkonstellationen in Bezug auf Selbstverständnis, interne Identitätsdiskurse und die Erfahrungen mit Staat und Gesellschaft. Dazu gehören etwa die Wahrnehmung als distinkte kulturell-religiöse Gemeinschaft trotz innerer Heterogenität, Fragen des Fremd- und Andersseins, des Assimilationsdrucks von innen und von außen, des Umgangs des Staates mit „Minderheiten“ sowie der bürgerlichen Gleichstellung. Dabei soll Ungleiches nicht gleich gemacht werden. Gerade die differenzierte Darstellung juristischer, politischer und kultureller Aspekte in historischer und komparativer Perspektive kommt jedoch der sachgemäßen Diskussion zugute.

Der erste von vier Teilen konzentriert sich auf die Anfänge des Nationalstaates und jüdische Reaktionen auf die Begegnung mit der westlichen Moderne. So wird die Herausbildung der deutschen jüdischen Orthodoxie (Moses „Hatam“ Sofer) beleuchtet, die dem Reformjudentum, das Deutschland mit allen religionsgesetzlichen Folgen als seine Heimat anerkannte, entgegentrat und doch differenziert auf moderne Entwicklungen einging. Sehr reizvoll ist die Gegenüberstellung von Franz Rosenzweig und Leopold Weiss alias Muhammad Asad hinsichtlich deren Wahrnehmung des Islam und der Rolle der religiösen Konversion in der Biographie der beiden jüdischen Intellektuellen.

Im zweiten Teil werden das soziokulturelle Milieu der Muslime in Deutschland vor 1945 und die unterschiedlichen Anknüpfungsmöglichkeiten an diesen historischen Kontext für Muslime heute unter die Lupe genommen. Besonders interessant ist zu sehen, wie Muslime sich schon in den zwanziger Jahren engagiert gegen ihre Exotisierung gewandt und im Kontext einer muslimischen Bürgerlichkeit die Vereinbarkeit von islamischer Lebensweise und westlichen Werten zu demonstrieren versucht haben.

Der dritte Teil wendet sich der staatlichen Religionssemantik und rechtlichen Regelungen zu. Die Deutsche Islamkonferenz wird kritisch analysiert, indem ihr eine Formierungstendenz der islamischen Community durch essentialistische Zuschreibungen und die Fortsetzung eines dominanten paternalistischen Diskurses durch „säkulare Muslime“ vorgehalten wird; diese Kategorie sei zudem durch das Projekt erst verfestigt und gleichsam mit eigener Autorität versehen worden. Aufschlussreich für heutige Debatten ist ein diachroner Vergleich der deutschen Rechtssprechung zum jüdischen Schächten im Kaiserreich mit jener zum muslimischen rituellen Schlachten seit 1960.

Der vierte Teil versammelt Fallstudien und Gespräche zu unterschiedlichen Aspekten des Verhältnisses von Juden und Muslimen zur Mehrheitsgesellschaft. Zwar scheint der Holocaust deutsche Muslime eher wenig zu interessieren, jedoch werden Parallelen zwischen den Juden damals und Muslimen heute strategisch eingesetzt, um Forderungen nach Anerkennung Nachdruck zu verleihen. In jüdischen Gemeinden selbst ist dagegen der Bezug auf den Holocaust problematisch geworden, da die russischsprachigen Juden – die große Mehrheit in den Gemeinden – mit Erfahrungen und geschichtlichen Kategorien nach Deutschland gekommen sind, die den Erwartungen einer „jüdischen Einheit“ in entscheidenden Punkten entgegenstanden. Schließlich werden nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen des Internets als Medium von „imagined communities“ erörtert. Dazu wurden arabischstämmige Muslime befragt, welche Rolle die Idee einer globalen islamischen „Umma“ bei ihrer Internetnutzung spielt.

Ein Rezensionsteil und Abstracts von Dissertationsprojekten runden den Band ab, der auf vielfältige Weise die Wechselbeziehungen zwischen Mehrheit und den ethno-kulturellen Minoritäten so dokumentiert, dass der interessierte Leser für die Komplexität der jeweiligen Selbstverständnisse auf beiden Seiten sensibilisiert wird.


Friedmann Eißler