Michael Nüchtern

Jesus außerhalb der Kirche

Theologie als Belletristik und Schmöker

Jesusromane haben eine lange Tradition. Sie sind Belege für die kulturelle Präsenz der Gestalt Jesu und die Faszination, die von ihr ausgeht. Sie zeigen in unterschiedlicher Weise, wie Annäherungen an den Mann aus Galiläa möglich sind. Direkt oder indirekt reflektieren sie dabei die kulturellen Bedingungen ihrer Zeit.

Es gibt die religions- und / oder kirchenkritischen Jesusstorys, die ähnlich wie manche Sachbücher zeigen wollen, dass Jesus doch ganz anders war als das, was die böse Kirche aus ihm gemacht hat. Mal müssen die 1947 am Toten Meer gefundenen Schriftrollen von Qumran herhalten und beweisen, dass Jesu Auffassungen eine Kopie der Lehre der Qumranleute war, mal spielt Maria Magdalena als Geliebte oder Frau von Jesus eine reizvolle Rolle und wird als Mutter der geheimen Nachkommen Jesu entdeckt, mal gibt es einen römischen Offizier als Vater von Jesus, dessen Grabstein in Bad Kreuznach zu besichtigen ist.1 Unübersehbar sind aber gerade in den letzten Jahrzehnten die romanhaften Vergegenwärtigungen der Person Jesu, die einen positiven Zugang zum Mann aus Nazareth bezeugen. Ich nenne so verschiedene Bücher wie Tschingis Aitmatows „Der Richtplatz“ von 1986 oder die Jesustrilogie von Patrick Roth aus den 1990er Jahren. Georg Langenhorst hat in neuerer Zeit intensive Studien zur literarischen Wirkungsgeschichte Jesu vorgelegt.2 Im Folgenden soll auf zwei Romane dieses Jahrtausends verwiesen werden, die sehr spannend eine unterschiedliche weltanschauliche Situation widerspiegeln.

Eric-Emmanuel Schmitt: Glaubensvergewisserung als „Eigendogmatik“

Im Jahr 2000 erschien in Frankreich der Roman des gerade in Deutschland populären Autors Eric-Emmanuel Schmitt „Das Evangelium nach Pilatus“3. Wie bei anderen Jesusromanen auch bildet der „garstige Graben“ zwischen der Gegenwart und der Zeit Jesu den inneren Ausgangspunkt des Romans. Wie können wir, die wir Jesus nicht gesehen haben und nicht wissen können, ob er Gottessohn und Messias war, an ihn glauben? Schmitt verlegt diese Spannung in das Bewusstsein von Jesus selbst.4 Im ersten Teil des Romans („Bericht eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung“) blickt Jesus im Garten von Gethsemane auf sein Leben zurück. Er erzählt, wie er in eine Rolle kommt, gedrängt wird und sie mit Zweifeln auch für sich akzeptiert. „Ich habe Angst. Ich bin voller Zweifel. Ich möchte mich retten. Mein Vater, warum hast du mich verlassen?“ (83) Mit diesen Sätzen schließt der Bericht, als die Häscher mit Jehuda (Judas) kommen.

Dass Jeschua die Rolle des Gottesoffenbarers trotz der Zweifel überhaupt annehmen kann, verdankt sich dem Umstand, dass er „Wetten“ eingeht. In der Wüste fragt er nach einem Offenbarungserlebnis: „Wie konnte ich an meine Verbindung mit Gott glauben? War das nicht Tollheit ... Wie konnte ich es als meine Aufgabe betrachten, für Gott zu sprechen? War das nicht Anmaßung? Ich erhielt auf all diese Fragen keine Antwort. Am Morgen des vierzigsten Tages ließ ich mich auf die Wette ein. Ich setzte auf meinen Glauben, daß meine reglosen Reisen tiefe Versenkungen auf meinem Weg zu Gott waren, nicht zum Satan. Ich setzte auf meinen Glauben, daß ich etwas Gutes bewirken könnte. Ich setzte auf meinen Glauben an mich. Ich wusste nicht, daß ich in der Folge dieser Ereignisse zu einer noch ernsteren, noch unsinnigeren Wette gezwungen sein würde, jener Wette, die mich heute nacht in diesem Garten meinem Tod entgegenharren läßt“ (41f).

Die noch ernstere Wette ist die Wette, die ihn in seinen Tod führt. Wenn er in den Tod ans Kreuz geht, erweist sich die Wahrheit seiner Person durch seine Auferstehung: „In ein paar Stunden wird es mit meiner Wette ernst. In ein paar Stunden wird es offenbar, ob ich tatsächlich für meinen Vater Zeugnis ablege oder nur ein Wahnsinniger bin ... Der große, einzige Beweis erfolgt erst nach meinem Tod. Wenn ich mich täusche, werde ich es nicht einmal merken, weil ich im Nichts, in der Belanglosigkeit, im Unbewussten treiben werde. Behalte ich recht, will ich versuchen, beim Überbringen der frohen Botschaft nicht zu triumphieren, denn ich habe nie für mich gelebt, und ich sterbe auch nicht für mich. Wenn mir heute abend versichert würde, dass ich unrecht hatte, würde ich die Wette noch einmal eingehen ... Weil ich nichts verliere, wenn ich verliere. Doch wenn ich gewinne, gewinne ich alles. Und teile mit euch den Gewinn“ (82). Schmitt übernimmt den Gedanken der Wette auf die Wahrheit des Glaubens von Blaise Pascal. Dieser argumentiert in dem berühmten Text seiner Pensées (Fragment 233), dass man bei der Wette auf Gott nicht verlieren, sondern nur gewinnen kann.

Der zweite Teil des Romans enthält die Briefe, die der Statthalter Pontius Pilatus an seinen Freund Titus schreibt. Die Leiche Jesu ist verschwunden, das Grab leer. Pilatus muss den Leichnam Jesu finden. Der Römer ist ein skeptischer Rationalist. Seine Frau Claudia hingegen ist von Jesus berührt. Im Brief an Titus stellt Pilatus Claudias Sicht der Sache mit Jesus seiner gegenüber. „Was wird aus seiner Geschichte werden, wenn die letzten Zeugen tot sind ... Wenn er Gottes Sohn ist, wie er behauptet, warum bleibt er dann nicht für immer? Und überzeugt uns? Und führt uns zum wahren Leben? Wenn er sich auf ewig hier niederlassen würde, würde kein Mensch mehr an seiner Botschaft zweifeln“ (252).

Das innere Thema des zweiten Teils ist nicht mehr, wie Jesus zum Glauben kommt, sondern wie diejenigen glauben können, die ihn nicht gesehen haben – also auch die Heutigen. Alles wäre einfach, gäbe es den garstigen Graben nicht! Pilatus fährt fort: „Meine Überlegungen erheitern Claudia immer ungemein. Jeschua habe nicht den geringsten Grund, sich hier niederzulassen, meint sie. Es reicht, dass er einmal gekommen ist. Er darf nicht zu viele Beweise liefern. Wenn er sich ganz selbstverständlich zeigen würde, würde er damit die Menschen zum Kniefall zwingen. Er aber hat die Menschen frei gemacht. Und trägt dieser Freiheit Rechnung, indem er uns die Wahl lässt, zu glauben oder nicht zu glauben. Kann man zur Zustimmung gezwungen werden? Kann man zur Liebe gezwungen werden? Nein, man muß es wollen, man muß bereit sein für den Glauben wie für die Liebe. Jeschua achtet die Menschen. Er gibt uns durch seine Geschichte ein Zeichen, aber die Deutung überlässt er uns“ (252f). Unausgesprochen kehrt hier das Motiv der Wette wieder. Aus eigener Entscheidung müssen sich Menschen für die Wahrheit Jesu entscheiden. Durch die Verborgenheit und Machtlosigkeit Jesu werden die Menschen als freie geachtet. Konsequent erzählt Schmitt im dritten Teil des Buches von seiner eigenen Hinwendung zum Christentum.

David Safier: Theologie im Unterhaltungsmilieu

2008 erschien ein bunter Vogel in der Traditionsreihe der Jesusromane. Der durch erfolgreiche Fernsehproduktionen (z. B. „Berlin, Berlin“, „Die Schule am See“) bekannte Autor David Safier legt seine Jesusstory als „Single-sucht-Partner-Frauenroman“ vor. Wochenlang behauptete Safier mit seinem durchaus süffigen Produkt „Jesus liebt mich“5 den Spitzenplatz in der Spiegel-Bestsellerliste.

Ausgerechnet in Malente trifft die etwas pummelige Marie unseren Jesus und ist hin und weg. Gerade hat sie sich vor dem Traualtar von Sven getrennt und ist unter Tränen, Scham und Ratlosigkeit in ihr Kinderzimmer im Haus ihres Vaters zurückgekehrt. Sie ärgert sich, dass sie ein unglaubliches Talent hat, sich immer in die falschen Männer zu verlieben. Jesus kommt als Zimmermann Joshua, hat aber vor allem unglaublich schöne Augen, eine sanfte, erotische Stimme und einen „tollen Hintern“. „Und diese Ausstrahlung ... Ich wette, wenn er es darauf anlegen würde, könnte dieser Zimmermann viele Menschen für eine gute Sache begeistern, zum Beispiel für ... Wärmedämmung“ (52). Das Zitat zeigt, wie der Roman funktioniert. Erotik (Hintern) und überraschende Wendungen in den Alltag des ersten Jahrzehnts des 3. Jahrtausends (Wärmedämmung) sorgen für die Vergnüglichkeit. „Drollig“ sei das Ganze, und man habe „selten so gelacht“, wird in den zahlreichen Buchbesprechungen im Internet bekannt. Die Story ist komisch, aber nicht nur.

Klar, dass dieser Jesus auf dem stürmischen See wandeln kann und auch eine Heilung vollbringt! Er singt hebräische Psalmen, zitiert sich selbst aus dem Neuen Testament, bekehrt einschlägige Berufsgruppen vom Hamburger Hafen, ist aber vor allem wiedergekommen, um im Endkampf mit dem Satan das Weltende und das Jüngste Gericht zu vollziehen.

Das Problem des historischen Abstandes zur Zeitenwende und zur Welt des Neuen Testaments schmerzt in diesem Jesusroman nicht mehr. In nach-postmodernen Zeiten verursacht es keine Probleme, einen zum Weltgericht wiederkommenden Jesus auftreten zu lassen. Der garstige Graben, den die akademische Theologie immer wieder ausmisst und vergrößert, wird einfach und kühn durch einen schrägen Plot übersprungen. Weit weg sind alle Rationalisierungsversuche der Erklärung von Wundern, alle psychologisierenden Herleitungen des messianischen Bewusstseins, mit denen sich auch Literaten wie Nikos Kazantzakis und José Saramago6 herumschlagen. Was beschäftigt, sind nicht Realität und Wahrscheinlichkeit einer 2000 Jahre alten Geschichte, sondern schräge und ernste Auswirkungen einer ungewöhnlichen Begegnung heute. Hier ist Safiers Geschichte Beispiel für eine weltanschauliche Situation: Die allgegenwärtige Fantasy-Literatur macht phantastische Plots plausibel. Alles ist möglich, wenn es vergnüglich ist, Sinn verspricht und etwas bringt.

Marie hat trotz ihrer gut 30 Jahre im Grunde das Herz und das Hirn einer 17-Jährigen. Das schafft die Voraussetzung dafür, dass die „girl-meets-boy-Handlung“ zu einem Entwicklungsroman werden kann. Marie ist am Ende der Geschichte erwachsener als am Anfang. Sie entsagt der Perspektive eines glücklichen Familienlebens mit dem sanften Zimmermann. Nicht so sehr Jesus muss seine „letzte Versuchung“ (Nikos Kazantzakis) bestehen, sondern Marie aus Malente. Ihre Entwicklung – wie überzeugend oder auch wenig überzeugend sie erzählt wird – hat nicht nur eine individuelle Seite, sondern auch geradezu kosmische Auswirkungen. Sie verhindert das Endgericht. Der Unterhaltungsschmöker ist nämlich auch ein dogmatisches Lehrstück zur Theodizee. Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, wie Zorn und Liebe Gottes zusammengehören.

Marie trifft nicht nur Jesus und den Satan, sondern auch – natürlich in einem Dornbusch – Gott selbst. Er sieht ein bisschen aus wie Emma Thompson in einer Jane-Austen-Verfilmung. Ehe fromme Gemüter sich hierüber aufregen können, müssen sie aber den Dialog am Dornbusch lesen: Marie, gerade noch von den apokalyptischen Reitern bedrängt und dabei wie Jesus Psalm 22,2 rufend, schleudert Gott trotzig entgegen, dass sie die Strafe übernehmen will, weil sie alles durcheinandergebracht hat und der Sohn Gottes kein Jüngstes Gericht mehr will (288f). Doch die Gestalt aus dem Dornbusch lächelt: „Du hast es aus Liebe getan ... Wie könnte ich dich dafür bestrafen. Nichts könnte mich stolzer machen.“

Es bleibt Pastor Gabriel vorbehalten, diesen etwas kitschigen Dialog theologisch zu deuten. Und man versteht, was er sagt, was man nicht von allen Theologinnen und Theologen sagen kann, wenn sie über Gericht und Gnade reden. „‚Aber ... warum hat Gott das Jüngste Gericht abgeblasen?’ fragte ich ihn. ‚Dafür gibt es nur zwei Erklärungen’, antwortete Gabriel. ‚Entweder all dies war von Gott von langer Hand als Prüfung geplant, so wie bei Abraham oder Hiob ...’ ‚... Vielleicht’, so Gabriel, ‚waren das Jüngste Gericht und dessen Prophezeiung in der Offenbarung des Johannes nur eine Schimäre, niemals ernst gemeint, sondern nur um herauszufinden, welches Potenzial die Menschheit hat. Und die auserkorene Person für diese Prüfung war diesmal kein Abraham, kein Hiob, sondern du, Marie ... Deine Liebe hat Gott von den Menschen überzeugt.’“ Marie bereitet diese Vorstellung zunächst ein „schwer mulmiges Gefühl“. Daher – und hier zeigt sich Safier als professioneller Autor von Unterhaltungsliteratur mit Gespür für notwendige Kontrapunkte, wenn es zu ernst wird – fragt sie Gabriel nach der anderen Erklärung. „Du hattest verdammtes Glück.“

Safiers Geschichte lässt sich als schräg, sentimental und theologisch unterkomplex beurteilen. Sie ist aber ein Beispiel dafür, wie das Neue Testament außerhalb der Kirche lebendig ist und für Angehörige zahlreicher Milieus, die Predigten sonst eher langweilig finden, zumindest unterhaltend wird. Eher nebenbei erfährt der Leser, warum Menschen sterben müssen und dass es auch Krebsheilungen vom Satan gibt.

Natürlich tritt als unglücklicher Versuch kirchlicher Milieuanpassung in dem Roman auch ein „Turnschuhpastor mit Gitarre“ auf. Diese traurige Gestalt kann leicht vom Satan überzeugt werden, sich in die Rolle eines der apokalyptischen Reiter zu verwandeln. Gabriel, der zu der Schar der menschlich und sterblich gewordenen Engel gehört, ist da von anderem Kaliber. Er darf endlich mit der Frau, um derentwillen er seine Unsterblichkeit aufgab, die Freuden der Liebe genießen. Sie ist zufällig Maries Mutter, lange schon von ihrem Mann geschieden. Sie praktiziert als Psychologin und redet, wie das Klischee es erwarten lässt. Aber wahrscheinlich kann Gabriel sie bekehren. Und so wird gewiss nicht alles, aber doch manches gut.

Kinder der Aufklärung

Schmitts und Safiers Jesusromane unterscheiden sich erheblich im Stil und im Umfang, in dem sie die Geschichte Jesu erinnern. Schmitt arbeitet sich an der klassischen Frage ab, wie Menschen zum Glauben kommen. Safiers Blick ist unbekümmerter und umfassender. Beide stimmen überein in einer Hochschätzung der Freiheit des Menschen. Dass die Menschheit ihr „Potenzial“ zum Guten entdeckt und wahrnimmt, ist bei aller Komik der ernste Kern von „Jesus liebt mich“. Beide Romane geben sich als Kinder der Aufklärung zu erkennen. Schmitt streicht heraus, dass die Bezweifelbarkeit der Offenbarung gerade die freie Entscheidung des Menschen stark macht. Die Schwachheit Jesu ist die Ermächtigung des Menschen. Dogmatische Theologie könnte das Vergessen des Werkes des Heiligen Geistes bemerken. Dieses sollte man aber nicht zu rasch bemängeln. Das positive Menschenbild ist gegen Resignation und Regression gerichtet.


Michael Nüchtern, Karlsruhe


Anmerkungen

1 James D. Tabor, Die Jesus Dynastie. Das verborgene Leben von Jesus und seiner Familie und der Ursprung des Christentums, München 2006.

2 Georg Langenhorst, Theologie und Literatur, Darmstadt 2005; ders., Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, Münster / Berlin 2005.

3 Deutsch: Zürich 2005, Taschenbuch Frankfurt a. M. 2007 (Seitenangaben jeweils im Text in Klammern).

4 Wie in ganz anderer Weise z. B. Nikos Kazantzakis, Die letzte Versuchung, Berlin 1952 (verfilmt von Martin Scorsese).

5 Berlin 2008, Taschenbuch Hamburg 2009 (Seitenangaben jeweils im Text in Klammern).

6 Nikos Kazantzakis, Die letzte Versuchung, a.a.O.; José Saramago, Das Evangelium nach Jesus Christus, deutsch 1993